"Die Berlinale verbreitet eine tolle Energie"
Der Filmemacher Tom Tykwer hat die Bedeutung der Ära Kosslick für die Berlinale hervorgehoben. Der diesjährige Jury-Präsident sagte, man habe ihr die Politisierung des Kinos zu verdanken.
"Man spürt es halt, wenn man durch die Stadt geht schon, dass einfach alle so ein bisschen gekloppt sind, so für eine Woche oder zehn Tage", sagte der Filmregisseur und diesjährige Jury-Präsident, Tom Tykwer, im Deutschlandfunk Kultur über das besondere Flair der Berlinale. Viele Leute gingen während des Filmfestivals so oft ins Kino, wie sonst im ganzen Jahr nicht und ließen sich auf ungewöhnliche Filme ein. "Das ist für einen Regisseur oder für Filmemacher und auch für alle Beteiligten ein unheimliches Glück, wenn man merkt, da ist eine Offenheit und Neugier da." Das wünsche man sich von seinem Publikum.
Lob für Dieter Kosslick
Tykwer sagte, die Politisierung des Kinos sei der Ära unter Berlinale-Chef Dieter Kosslick zu verdanken. Das Festival sei ein kultureller Dreh- und Angelpunkt, in dem sich Berlin und Deutschland spiegeln könnten.
Tykwer hatte zum Jahreswechsel einen offenen Brief, nicht unterzeichnet, in dem 79 Künstler gefordert hatten, die Nachfolge des Festivalchefs mit einer Findungskommission transparent zu regeln. Unter den prominenten Unterzeichnern wie Maren Ade und Fatih Akin war aufgefallen, dass Tykwer fehlte, der dieses Jahr die internationale Jury der Berlinale leitet.
Gute Stimmung
Zur Begründung sagte Tykwer jetzt, er sei in Sorge gewesen, dass die Presse den offenen Brief falsch aufnehmen könnte und so sei es leider auch gekommen. "Das wurde ja so stark in eine Richtung gedrängt, als wäre das Festival irgendwie in der Sackgasse." Stattdessen sei unter Kosslick aus der Berlinale ein dem Kino so zugewandter Ort geworden, den die Stadt liebe.
"Der Februar ist überhaupt nur auszuhalten in Berlin wegen der Berlinale und wegen der guten Stimmung, die dadurch da ist", sagte Tykwer, der einräumte, dass bei der Nachfolge von Kosslick vorsichtig verfahren werden müsse.
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Heute beginnt die 68. Berlinale, und damit beginnt auch die Arbeit von Tom Tykwer. Der Regisseur von Filmen wie "Lola rennt", "The International", "Cloud Atlas" oder auch "Das Parfum" ist nämlich in diesem Jahr der Präsident der Jury, die die Bären vergibt. Ich habe mich mit ihm unterhalten und bin zunächst mal mit ihm zurückgegangen ins Jahr 2002, da war er das erste Mal auf der Berlinale.
Sein Film "Heaven" hat damals die Berlinale eröffnet. Tom Tykwer ist unter anderem mit seinem Star Cate Blanchett über den Roten Teppich gelaufen, und ich habe ihn gefragt, wie er das in Erinnerung hat, ob das damals eher stressig und anstrengend war oder eher ein großer Spaß?
Tom Tykwer: Das war eigentlich ein großer Spaß. Das war überhaupt nicht anstrengend. Das war mehr Trubel und Durcheinander und für mich wahnsinnig schön, weil ich fand den Film ganz eigenbrötlerisch und speziell und war sehr dankbar, dass der so eine Plattform bekommen hat.
Kassel: Was die Berlinale ja immer auszeichnet, auch vor vielleicht anderen großen Festivals, ist diese Publikumsnähe, dass es wirklich ein Publikumsfestival ist.
Tykwer: Ja.
Kassel: Merkt man die dann auch als Regisseur, wenn man mit dem eigenen Film in Berlin ist?
Tykwer: Auf jeden Fall. Das Festival hat einfach so einen Flair, man spürt es, wenn man durch die Stadt geht schon, dass einfach alle ein bisschen bekloppt sind für eine Woche oder für zehn Tage. Man darf ja nicht vergessen, viele Leute gehen dann fünf-, sechs-, sieben- oder zehnmal ins Kino, die das möglicherweise das ganze Jahr sonst nicht schaffen, und gucken sich dann auch noch vielleicht drei Filme aus Asien oder von den Philippinen an, die dann so vier Stunden lang sind, einfach nur, weil diese Neugier so geweckt ist. Das ist für einen Regisseur oder für Filmemacher und auch für alle Beteiligten eigentlich ein unheimliches Glück, wenn man merkt, da ist eine Offenheit und eine Neugier da, die will man natürlich haben von seinem Publikum.
