Regisseur: Unwissen der Familien war "absolut unerträglich"
1992 wurden zwei Männer unweit der deutsch-polnischen Grenze erschossen - angeblich hatten die Jäger sie für Wildschweine gehalten. 20 Jahre nach dem Vorfall hat Philip Scheffner einen Film darüber gedreht - und erstmals die Familien mit der Wahrheit hinter dem Tod ihrer Angehörigen informiert.
Dieter Kassel: Am frühen Morgen des 29. Juni 1992 wurden Grigore Velcu und Eudache Calderar auf einem Feld in Mecklenburg-Vorpommern in unmittelbarer Nähe der deutsch-polnischen Grenze erschossen. Angeblich hatten zwei Jäger die beiden in der Morgendämmerung mit Wildschweinen verwechselt. Der Frage, was an diesem Morgen wirklich passiert ist, wieso die Ermittlungen anschließend so verliefen, wie sie verliefen, vor allem aber der Frage, wer diese Männer eigentlich waren und warum sie zu diesem Zeitpunkt unterwegs waren, geht der Film "Revision" nach. In der Reihe "Forum" auf den Berliner Filmfestspielen war "Revision" jetzt zum ersten Mal zu sehen, und in unserem Berlinale-Studio begrüße ich dazu jetzt den Regisseur des Films, Philip Scheffner. Guten Tag, Herr Scheffner!
Philip Scheffner: Guten Tag!
Kassel: Damals, 1992, stand in den Zeitungen, die überhaupt darüber berichtet haben, so sinngemäß: Zwei tote Männer auf einem Feld - Jagdunfall! Wieso hat diese Meldung irgendwann Ihre Aufmerksamkeit erregt?
Scheffner: Die Aufmerksamkeit wurde bei uns auch verzögert erregt sozusagen, wir haben das erste Mal davon 1996 erfahren, also vier Jahre später. Bei einer Recherche für einen anderen Film hat uns ein Mitarbeiter, ein Soziologe, von der Forschungsstelle "Flucht und Migration" in Berlin, Helmut Dietrich, hat uns darüber erzählt, dass zwei Menschen in einem Feld erschossen wurden. Und ich glaube, was uns damals sehr bewegt hat, ist einfach erst mal dieses Bild, also ein großes Kornfeld, in dem zwei Männer liegen. Und das haben wir so mit uns rumgetragen seit 20 Jahren und haben immer wieder darüber nachgedacht, darüber mehr rauszufinden, zu recherchieren, sind ein bisschen zurückgeschreckt vor der wahrscheinlich sehr aufwendigen Recherche. Und irgendwann vor zwei Jahren haben dann Merle Kröger und ich gesagt, so, jetzt versuchen wir's einfach. Und daraus ist dann dieser Film entstanden.
Kassel: Ein großer Teil dieses Films lässt Menschen in Rumänien zu Wort kommen, die Familie der beiden toten Freunde. Die zu finden, war das dann am Ende wirklich, wie Sie gerade gesagt haben, so eine aufwendige Recherche?
Scheffner: Nein, das war das Überraschende, dass es überhaupt nicht aufwendig war, da wir ein Vorgespräch hatten mit dem Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Stralsund, der uns einzelne Informationen aus den immer noch existierenden Gerichtsakten gegeben hat und unter anderem eben auch die Namen und Adressen, damaligen Adressen, der Angehörigen in Rumänien. Und wir haben eigentlich in unserer Recherche nichts anderes gemacht, als einfach zu diesen Adressen zu fahren, und die lebten dort immer noch und waren natürlich sehr überrascht und auch schockiert nach 20 Jahren, dass da Filmemacher auftauchen und mit ihnen sprechen wollen, vor allem weil sie eben von dem Gerichtsverfahren damals keinerlei Kenntnis hatten.
Kassel: Das war das, was mich an dem Film auch sehr erstaunt hat: Sie haben den Menschen in Rumänien, Freunden, Familienangehörigen Dinge erzählt, die die noch nicht wussten, 20 Jahre oder in dem Fall 19 Jahre ungefähr nach diesem Geschehnis.
