Die Verletzlichkeit der Menschen zeigen
Der schwedische Regisseur Roy Andersson hat im September den Goldenen Löwen des Filmfests von Venedig gewonnen. Im Interview erzählt er, warum er ausschließlich im Studio filmt, welche deutschen Maler ihn beeinflussen und wieso Verkäufer von Scherzartikeln liebenswert sind.
Susanne Burg: Als Roy Andersson im September in Venedig den Goldenen Löwen entgegennahm, waren sich alle einig: Er hat ihn verdient. Sein Film "Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach" ist der letzte Teil einer Trilogie darüber, was es heißt, Mensch zu sein. Und es ist wohl der poetischste und eindrücklichste Film des 71-jährigen schwedischen Regisseurs.
Im Zentrum stehen also zwei Männer, die Scherzartikel verkaufen. Sie ziehen von Laden zu Laden und stehen mit Aktenkoffer in zwei grauen Anzügen mit Grabesmiene in tristen Hinterzimmern von Geschäften. Und wollen – so ihr Spruch – Menschen helfen, Spaß zu haben, aber niemand will sich helfen lassen. Sie ziehen weiter und landen in traumverlorenen Erinnerungen – an verliebte Könige, blutige Schlachten und fröhlich gurrende Tauben.
"Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach" kommt am 1. Januar in die Kinos, es ist ein Film voller Humor, Tristesse und Absurdität. Jede Szene wirkt arrangiert wie ein Gemälde, Roy Andersson erzählt in stehenden Tableaus. Deswegen war meine erste Frage, als ich den Regisseur getroffen habe, auch: Wie viel hat für Sie Filmemachen mit Malerei zu tun? Wie verwandt fühlen Sie sich mit einem Maler?
Roy Andersson: Malerei hat mich schon immer beeinflusst, aber dieses Mal ganz besonders. Und es waren zwei deutsche Maler aus den 1930er-Jahren, nämlich Otto Dix und George Grosz, die mich da besonders beeinflussten und die ja diese traumatischen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg gesammelt hatten und eigentlich relativ desillusioniert waren und es dann aber trotzdem geschafft haben, eine sehr lebendige Kunst zu schaffen. Und diese Erfahrung haben sie dann in ihre Gemälde übersetzt.
Burg: Die beiden arbeiten ja sehr viel mit Groteske. Es ist ja alles sehr, sehr überzeichnet. Wollten Sie das auch in Ihren Film übertragen?
Andersson: Ich bin nicht so grotesk wie diese beiden. Vielleicht werde ich es beim nächsten Film ein bisschen mehr sein. Aber nun muss man auch sagen, Otto Dix und George Grosz waren ja nicht nur grotesk. Da waren ja auch ganz andere Elemente, auch fantastischere Elemente streckenweise. Und dann, später, gab es ja auch noch Kokoschka und Beckmann und viele andere. In Schweden sagen wir zu dieser Phase eben die Neue Sachlichkeit.
Was jetzt bei diesem Film wirklich besonders war, war die Tiefenschärfe. Das ist auch etwas, was mich an diesen Bildern so beeinflusst hat, und heutzutage kann man beim Film eine viel größere Tiefenschärfe erreichen, seitdem man digital dreht. Das war früher nicht so leicht. Allerdings ist es auch wirklich viel Arbeit, weil wenn der Hintergrund so scharf ist, dann musst du auch darauf achten, dass du mit den richtigen Optiken arbeitest, dass beispielsweise nicht nur die Gesichter scharf werden, und der Hintergrund nicht. Und das ist so eine Arbeit, das kann ich eigentlich nur im Studio erreichen. Deswegen drehe ich meine Filme eben auch im Studio, weil ich nur dort mir all das aufbauen kann, wie ich das dann später auch brauche, um die Bilder zu schaffen, die ich im Kopf habe.
"Ich habe über Nacht meinen Stil verändert"
Burg: Sie bauen im Studio alles nach, Straßen, Bars – wie realistisch dürfen die Straßen sein? Ist Realismus für Sie überhaupt eine Kategorie beim Filmemachen?
