Regisseur Qurbani über "Berlin Alexanderplatz"

"Das erste, was jemand auf der Flucht verliert, ist die Würde"

11:41 Minuten
Der Schauspieler Welket Bungué steht im Film "Berlin Alexanderplatz" vor einer Säule, im Hintergrund der Neon-Schriftzug Alexanderplatz.
"Das ist der Fehler in deinem System, du willst gut sein in einer Welt, die nicht gut ist", bekommt Francis (Welket Bungué) im Film "Berlin Alexanderplatz" zu hören. © 2019 Sommerhaus / eOne Germany / Frédéric Batier
Burhan Qurbani im Gespräch mit Susanne Burg |
Audio herunterladen
Burhan Qurbani macht einen Geflüchteten aus Guinea-Bissau zu Döblins Franz Biberkopf. Es war ein Kniff, um ein breiteres Publikum mit dem Leben einer Dealer-Community in Berlin zu konfrontieren. Am Ende kam sogar Döblins Montagetechnik wieder durch.
Susanne Burg: Er hatte bei der Berlinale Premiere, dann gab es fünf Lolas, der Kinostart wurde immer wieder verschoben, aber jetzt kommt "Berlin Alexanderplatz" ins Kino. Der Film um den geflüchteten Francis, gespielt von Welket Bungué, der nach Berlin kommt und ein guter Mensch sein will, aber immer wieder Steine in den Weg gelegt bekommt. Er trifft auf den zwielichtigen Drogendealer Reinhold – und die Leben verbinden sich zu einer Schicksalsgemeinschaft.
Burhan Qurbani hat schon in "Wir sind jung. Wir sind stark" von den Randgruppen unserer Gesellschaft erzählt hat. Nun hat der Regisseur Alfred Döblins Roman ins Berlin der Gegenwart versetzt, hat einem Geflüchteten eine Stimme gegeben und damit einen Film geschaffen, der nun einen Beitrag zur Diskussion um Black Lives Matter liefert.
Burhan Qurbani: Ich glaube, dass es eine größere Sensibilität durch diese globale Bewegung von Black Lives Matter gibt und dass die Aufmerksamkeit eine andere ist. Man wird sehr stark schauen und auch viel strenger sein. Und darauf freue ich mich tatsächlich, dass das zu Diskussionen führen wird, die man davor vielleicht nicht hatte, dass man die Geschichte anders lesen wird. Es geht in dem Film um einen Zufluchtssuchenden aus Afrika, um den strukturellen Rassismus, der ihn zum Teil auch in die Illegalität drängt. Mich interessiert total, wie mein Umgang mit dem Stoff beim Zuschauer ankommt und wie er sich damit konfrontiert.

Parallelen von Franz und Francis

Burg: Wie kamen Sie auf die Idee, den Protagonisten aus Alfred Döblins wegweisendem Roman der 1920er-Jahre, Franz Biberkopf, zu Francis werden zu lassen – einen geflüchteten Mann aus Guinea-Bissau, der in Berlin strandet.
Qurbani: Es geht in dem Film stark um die Community von Dealern im Park Hasenheide in Berlin. Es geht viel darum, wie ich sie immer wahrgenommen habe, dass ich gemerkt habe, dass da am Rande der Gesellschaft eine Community von Männern mit Drogen dealt und von den gutbürgerlichen Besuchern des Parks immer als Dealer stigmatisiert, als Kriminelle angeschaut wird. Mich hat wütend gemacht, dass die keine Stimme, kein Gesicht, keine Repräsentation haben, die irgendwie fair ist.
Und dann habe ich damals schon darüber nachgedacht, ob das eine Dokumentation oder ein Spielfilmdrama ist – mit dem Bewusstsein, dass das wahrscheinlich total versickern wird: dass man einen kurzen Achtungserfolg hat oder dass der Film bei ein paar Leuten ankommt, aber dass das dann schon wieder in so einem kulturellen Unterbewusstsein versickern wird.
Jella Haase ("Mieze") kniet am Boden und hält den halb liegenden Welket Bungué ("Francis) mit links am Oberkörper und mit rechts am Kopf fest. Szene aus "Berlin Alexanderplatz" von Burhan Qurbani.
Mieze (Jella Haase) kümmert sich um Francis (Welket Bungué).© 2019 Sommerhaus / eOne Germany / Stephanie Kulbach
Und dann kam die Idee, was ist, wenn man einen Roman nimmt wie "Berlin Alexanderplatz", der so ein wichtiger Teil unseres bildungsbürgerlichen Kanons ist. Ist das nicht so, dass man es nicht mehr ignorieren kann, dass man diesen Männern Aufmerksamkeit schenken muss, dass man diesen Leuten ins Gesicht schauen muss? Und dann haben wir gemerkt, dass es ganz viele Parallelen gibt zwischen diesen beiden Männern, zwischen Franz Biberkopf und dem Francis in meinem Film: wie diese beiden Männer in Berlin wohnen, aber unsichtbar sind, am Rand der Gesellschaft in einem Paralleluniversum von Kleinkriminellen und Ausgestoßenen leben.