Scheffner: Nein, die wussten gar nichts. Das ist halt so ein bisschen unterschiedlich, weil die Angehörigen von einem der getöteten, von Grigore Velcu aus der Stadt Craiova, waren damals Asylbewerber im Asylbewerberheim Gelbensande bei Rostock, das heißt, sie waren in Deutschland, sie haben mitbekommen, dass ihr Vater an der Grenze erschossen wurde - Vater, Ehemann -, und sind dann mit der Leiche zurück nach Rumänien gegangen.
Das heißt, die haben gehört, dass da etwas passiert ist, zu diesem Zeitpunkt, was genau passiert ist, wusste keiner, haben dann aber über den weiteren Verlauf, über das zehn Jahre dauernde Verfahren und den letztendlichen Freispruch der Angeklagten nie etwas erfahren. Die andere Familie aus Alba Iulia, da ist nur der Vater/Ehemann nach Deutschland gegangen, die Familie selber ist in Rumänien geblieben, war nie in Deutschland. Bei denen war es so, dass die eigentlich auf den Anruf gewartet haben, dass ihr Vater gut angekommen ist in Deutschland, aber dann einen Anruf bekommen haben, dass sie doch bitte die Leiche am Flughafen Bukarest abholen sollten. Und seitdem haben sie nie wieder irgendeine Form von Informationen bekommen.
Kassel: Wie haben die auf die Informationen, die Sie ihnen geben konnten, reagiert?
Scheffner: Natürlich war es schockierend für sie teilweise auch, weil wir ihnen Informationen gegeben haben, die auch natürlich sehr schmerzlich waren, und auch für uns war es eine eigentlich absolut unerträgliche Situation, da hinzukommen nach 20 Jahren, da wir das ja auch nicht wussten - wir wussten ja nicht, dass sie nichts wissen sozusagen - und damit auf einmal konfrontiert zu sein, dass wir letztendlich die Arbeit der deutschen Behörden machen müssen.
Kassel: Was Sie immer gemacht haben, sowohl bei diesen Gesprächen in Rumänien als auch bei den deutschsprachigen in Mecklenburg-Vorpommern, ist eine Technik, die - ich sag's mal ganz ehrlich - die mich am Anfang des Films ein bisschen irritiert hat. Man muss sich als Zuschauer daran gewöhnen. Alle Gespräche, die man im Film sieht, beginnen damit, dass die jeweiligen Gesprächspartner sich Dinge anhören, die sie schon gesagt haben. Das heißt, Sie haben die mit Aufzeichnungen konfrontiert von eigenen Aussagen, da passiert oft gar nicht so viel. Viele nicken nur und sagen, so war's, manche ergänzen das. Das ist eine etwas merkwürdige Technik gerade auch für einen Film. Warum haben Sie das so gemacht?
Scheffner: Die Irritation, die am Anfang entsteht, die Sie beschreiben, das kann ich gut nachvollziehen, aber ich finde die sehr interessant und produktiv eigentlich, weil sich ganz am Anfang sozusagen schon eine der Grundfragen des Films stellt, nämlich: Wer spricht da eigentlich oder wessen Stimme hören wir da eigentlich, wer erzählt eigentlich die Geschichte? Das, finde ich, ist eine ganz zentrale Frage, weil je nach dem, aus welcher Perspektive diese Geschichte erzählt wird, die Geschichte ganz anders beginnt, ganz anders endet und auch eine ganz andere politische Dimension entwickelt.
Wir wollten, dass die Menschen, mit denen wir sprechen, das höchste Maß an Kontrolle über das haben, was sie sagen. Wir wollten, dass eine Art von filmischem Raum entsteht, der zwischen uns hinter der Kamera, zwischen den Menschen vor der Kamera, aber letztendlich natürlich auch für die Menschen im Zuschauerraum eine Ebene entwickelt, indem wir das Gleiche tun, nämlich etwas zuhören, also dadurch auch die Machtverhältnisse, die in so einem Interview, in so einer Interviewsituation entstehen, zum Wanken bringen.