Tolle Energie im eisigen Februar
Kassel: Nun hat es natürlich gerade im Vorfeld dieser Berlinale, der 68., große Diskussionen gegeben, diesen Brief, den viele deutsche Regisseurinnen und Regisseure unterschrieben haben, in dem im Kern eine transparentere Vorgehensweise bei der Suche nach einem Nachfolger für Dieter Kosslick gefordert wurde. Sie haben den nicht unterschrieben, weil Sie sich da einfach raushalten wollen oder weil Sie die Meinung der Kolleginnen und Kollegen nicht teilen in diesem Punkt?
Tykwer: Nein, nein, ich fand den Brief eigentlich gar nicht so verwirrend. Ich hatte nur Sorge, dass der von der Presse vielleicht irgendwie falsch aufgenommen wird, und so ist es dann ja leider auch gekommen. Das wurde ja so stark in so eine Richtung gedrängt, als wäre das Festival irgendwie in einer Sackgasse, und man muss ganz eindeutig sagen, dass so in der Ära Kosslick aus der Berlinale ja erst mal ein dem Kino dermaßen zugewandter Ort geworden ist, den die Stadt liebt und der wirklich eine ganz tolle Energie in diesem eisigen Monat hier verbreitet.
Ich meine, der Februar ist ja überhaupt nur auszuhalten in Berlin wegen der Berlinale und wegen der guten Stimmung, die dadurch da ist, und, wenn man auch so will, die Politisierung des Kinos, die verdanken wir alle dieser Ära, die Kosslick dann nächstes Jahr beendet. Da haben sich manche so anders zu positioniert, was man ja gerne tun kann, aber diesen Brief da auch ein bisschen, finde ich, missbraucht in dem Zusammenhang. Grundsätzlich ging es ja darum zu sagen, dass man sehr vorsichtig und sehr sorgfältig umgehen muss mit der Neubesetzung dieses Postens, und das reflektiert auch nur den Status, den die Berlinale hat: Sie ist wirklich ein großer kultureller Dreh- und Angelpunkt, in dem sich die Stadt und wenn man so will: auch das Land kulturell und ästhetisch spiegeln kann, und das wird wirklich angemessener Weise sehr ernst genommen.
Spielfilm und Serie
Kassel: Sie selbst haben sich nach immensen internationalen Filmerfolgen ja in den letzten Jahren auch sehr intensiv mit Serien beschäftigt, mit diesen neuen Serien, die durch Pay-TV-Sender und Streaming-Dienste überhaupt erst möglich geworden sind. "Sense8" von Netflix war das erste Beispiel, dann natürlich "Babylon Berlin". Ist denn für Sie der klassische abendfüllende Spielfilm überhaupt noch die Königsdisziplin, oder sagen Sie, im Moment kann man in Serien eigentlich ganz andere, viel bessere Dinge machen?
Tykwer: Nee, ich glaube, das sind einfach zwei Welten, die so fundamental voneinander zu trennen wären, dass man das gar nicht richtig in Konkurrenz zueinander stellen sollte. Wenn man so will, ist der Film eine Novelle, und eine Serie ist wie ein dicker Roman, wo man sich so durchfrisst, aber in Kapitel unterteilt, aber der Erzählbogen geht über die ganzen tausend Seiten hinweg, während ein kompakter Spielfilm diese ganzen Vorzüge hat, was ökonomisches Erzählen betrifft, was so eine scharf konturierte Formulierung betrifft, und das ist beides einfach toll, und wie jeder Leser ab und zu ein dünnes und ab und zu ein dickes Buch will, so wird es im Kino, glaube ich, und mit Kino und Serie sich genauso verhalten. Ich glaube nicht, dass das eine das andere beschädigt, sondern dass sie sich toll ergänzen.
Kassel: Aber das ist doch ganz lustig. Ich glaube, auf genau dieselbe Frage, wenn ich sie überhaupt gestellt hätte, hätten Sie vor zehn Jahren, vielleicht auch vor acht, noch fast das Gegenteil geantwortet, weil damals war es ja so, dass man in Fernsehserien immer in jeder Folge eine abgeschlossene Geschichte erzählen musste, –
Tykwer: Genau.
Kassel: – und Regisseure haben gesagt, wenn ich länger erzählen will, mache ich lieber einen Kinofilm.
Tykwer: Genau, na ja, das ist natürlich wirklich anders geworden, dass die Serie, die sich in dem letzten Jahrzehnt sozusagen durchgesetzt hat …, ist ja wirklich also eine andere Form, der hat mit "Dallas" und "Starsky und Hutch" ja nichts mehr zu tun, sondern man nimmt es sehr ernst, dass man Umwege gehen darf und wirklich geradezu aberwitzig abweicht manchmal von dem gradlinigen Strom, weil man es sich leisten kann, weil man manchmal eine ganze Episode über irgendeine Nebenfigur erzählen kann, weil sie dann insgesamt rückblickend sozusagen diesem Panoramatischen, was eine Serie oft auch anstrebt, hilft, während sie den Plot dann vielleicht zwischenzeitlich total aus dem Auge verliert. Das ist sehr schön, dass das geht, aber es ist auch dadurch ganz schön anders. Es ist eben nicht so ähnlich, nur länger, sondern es ist auch in sich, also strukturell und ästhetisch und von der Wirkung her, anders. Es ist eine ganz andere Art von Filmkonsum.