Der ultimative Anspruch auf Heimat

Burg: Ähnlich wie Döblin beschreiben Sie bei Francis eine Abwärtsspirale, in die er gerät. Er kommt an in Berlin, er arbeitet auf einer Baustelle. Als dann aber bei einem Arbeitsunfall ein Kollege schwer verletzt wird und Francis den zur Sicherheit von der Baustelle entfernt ablegt, verliert er seinen Job. Das ist nur ein Beispiel für diese Abwärtsspirale. Er landet schließlich als Drogendealer in der Hasenheide. Wie viel davon ist eigentlich selbst verschuldet, wie viel ist dann aber doch auch, was Sie eben sagten, struktureller Rassismus?
Qurbani: Für mich ging es immer darum, mir fällt kein besseres deutsches Wort dafür ein, der Figur agency zu geben, also eine Selbstverantwortlichkeit. Ich nehme mir die Figur schon hart zur Brust. Welket Bungué, der den Francis spielt, ist jemand, der mit viel Selbstbewusstsein und Kraft auftritt, das tut die Figur auch. Und er muss sich dann auch dem Urteil stellen, sowohl dem Schicksal, dem Zuschauer, der Geschichte.
Ich glaube, was ihn an- und umtreibt, ist ein ganz gefährlicher Anspruch auf Heimat – also anzukommen und nicht ständig auf der Flucht zu sein, nicht ständig außer Atem zu sein, sondern der ultimative Anspruch, ich bin Deutschland, ich bin hier und ich bleibe hier. Ich glaube, die gefährliche Deutung von dem Film könnte sein, dass dieser ultimative Anspruch nach Heimat etwas ist, was ihn immer weiter runterzieht.

Gut sein in einer nicht guten Welt

Burg: Ich habe gerade nachgedacht, inwieweit dann wiederum Heimat und Rassismus zusammenpassen, also inwieweit sein selbstbewusstes Fordern nach Heimat kollidiert mit den Gegebenheiten in Deutschland, die einfach einen geflüchteten Mann wie ihn ohne Arbeitserlaubnis hier nicht vorsehen.
Qurbani: Wir beschreiben ja alles mit einer metaphysischen Frage: "Ich will gut sein." Und die Antwort, die Francis vom Antagonisten des Films, von Reinhold, bekommt, ist: "Das ist der Fehler in deinem System, du willst gut sein in einer Welt, die nicht gut ist." Und eine schlechte Welt wäre dann eine Welt, die nicht offen ist, nicht aufnahmebereit, die Heimat nicht garantieren kann und die den Menschen an einem Punkt zwingt, die Heimat zu verlassen.
Die Welt von Francis ist eine chaotische, auf den Kopf gestellte Welt. Und für mich ist es jemand, der eigentlich mit einem posttraumatischen Stresssyndrom in Deutschland landet und eigentlich erst mal sich selbst finden muss.
Porträt des Regisseurs Burhan Qurbani, im weißen Pullover
Der Regisseur von "Berlin Alexanderplatz" Burhan Qurbani möchten Geflüchteten eine Stimme geben.© picture alliance / dpa-Zentralbild / Britta Pedersen
Vor allem, das glaube ich auch, ist das erste, was jemand auf der Flucht verliert, die Würde – im Sinne von der Selbstverständlichkeit, die eigene Sprache zu sprechen, für einen eigenen Unterhalt zu sorgen, sich frei und natürlich bewegen zu dürfen. All diese Dinge sind eben nicht mehr vorhanden, wenn man geflüchtet ist, Zuflucht sucht und an einen fremden Ort kommt, wo man nicht direkt akzeptiert wird. Und daran arbeitet sich der Film, glaube ich, sehr stark ab.

Albrecht Schuchs mephistophelischer Reinhold

Burg: Dann gibt es ja noch den Antagonisten, Reinhold, gespielt von Albrecht Schuch, ein eher so mephistophelischer Mann, Psychopath, der sich mit Francis befreunden will, der aber auch sein Verführer ist. Wie viel von den Verwirrungen im Kopf des ursprünglichen Franz Biberkopf haben Sie im Film ausgelagert an Reinhold? Wie haben Sie diese Figur entwickelt, die ja auch schon in der Serie von Rainer Werner Fassbinder eine interessante Figur war?
Qurbani: Die Steilvorlage für die Figur gibt uns natürlich Döblin. Schon bei Döblin im Roman ist Reinhold ein soziopathischer, sexsüchtiger, menschenfeindlicher Sadist. Und die Übersetzung war tatsächlich eher, wie bekommt man diese Figur greifbar, wie macht man sie auf eine Art und Weise menschlich, dass sie uns nicht nur abstößt und nicht nur fremd ist, sondern dass wir mit dem Teufel auch Empathie empfinden können.
Was Albrecht Schuch so toll kann, ist, einer Figur, die als metaphysischer Teufel total gut funktioniert und sexy ist, trotzdem eine menschliche Wendung zu geben, die Figur, durch seine Nuancen, die er mit ins Spiel bringt, einem so nah zu bringen, dass es einem wirklich unheimlich wird, dass man für diese Figur Sympathie empfindet. Ich glaube, das Spannende auch an diesen teuflischen Figuren ist, dass, wenn sie nah an uns rankommen, wir von ihnen gefangen sind.