Kassel: Wir reden heute im Deutschlandradio Kultur mit Philip Scheffner, er ist der Regisseur des Films "Revision", in dem dem Tod von Grigore Velcu und Eudache Calderar nachgegangen wird. Jetzt haben wir - und ich finde zu Recht, weil Sie da auch in dem Film einen Schwerpunkt setzen - sehr viel über die beiden Toten und ihre Angehörigen gesprochen, jetzt reden wir mal über die Deutschen, mit denen Sie geredet haben für den Film und mit denen Sie versucht haben zu klären, was und wie wirklich passiert ist. Wie offen waren die denn, als Sie ankamen? Man muss dazu sagen, mit den beiden Jägern, die geschossen haben an diesem Morgen, haben Sie nicht gesprochen. Der eine wollte gar nicht mit Ihnen kommunizieren, der andere hat seinen Rechtsanwalt vorgeschickt immerhin.
Scheffner: Immerhin, ja, finde ich auch.
Kassel: Aber gut, er konnte dann immer bei den kritischen Fragen sagen, ich weiß es nicht, darüber habe ich mit meinem Mandanten nicht gesprochen. Aber wie viele habe ich denn in dem Film gesehen, wie viele haben Ihnen sonst noch abgesagt?
Scheffner: Abgesagt haben vor allem Leute, die es nicht ertragen haben, noch mal über das Ganze zu sprechen - das fand ich ganz interessant. Also es waren weniger jetzt offizielle Menschen, die uns abgesagt haben, sondern zum Beispiel Teile der örtlichen Bevölkerung, die damals auf dem Feld waren, die sehr schockiert von dem waren, was sie da gesehen haben im Feld, und die einfach gesagt haben, ich will darüber nicht noch mal reden, das verfolgt mich, das Bild dieser beiden Leichen im Feld und ich will's nicht noch mal erzählen.
Wir haben einen der Richter einmal angesprochen - es waren ja mehrere Richter an diesem zehnjährigen Prozess beteiligt -, der wollte nicht mit uns sprechen vor der Kamera. Er hat dann off camera mit uns gesprochen und uns dadurch auch so ein paar Informationen oder Hinweise gegeben. Aber ansonsten muss man sagen, haben uns wenig Leute abgesagt. Es war interessant, dass man - man macht einen Anruf und sagt, ja, wir machen einen Film zu einem Ereignis, das 20 Jahre her ist, und erstaunlicherweise konnten sich wirklich alle an dieses Ereignis erinnern.
Kassel: Was wir, glaube ich, noch gar nicht gesagt haben: Dieser Prozess endete mit einem Freispruch für die beiden Jäger.
Scheffner: Genau.
Kassel: Was das Ganze schon auch ist - es gibt ja minutenlange Sequenzen in dem Film, wo Sie zusammen mit Ihrem Kameramann nachstellen, wie wohl die Sichtverhältnisse waren an diesem Tag 1992 - was es ja auch ist, ist der Versuch rauszufinden, was ist wirklich passiert. Für mich - und vielleicht war das auch Ihre Absicht oder einfach Ihre Kenntnis - bleibt die Frage, war es nun tatsächlich ein Jagdunfall, aber am Ende unbeantwortet.
Scheffner: Ich glaube, wir können das nicht klären. Das Gericht und die Staatsanwaltschaft hat es zehn Jahre lang versucht und sind damit, mit dieser Art des Versuches einer Aufarbeitung komplett gescheitert, und ich glaube auch nicht, dass wir das leisten können. Aber das finde ich eher auch ganz interessant, weil man sagen kann, eben diese juristische Form oder kriminalistische Form der Aufarbeitung oder der Beweisführung ist gescheitert, und was kann denn nun eigentlich eine filmische Form als Ergänzung oder als andere Form des Umgangs damit leisten. Und das war auch mehr unser Schwerpunkt. Also es gibt viele Fragen im Film, die aufgeworfen werden, die wir auch tatsächlich nicht klären können. Ich weiß nicht, wer geschossen hat, es gibt Vermutungen, wer geschossen hat von den beiden Jägern, Vermutungen, die auch von Ermittlungsseite geteilt werden, aber eben nicht bewiesen werden konnten.
Kassel: Eine Frage, die Sie auch nicht beantworten können, muss ich - zumindest ist das ein Gefühl von mir - trotzdem stellen: In dem Film kommt in einem Fernsehbeitrag aus dem Jahr 1995 - im ZDF, glaube ich, war es - der Satz vor: Man stelle sich vor, es hätten nicht zwei Deutsche zwei Roma erschossen, sondern zwei Roma zwei Deutsche, dann wäre alles ganz anders abgelaufen. Wäre es?
Scheffner: Da bin ich mir absolut sicher, ja. Der erste Punkt wäre einfach, dass dann die Angehörigen der Opfer in Deutschland gelebt hätten, sie hätten damit mehr über dieses Verfahren erfahren, sie hätten damals eine Nebenklage machen können, die Druck ausgeübt hätte auf das Verfahren, sie hätten damals aufgrund des Wissens über dieses Verfahren eine Entschädigungsklage anstrengen können. All das hätte Druck aufgebaut und hätte auch vor allem ganz reale ökonomische Entschädigungen als Ergebnis gehabt sehr wahrscheinlich, nach den Aussagen, die wir kennen. All das ist ja nicht passiert.
Das heißt, es wurden zwei Menschen erschossen, deren Namen in der deutschen Presse nie genannt wurde, bis auf einen "Stern"-Artikel von 1994, glaube ich, und dem von Ihnen angesprochenen Fernsehbeitrag in "Kennzeichen D". Die Leute wurden bezeichnet als polnische Menschenhändler, als Schlepper, als Schleuser, also mit dem ganzen Vokabular, was Menschen eben nicht zu Menschen macht, sondern letztendlich die Opfer zu Tätern macht. Und das wäre, glaube ich, bei der Umdrehung dieser Situation schon sehr, sehr anders gewesen. Und es spiegelt natürlich auch eine gewisse politische Situation wider, eine Situation, wo Menschen keine Lobby haben und wo Menschen letztendlich verschwinden, sowohl aus der deutschen Geschichtsschreibung als auch ganz real, weil sie werden abgeschoben nach Rumänien und sind dann eben auch weg.
Kassel: Der Film "Revision" über den Tod von Grigore Velcu und Eudache Calderar ist auf der Berlinale noch mehrmals zu sehen, unter anderem morgen um 19 Uhr 30, am Freitagnachmittag und dann noch mal am Publikumstag, am Sonntag, und er kommt voraussichtlich im Spätsommer dann auch regulär ins Kino. Mit dem Regisseur des Films, Philip Scheffner, haben wir gesprochen. Herr Scheffner, vielen Dank!
Scheffner: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Philip Scheffner: Guten Tag!
Kassel: Damals, 1992, stand in den Zeitungen, die überhaupt darüber berichtet haben, so sinngemäß: Zwei tote Männer auf einem Feld - Jagdunfall! Wieso hat diese Meldung irgendwann Ihre Aufmerksamkeit erregt?
Scheffner: Die Aufmerksamkeit wurde bei uns auch verzögert erregt sozusagen, wir haben das erste Mal davon 1996 erfahren, also vier Jahre später. Bei einer Recherche für einen anderen Film hat uns ein Mitarbeiter, ein Soziologe, von der Forschungsstelle "Flucht und Migration" in Berlin, Helmut Dietrich, hat uns darüber erzählt, dass zwei Menschen in einem Feld erschossen wurden. Und ich glaube, was uns damals sehr bewegt hat, ist einfach erst mal dieses Bild, also ein großes Kornfeld, in dem zwei Männer liegen. Und das haben wir so mit uns rumgetragen seit 20 Jahren und haben immer wieder darüber nachgedacht, darüber mehr rauszufinden, zu recherchieren, sind ein bisschen zurückgeschreckt vor der wahrscheinlich sehr aufwendigen Recherche. Und irgendwann vor zwei Jahren haben dann Merle Kröger und ich gesagt, so, jetzt versuchen wir's einfach. Und daraus ist dann dieser Film entstanden.
Kassel: Ein großer Teil dieses Films lässt Menschen in Rumänien zu Wort kommen, die Familie der beiden toten Freunde. Die zu finden, war das dann am Ende wirklich, wie Sie gerade gesagt haben, so eine aufwendige Recherche?
Scheffner: Nein, das war das Überraschende, dass es überhaupt nicht aufwendig war, da wir ein Vorgespräch hatten mit dem Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Stralsund, der uns einzelne Informationen aus den immer noch existierenden Gerichtsakten gegeben hat und unter anderem eben auch die Namen und Adressen, damaligen Adressen, der Angehörigen in Rumänien. Und wir haben eigentlich in unserer Recherche nichts anderes gemacht, als einfach zu diesen Adressen zu fahren, und die lebten dort immer noch und waren natürlich sehr überrascht und auch schockiert nach 20 Jahren, dass da Filmemacher auftauchen und mit ihnen sprechen wollen, vor allem weil sie eben von dem Gerichtsverfahren damals keinerlei Kenntnis hatten.
Kassel: Das war das, was mich an dem Film auch sehr erstaunt hat: Sie haben den Menschen in Rumänien, Freunden, Familienangehörigen Dinge erzählt, die die noch nicht wussten, 20 Jahre oder in dem Fall 19 Jahre ungefähr nach diesem Geschehnis.
Scheffner: Nein, die wussten gar nichts. Das ist halt so ein bisschen unterschiedlich, weil die Angehörigen von einem der getöteten, von Grigore Velcu aus der Stadt Craiova, waren damals Asylbewerber im Asylbewerberheim Gelbensande bei Rostock, das heißt, sie waren in Deutschland, sie haben mitbekommen, dass ihr Vater an der Grenze erschossen wurde - Vater, Ehemann -, und sind dann mit der Leiche zurück nach Rumänien gegangen.
Das heißt, die haben gehört, dass da etwas passiert ist, zu diesem Zeitpunkt, was genau passiert ist, wusste keiner, haben dann aber über den weiteren Verlauf, über das zehn Jahre dauernde Verfahren und den letztendlichen Freispruch der Angeklagten nie etwas erfahren. Die andere Familie aus Alba Iulia, da ist nur der Vater/Ehemann nach Deutschland gegangen, die Familie selber ist in Rumänien geblieben, war nie in Deutschland. Bei denen war es so, dass die eigentlich auf den Anruf gewartet haben, dass ihr Vater gut angekommen ist in Deutschland, aber dann einen Anruf bekommen haben, dass sie doch bitte die Leiche am Flughafen Bukarest abholen sollten. Und seitdem haben sie nie wieder irgendeine Form von Informationen bekommen.
Kassel: Wie haben die auf die Informationen, die Sie ihnen geben konnten, reagiert?
Scheffner: Natürlich war es schockierend für sie teilweise auch, weil wir ihnen Informationen gegeben haben, die auch natürlich sehr schmerzlich waren, und auch für uns war es eine eigentlich absolut unerträgliche Situation, da hinzukommen nach 20 Jahren, da wir das ja auch nicht wussten - wir wussten ja nicht, dass sie nichts wissen sozusagen - und damit auf einmal konfrontiert zu sein, dass wir letztendlich die Arbeit der deutschen Behörden machen müssen.
Kassel: Was Sie immer gemacht haben, sowohl bei diesen Gesprächen in Rumänien als auch bei den deutschsprachigen in Mecklenburg-Vorpommern, ist eine Technik, die - ich sag's mal ganz ehrlich - die mich am Anfang des Films ein bisschen irritiert hat. Man muss sich als Zuschauer daran gewöhnen. Alle Gespräche, die man im Film sieht, beginnen damit, dass die jeweiligen Gesprächspartner sich Dinge anhören, die sie schon gesagt haben. Das heißt, Sie haben die mit Aufzeichnungen konfrontiert von eigenen Aussagen, da passiert oft gar nicht so viel. Viele nicken nur und sagen, so war's, manche ergänzen das. Das ist eine etwas merkwürdige Technik gerade auch für einen Film. Warum haben Sie das so gemacht?