Andersson: Ich hab ja meine Karriere eigentlich mit sehr realistischen Filmen begonnen, in Schwarz-Weiß, und das war ja mein Anfang. Dann, Mitte der 80er-Jahre habe ich dann plötzlich gemerkt, dass mich das ermüdet hat, dass ich nicht mehr weiter kam, auch in meiner künstlerischen Entwicklung. Und da habe ich quasi über Nacht meinen Stil wirklich verändert und habe einfach versucht, etwas anderes zu machen, und hatte Erfolg damit, und seitdem war keiner meiner Filme noch realistisch. Und das ist, wie Matisse einmal gesagt hat, man muss alles aus einem Bild, aus einem Gemälde entfernen, was wirklich nicht nötig ist. Und das ist der Grund, warum ich im Studio arbeite, weil ich dort genau die Bedingungen finde oder Bedingungen erschaffen kann, die ich brauche und die ich woanders, also draußen, an natürlichen Drehorten nicht finden würde. Und deswegen werde ich weiter in einem Studio arbeiten.
Burg: Es wirkt ja nicht nach Kulisse. Es wirkt ja trotzdem, die Straßen wirken ja realistisch. Wie naturgetreu sollen sie dann doch auch sein?
Andersson: Einige nennen das auch Hyperrealismus. Ja, das kann man natürlich so sehen, aber das ist natürlich eine sehr reine, eine sehr pure Bildwelt, die ich da erschaffe.
Burg: Alles wirkt ja auch irgendwie zeitlos. Es könnte irgendwann spielen. Aber in Ihrem jetzigen Film haben die Menschen ein Handy. Warum?
Andersson: Man muss natürlich auch das Heutige zeigen, da gehören die Handys dazu. Aber das hält uns ja nicht davon ab, eine gewisse Zeitlosigkeit trotzdem zu erschaffen. Es wäre jetzt falsch gewesen, wenn ich darauf wirklich verzichtet hätte. Und Kinofilme geben mir die Möglichkeit, mit Anachronismen zu arbeiten. Und dann kann man eben die Vergangenheit mit der heutigen Zeit mischen, das 18. Jahrhundert plötzlich auch mal in unsere Zeit verlegen, und das wirkt im Kino alles sehr natürlich, genau wie im Traum. Im Traum mischen sich auch permanent die Zeitebenen, und alles ist erlaubt.
Burg: Der Film ist, wie es am Anfang heißt, der letzte Teil einer Trilogie darüber, was es heißt, Mensch zu sein. Sie zeigen lauter Alltagsszenen voller Komik, Tristesse, Absurdität, surreal. Können Sie das Leben besser durch Verfremdung einfangen?
Andersson: Ich kann Ihnen das nicht perfekt erklären, was Brecht unter Verfremdung verstanden hat. Ich verstehe es intuitiv, aber bin vielleicht weniger intellektuell.
Burg: Wenn wir über den Inhalt sprechen – es ist schwierig, in dem Film jetzt auf eine inhaltliche Ebene im Sinne von einer Bedeutung oder so zu kommen, aber Sie stellen ja verschiedene Charaktere vor, die alle sehr apathisch wirken. Gut scheint es in dem Film keinem zu gehen. Man fragt sich die ganze Zeit eigentlich, wem es am schlechtesten geht. Ist die Welt voller Apathie? Ist das Leben eine sehr trostlose Angelegenheit?
Andersson: Es ist wirklich schwer. Wir leben zurzeit wirklich auf der Welt in schweren Zeiten. Sie haben vorhin selber den Begriff Apathie verwendet. Ich würde ganz gerne das Gegenteil davon verstärken, nämlich Empathie. Ich möchte mit dem Film helfen, dass man wieder mehr Empathie empfindet. Das halte ich für sehr, sehr wichtig in der Kunst, und ich finde, man hat als Künstler Dienst an der Menschheit zu leisten und vielleicht etwas zu tun, dass die Welt weniger apathisch wird.
Burg: Im Film ist aber von Empathie nicht viel bei den Charakteren zu sehen. Es gibt eine Szene, wo Menschen an einer Bushaltestelle stehen, und einer möchte wissen, welcher Tag ist, und es geht die ganze Zeit eigentlich darum, ist heute Mittwoch oder Donnerstag. Die reden die ganze Zeit im Grunde genommen aneinander vorbei. Kommunikation und Empathie scheint da nicht wirklich stattzufinden.