Montage und Reduktion

Burg: Jetzt haben wir viel über die Figuren geredet, was wir noch gar nicht besprochen haben ist die Inszenierung, ist das Visuelle. Es ist erzählt wie ein Thriller mit unglaublich mächtigen Bildern, gleichzeitig die Montage von Philipp Thomas, die auch in gewisser Weise Döblins Montagetechnik auf die Leinwand überträgt. Wie viel von der Sprache, von der Anmutung wollten Sie auch in den Film von der Erzählung und visuell übertragen?
Qurbani: Wir standen natürlich am Anfang mit diesem Roman da, den wir geliebt und gehasst haben, der aber vor allem ein literarisches Monster ist, also ausufernd und lustvoll und unglaublich experimentierfreudig. Man hat diese Montagetechniken, die wild sind, dann Stream of Consciousness-Phasen, plötzlich einen Bibeleinwurf, plötzlich eine Werbung aus dem Supermarkt.
Wir haben lange darüber nachgedacht in der Bucharbeit, wie wir und was wir in den Film retten können. Und wir mussten dann relativ schnell einknicken. Okay, wir machen einen Spielfilm, wir haben nicht die 14 Stunden, die sich Fassbinder genommen hat, das heißt, wir müssen reduzieren auf das, was eigentlich passiert – doof gesagt: der Plot.
Da war relativ schnell klar, das ist diese komische Liebesgeschichte zwischen Reinhold und Franz, zwischen Franz und Mietze, zwischen Mietze und Reinhold. Und wir versuchen alles andere drumherum erst mal wegzuschaben und gucken, was wir dann im Laufe der Zeit wieder reinholen können.
Die Arbeit mit den Schauspielern und mit der Kamera, das ist etwas, was meinem Kameramann, Yoshi Heimrath, und mir sehr stark liegt, wo wir Spaß haben, Choreografien für die Schauspieler zu bauen und die Kamera als einen weiteren Protagonisten in den Film zu holen. Dann saßen wir im Schnitt, und die erste Schnittfassung war über fünf Stunden lang, und wir wussten, das geht also nicht. Wir können das keinem Menschen antun, kein Kino nimmt diesen Film ins Programm. Wir haben dann runtergekürzt.
Philipp Thomas hat es dann in der Montage geschafft, sich durch ständige Verdichtung so auszutoben, dass wir plötzlich wieder bei Döblin waren in der Art und Weise, wie er die Bilder und Szenen und Zeitebenen ineinander verschoben hat. Und das Schöne war, dass es Sinn gemacht hat, dass es total aufgegangen ist. Und das war dann aus Versehen Döblin.

Besuch von Fassbinder im Traum

Burg: Welche Rolle hat eigentlich Fassbinder in dem Ganzen gespielt? War das etwas, wo Sie sagten, noch so ein Monstrum, das wird zu viel, um damit umzugehen?
Qurbani: Es gab zwei Parteien in unserem Schreibduo, Martin Behnke ist ein totaler Fassbinder-Fan und ich nicht so. Ich musste mir Fassbinders Fassung schon in der Schule anschauen und dann habe ich immer wieder mal reingeschaut, aber es hat mich nie so wirklich gepackt. Und vielleicht bin ich ein totaler Dilettant und habe überhaupt keine Ahnung von Kunst und Kultur, aber es war nie meins. Deshalb war für uns recht schnell klar, Fassbinder ist nicht das Maß, an dem wir uns messen lassen, weil er als Filmikone so groß über uns steht, dass wir nur scheitern können. Deshalb machen wir uns frei von ihm und machen einfach unser eigenes Ding – auch auf die Gefahr hin, dass man uns genau deshalb verreißen wird.
Ich habe natürlich schon im Kopf meine eigenen Kritiken geschrieben, hätte Qurbani nur den Fassbinder genauer angeschaut, hätte er nur, hätte er nur … Das Resultat war, dass ich eine Zeit Alpträume hatte, wo ich am Set war. Dann haben wir angefangen zu drehen und plötzlich kommt Fassbinder und fängt an Regie zu führen. Und ich schreie "Lass das, Rainer, lass mich Regie führen, verschwinde von meinem Set" – und dann bin ich aufgewacht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema