Die Premiere von "Alles unter Kontrolle" findet am Mittwoch, 16. Juni, im Maxim-Gorki-Theater Berlin statt.
Ausblick aufs postpandemische Theater
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Der bosnische Regisseur Oliver Frljić probt am Gorki-Theater den Ausnahmezustand. Passend dazu heißt sein neues Stück "Alles unter Kontrolle". Ein Gespräch über postpandemisches Theater und koloniale Prägungen.
Susanne Burkhardt: Die Ankündigung klingt ziemlich großspurig: "Das ganze Haus werde in einen Ausnahmezustand versetzt." Was müssen die Besucher befürchten?
Oliver Frljić: Fürchten muss man sich, glaube ich, nicht so sehr. Eher geht es um den Versuch, so viel wie möglich von dem verfügbaren Platz des Hauses zu nutzen. Die Idee war, dass sich das Publikum auf eine Reise durch das Gorki zu den einzelnen Schauspielerinnen und Schauspielern begibt und dabei kein sauber gearbeitetes Stück erlebt, sondern etwas, bei dem man die Verbindungen und Assoziationen selbst herstellen muss.
Ich habe ohnehin ein Problem damit, dass es im Theater oft nur um den Text geht. Ich bin jetzt seit fünf, sechs Jahren Gastarbeiter im deutschsprachigen Theater. Seitdem versuche ich, zu beweisen, dass Theater auch eine visuelle Kunstform ist. Diese Produktion setzt genau da an. Sie soll auch zeigen, was insbesondere postpandemisches Theater sein kann.
Ich fände es nämlich ziemlich traurig, wenn wir nach der Pandemie einfach zum business as usual zurückkehren würden. Corona hat meine Vorstellung nicht nur vom Theater, sondern von der Welt allgemein verändert. All diese Erfahrungen wollte ich in "Alles unter Kontrolle" einfließen lassen.
Theorien über den Ausnahmezustand
Susanne Burkhardt: Was waren denn die intensivsten Erfahrungen, die Sie gemacht haben? Wenn sie von einem postpandemischen Theater sprechen, wie könnte das denn aussehen?
Oliver Frljić: Ich werde erst einmal versuchen, ihre zweite Frage zu beantworten. Ich fürchte, die Mehrheit der Theater möchte einfach so weitermachen wie zuvor. Dieser Mangel an Fantasie und diese konservative Grundeinstellung sind schon sehr traurig. Wir denken nicht über neue Formen der Repräsentation nach.
Mich hat diese ganze Pandemie mit ihren Lockdowns und Wiedereröffnungen dazu gebracht, mich mit Theorien über das Konzept des Ausnahmezustands zu beschäftigen. Denn der bestimmt das Leben in unseren neoliberalen Demokratien eigentlich permanent, und zwar nicht erst seit George W. Bush.
Ich will das gar nicht positiv oder negativ bewerten. Das kann zwar zu Freiheitseinschränkungen von einzelnen gesellschaftlichen Gruppen führen, aber auch zur Emanzipation von ethnischen Gruppen wie beim amerikanischen Bürgerkrieg. Es ist sehr interessant, wie der Ausnahmezustand in unterschiedlichen Zeiten als politisches Werkzeug benutzt wird.
Susanne Burkhardt: Ist es das, was Sie auch beim Rundgang durch das Haus erzählen werden, in welcher Form der Ausnahmezustand in Erscheinung tritt?
Oliver Frljić: Nein, wir geben keine definitiven Antworten, wir wollen nicht für das Publikum denken. Es geht in der Performance auch nicht nur um das Thema Ausnahmezustand. Wir verhandeln auch andere Probleme wie zum Beispiel die Frage der interkulturellen Zusammenarbeit im Theater. Mich hat dieses Thema schon als Student sehr interessiert. Damals wie heute sieht es so aus, dass sich dahinter immer noch der gute alte europäische Kolonialismus verbirgt.
Der indische Regisseur und Theaterwissenschaftler Rustom Bharucha etwa berichtet, dass sich Peter Brook wie in einem Supermarkt verhalten haben soll, als er in Indien von einem Dorf zum anderen fuhr, um Material für seine Version des Mahabarata zu sammeln. Ich finde es sehr interessant, auf diese Theatergeschichte zu schauen und sie von heute aus neu zu interpretieren.
Wir beschäftigen uns auch mit Fragen der Identitätspolitik in Arbeiten von Robert Wilson und der Wooster Group, und mit dem US-amerikanisch-mexikanischen Autor Guillermo Gómez-Peña, der sich damit auseinandersetzt, wie rassistische Erwartungen die Körper von Performern zum Objekt machen und kolonialisieren.
Beschwichtigung oder Überwachung
Susanne Burkhardt: Alles unter Kontrolle – das klingt auch ein bisschen wie eine Art Beschwichtigungsversuch, obwohl einem vielleicht schon alles entgleitet. Ist es das auch?
Oliver Frljić: Von Anfang an hat uns die Doppeldeutigkeit des Titels interessiert. Einerseits sagt man: "Alles ist unter Kontrolle", wenn man jemanden beruhigen möchte, aber es kann auch bedeuten, dass die soziale Kontrolle in einer Gesellschaft derartig angewachsen ist, dass man ihr nicht mehr entkommen kann.
Zwischen diesen beiden Bedeutungsebenen versuchen wir unsere Performance entstehen zu lassen. Erst gab es nur den Titel, dann haben wir uns überlegt, was wir unter diesen Schirm bekommen. Wir haben also nicht mit einem fertigen Text als Ausgangspunkt begonnen.