"Ich hoffe, ich bin nicht zynisch geworden"
Andersson: Aber hier zählt doch der Kamerastandpunkt. Das, was ich sehe, was der Zuschauer sieht. Und das ist doch ein empathischer Blickwinkel – hoffe ich jedenfalls. Es besteht natürlich immer das Risiko des Zynismus, aber ich hoffe, ich bin nicht zynisch geworden. Und als Filmemacher versuche ich natürlich, Szenen zu zeigen, selbst wenn die Menschen als solche in den Szenen nicht sehr empathisch agieren, dass wir, zumindest, was unseren Blick betrifft, doch das mit Empathie tun.
Burg: Ich glaube, ich habe das noch nicht ganz verstanden. Sie meinen, dass, indem Sie etwas zeigen, dass ich mitfühle mit den Charakteren, die Sie zeigen, die zum Beispiel nicht kommunizieren? Oder die beiden Menschen, die mit ihrem Koffer voller Scherzartikel durch die Gegend ziehen, im Grunde genommen ja auch ein trauriges Dasein führen, dass ich als Zuschauerin mit ihnen mitfühle?
Andersson: Das hoffe ich doch. Weil ich liebe sie, ganz egal, ob sie da am Bus stehen oder ob es sich um diese Vertreter von Scherzartikeln handelt. Ganz egal, ob das, was sie tun, irgendwo langweilig ist, ob sie sich manchmal dumm benehmen. Ich liebe diese Figuren trotzdem, auch wenn ich nicht immer verstehe, was sie tun. In der Bibel, im Neuen Testament, in der Bergpredigt gibt es ja diesen interessanten Satz: Gott, vergib ihnen, auch wenn sie nicht wissen, was sie tun. Und Jesus liebt solche Menschen, und er versucht seinem Vater zu sagen, dass er ihnen vergeben solle.
Burg: Und die beiden Personen, über die wir eben gesprochen haben, diese beiden Männer, sie wollen ja eigentlich sich nicht streiten untereinander, sie wollen nett sein zueinander. Sie streiten sich einmal ganz fürchterlich, dann entschuldigen sie sich, einen Tag später sind sie wieder gemein zueinander. Es wirkt aber so, als sei das eben Teil des Menschseins. Man kommt manchmal nicht aus seiner Haut raus.
Andersson: Was mir sehr wichtig ist, und was hier eine Ambition von mir war, war, die Verletzlichkeit der Menschen zu zeigen. Wir sind nun mal nicht perfekt, wir sind sehr verletzlich.
Burg: Jetzt haben wir viel über den Stil gesprochen, über, wie Sie das inszenieren. Wir haben noch nicht über die Dialoge gesprochen. Wie wichtig sind die? Die sind ja auch sehr präzise?
Andersson: Für mich ist Samuel Beckett einfach sehr inspirierend, und diese banalen Dialoge in "Warten auf Godot", die so zeitlos sind – und das Stück ist geografisch nicht verortet. Ich liebe diese Banalität der Dialoge, und die dauern ja immerhin drei Stunden lang an.
Burg: Sie haben im September den "Goldenen Löwen" in Venedig gewonnen. Ich hatte ein Interview gelesen, das Sie vorher geführt haben, wo Sie sagten, Sie sind auch manchmal ein bisschen frustriert, so einen Film zu machen, an dem Sie sieben Jahre lang arbeiten, weil Sie gar nicht wissen, ob die Menschen diese Form von Kunst überhaupt noch schätzen können. Ist dieser Preis ein Beweis dafür, dass Menschen die Kunst schätzen, die Filmkunst?
Andersson: Dieser Preis, den ich beim Filmfestival in Venedig erhalten habe, da habe ich mich sehr darüber gefreut. Mir ist schon klar, dass mein Kino anders ist als das, was man jetzt normalerweise auf den Leinwänden sehen kann. Und gerade deshalb war meine Freude und meine Rührung umso größer.
Burg: Herzlichen Glückwunsch und vielen Dank, Roy Andersson.
Andersson: Danke sehr! Danke sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.