Jury mit einer Position
Kassel: Sind Sie eigentlich, wenn Sie selber Serien gucken, ein Binge-Watcher, also gucken Sie an einem Abend eine ganze Staffel zu Ende?
Tykwer: Na ja, eine ganze Staffel … Manchmal schon, aber das geht nur zu zweit, also nur, wenn meine Frau dabei ist.
Kassel: Mit Binge-Watching können wir jetzt indirekt auch zu Ihrer Aufgabe in diesem Jahr auf der Berlinale als Präsident der Jury kommen.
Tykwer: Genau.
Kassel: Ich meine, da muss man auch viele Filme sehen. Jetzt im Vergleich: Sie kennen die Berlinale als Regisseur, der einen eigenen Film mitbringt, ihn präsentiert, jetzt müssen Sie die Filme der anderen bewerten, zusammen mit den anderen Jurymitgliedern. Ist das entspannter, weil es nicht ums eigene Werk geht, oder ist es vielleicht sogar anstrengender, weil man sagt, jetzt soll ich als Filmemacher die Arbeit der anderen bewerten?
Tykwer: Nee, das ist doch, finde ich, entspannter, weil man ist ja trainiert im Gucken und natürlich auch darin, das abzuwägen, was jetzt sozusagen ein subjektiver Reflex ist und wo man auch ein bisschen versucht, eine ernstzunehmende Expertise unterzubringen, und die Mischung macht es dann ja am Ende auch. Man kann ja nicht verhindern, dass, obwohl wir jetzt sechs Personen sind, wir natürlich irgendwann … wird sicher bei uns eine Haltung rauskristallisieren und auch eine Position.
Wir haben halt eine Position. Wir sind ja Leute, die auf eine bestimmte Weise gucken, und daran bin ich eigentlich trainiert genug, um zu wissen, dass ich das verantwortlich tun kann und dass man das wie in einem guten Verhältnis … Wenn man mit einer eigenen Arbeit, mit einem Werk an die Öffentlichkeit geht, da ist man immer viel, wie soll ich sagen, verletzbarer und fragil.
#MeToo und der Kunstgenuss
Kassel: Apropos entspannt: In einem Punkt ist, glaube ich, im Moment niemand im Film- und Fernsehbusiness entspannt, was die #MeToo-Debatte angeht, hat Dieter Kosslick, also der jetzt noch Berlinale-Chef, gesagt, man habe in diesem Jahr auch Filme abgelehnt, deren Personal durch die Debatte um sexuelle Gewalt im Filmgeschäft belastet sei. Wie stehen Sie eigentlich zu der Debatte? Sind Sie mit der Art und Weise, wie die im Moment in Deutschland und auch weltweit geführt wird, zufrieden?
Tykwer: Ich würde mir wünschen, dass sich das jetzt sehr stark wieder auf das Inhaltliche fokussiert und konzentriert. Das ist eine Auseinandersetzung über ein politisches Phänomen und ein natürlich soziales Phänomen, also Macht und Machtmissbrauch, aber insbesondere am Arbeitsplatz natürlich, dass das da ein großes Thema ist, das finde ich bedeutend, und ich finde auch, das muss strukturell verhandelt werden. Ich würde es begrüßen, wenn es sich von diesen Einzelpersonen-Geißelungen jetzt mal langsam entfernt und an der Sache bleibt.
Kassel: Aber diese große Frage, die sich ja stellt, bei neuen Filmen, lädt man die zum Festival ein, aber manche sagen ja auch, ich werde mir auch alte Filme und Fernsehserien nie wieder anschauen, wenn da jemand beteiligt war, dem solche Vorwürfe auch am Ende nachgewiesen werden. Es stellt sich wirklich die Frage, muss man da nicht doch das Werk und den, der es geschaffen hat, trennen?
Tykwer: Ich glaube, da muss keiner wirklich zweimal drüber nachdenken, dass ein Bild von Picasso deshalb ja nicht weniger aufregend wird, weil man irgendwelche Details aus seiner persönlichen Geschichte irgendwann kennenlernt. Das wirft noch mal einen anderen Aspekt auf, den man vielleicht dann auch deshalb nicht ganz vergisst. Aber die künstlerische Rolle, die das spielt, bleibt unangetastet, und damit leben wir auch immer schon.
Wir müssen bestimmte Sachen voneinander trennen. Also das soziale Miteinander ist eine Verantwortung, die für mich im Vordergrund steht, in unserem Leben generell. Die steht auch vor aller Kunst und vor allen anderen Dingen, aber wir alle kennen wirklich großartige Kunst und tolle Filme von Menschen, die zumindest situativ nachweislich Arschlöcher waren, und können aber nicht umhin, die Kunst zu genießen. Das ist halt so.
Kassel: Herr Tykwer, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch und wünsche Ihnen, dass Sie in der Jury genauso viel Spaß haben werden wie mit Ihren eigenen Filmen in der Vergangenheit auf der Berlinale.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.