Susanne Burkhardt: Das Thema Identität, aber auch Repräsentation, hat Sie schon länger beschäftigt, überhaupt haben Sie sich gerade als Gastarbeiter am deutschen Theater bezeichnet. Das ist auch schon mal eine Zuspitzung. Sie haben das Gorki-Theater vor drei Jahren schon mal selbst zum Thema gemacht. "Gorki - Alternative für Deutschland" hieß der Abend, das war eine Auseinandersetzung mit der Partei AfD. Das Haus stand im Fokus dieser Partei, die angekündigt hatte, die Subventionen für dieses Theater kürzen zu wollen, damals gab es aber auch innerbetriebliche Anspielungen zu Fragen von Repräsentation im Theater – wer darf wen spielen.
Das Gorki-Theater kam zuletzt in die Schlagzeilen mit Vorwürfen gegen die Intendantin, sie hätte ihre Launen nicht im Griff, würde Mitarbeiter mobben. Wenn ein Haus, dass sich so intensiv um gesellschaftlichen Wandel bemüht, so kritisch auf die Schwachstellen der Gesellschaft schaut, wenn ein solches Haus selbst in die Kritik gerät, wie problematisch ist das aus Ihrer Sicht?
Oliver Frljić: Ich bin froh, dass Sie diese frühere Produktion erwähnen, denn ich glaube, dass das auch heute noch große Relevanz hat. Wir haben damals versucht, uns mit strukturellem Rassismus und dem rassistischen Diskurs im politischen Kontext auseinanderzusetzen, aber auch im Theaterkontext.
Ich finde es sehr interessant, dass in all diesen Debatten über das Gorki der letzten Zeit wieder viel Rassismus zum Vorschein kommt – auch unbelegte Vorwürfe. Dabei wird, glaube ich, kein Raum für Diversität geschaffen, sondern man versucht eher, den schon existierenden Raum abzutöten.
Offen über Probleme reden
Susanne Burkhardt: Wie erleben Sie momentan die Situation am Gorki, wie erleben Sie das Haus bei den Proben?
Oliver Frljić: Ich führe gute Gespräche, mit denjenigen, die mit mir an dieser Produktion arbeiten. Wir reden offen über alles. Ich mag es nicht, wenn die Leute auf der Straße oder die Presse eine Vorverurteilung anstellen. Gleichzeitig möchte ich klarstellen: Wenn jemand bei der Arbeit verletzt wurde – nicht nur im Gorki, schließlich gibt es mehr als 200 Theater in Deutschland – sollte man das ansprechen und aufklären.
Aber ich habe im Zusammenhang mit dem Gorki von Anfang so viel Rassismus erlebt. Nicht nur vonseiten der AfD, man hörte auch vieles von den Kollegen aus anderen Theatern. Da wurden einige nicht besonders lustige Witze darüber gemacht, wer im Gorki arbeitet, was da produziert wird und so weiter. Das liegt schon so lange in der Luft.
Aber eine Institution wie das Gorki muss erhalten bleiben. Ich finde, es sollte noch viel mehr solcher Häuser in Deutschland geben, um all diese Probleme zu thematisieren und die Diversität der Gesellschaft zu repräsentieren.
Susanne Burkhardt: Das ist interessant, dass Sie das sagen. Ich hatte den Eindruck, dass auf die Vorwürfe gegen Shermin Langhoff gerade von Seiten der Presse besonders vorsichtig reagiert wurde, weil man wusste, dass, wenn man sie zu sehr kritisiert, man das Gorki möglicherweise beschädigt und man das gar nicht wollte. Deswegen erstaunt mich, dass Sie jetzt sagen, da war immer so eine Böswilligkeit dabei.
Oliver Frljić: Ich spreche nicht über Shermin Langhoff, ich spreche über das Gorki als Institution, auf die die rassistischen Diskurse von Anfang an ausgerichtet waren. Das kann man nicht leugnen. Wenn es in Theatern zu Anschuldigungen kommt, wenn es um Machtmissbrauch oder Mobbing geht, müssen sie sich damit auseinandersetzen.
Aber wenn ich ein Problem habe, will ich auch in meinem eigenen Namen darüber sprechen, um die Arbeit in Institutionen wirklich zu verbessern. Anonyme Beschuldigungen lassen viel Raum für Fehlinterpretationen.
Ich hatte zum Beispiel viele Probleme in Kroatien, als ich Intendant des Nationaltheaters war. Ich habe Hunderte Morddrohungen bekommen. Ich wurde körperlich angegriffen, Menschen haben mich auf der Straße angespuckt. Aber ich habe das immer bei der Polizei angezeigt. Ich möchte alle Angestellten in deutschen Theatern ermutigen, auch öffentlich über ihre Probleme zu sprechen. So sollte man damit umgehen.
Susanne Burkhardt: Ja und genau das trauen sich viele nicht, weil sie prekäre Verträge haben und befürchten, wenn sie sich gegen Missstände aussprechen, dass sie dann gekündigt werden können.
Oliver Frljić: Ich kann da über niemanden ein Urteil fällen, ich selbst bin freischaffend, ich hatte nur mal für zwei Jahre eine Festanstellung. Ich glaube trotzdem, dass es den Raum gibt, an die Öffentlichkeit zu gehen und etwas zu verändern, wenn etwas geändert werden muss.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.