Scheffner: Die Irritation, die am Anfang entsteht, die Sie beschreiben, das kann ich gut nachvollziehen, aber ich finde die sehr interessant und produktiv eigentlich, weil sich ganz am Anfang sozusagen schon eine der Grundfragen des Films stellt, nämlich: Wer spricht da eigentlich oder wessen Stimme hören wir da eigentlich, wer erzählt eigentlich die Geschichte? Das, finde ich, ist eine ganz zentrale Frage, weil je nach dem, aus welcher Perspektive diese Geschichte erzählt wird, die Geschichte ganz anders beginnt, ganz anders endet und auch eine ganz andere politische Dimension entwickelt.
Wir wollten, dass die Menschen, mit denen wir sprechen, das höchste Maß an Kontrolle über das haben, was sie sagen. Wir wollten, dass eine Art von filmischem Raum entsteht, der zwischen uns hinter der Kamera, zwischen den Menschen vor der Kamera, aber letztendlich natürlich auch für die Menschen im Zuschauerraum eine Ebene entwickelt, indem wir das Gleiche tun, nämlich etwas zuhören, also dadurch auch die Machtverhältnisse, die in so einem Interview, in so einer Interviewsituation entstehen, zum Wanken bringen.
Kassel: Wir reden heute im Deutschlandradio Kultur mit Philip Scheffner, er ist der Regisseur des Films "Revision", in dem dem Tod von Grigore Velcu und Eudache Calderar nachgegangen wird. Jetzt haben wir - und ich finde zu Recht, weil Sie da auch in dem Film einen Schwerpunkt setzen - sehr viel über die beiden Toten und ihre Angehörigen gesprochen, jetzt reden wir mal über die Deutschen, mit denen Sie geredet haben für den Film und mit denen Sie versucht haben zu klären, was und wie wirklich passiert ist. Wie offen waren die denn, als Sie ankamen? Man muss dazu sagen, mit den beiden Jägern, die geschossen haben an diesem Morgen, haben Sie nicht gesprochen. Der eine wollte gar nicht mit Ihnen kommunizieren, der andere hat seinen Rechtsanwalt vorgeschickt immerhin.
Scheffner: Immerhin, ja, finde ich auch.
Kassel: Aber gut, er konnte dann immer bei den kritischen Fragen sagen, ich weiß es nicht, darüber habe ich mit meinem Mandanten nicht gesprochen. Aber wie viele habe ich denn in dem Film gesehen, wie viele haben Ihnen sonst noch abgesagt?
Scheffner: Abgesagt haben vor allem Leute, die es nicht ertragen haben, noch mal über das Ganze zu sprechen - das fand ich ganz interessant. Also es waren weniger jetzt offizielle Menschen, die uns abgesagt haben, sondern zum Beispiel Teile der örtlichen Bevölkerung, die damals auf dem Feld waren, die sehr schockiert von dem waren, was sie da gesehen haben im Feld, und die einfach gesagt haben, ich will darüber nicht noch mal reden, das verfolgt mich, das Bild dieser beiden Leichen im Feld und ich will's nicht noch mal erzählen.
Wir haben einen der Richter einmal angesprochen - es waren ja mehrere Richter an diesem zehnjährigen Prozess beteiligt -, der wollte nicht mit uns sprechen vor der Kamera. Er hat dann off camera mit uns gesprochen und uns dadurch auch so ein paar Informationen oder Hinweise gegeben. Aber ansonsten muss man sagen, haben uns wenig Leute abgesagt. Es war interessant, dass man - man macht einen Anruf und sagt, ja, wir machen einen Film zu einem Ereignis, das 20 Jahre her ist, und erstaunlicherweise konnten sich wirklich alle an dieses Ereignis erinnern.
Kassel: Was wir, glaube ich, noch gar nicht gesagt haben: Dieser Prozess endete mit einem Freispruch für die beiden Jäger.
Scheffner: Genau.
Kassel: Was das Ganze schon auch ist - es gibt ja minutenlange Sequenzen in dem Film, wo Sie zusammen mit Ihrem Kameramann nachstellen, wie wohl die Sichtverhältnisse waren an diesem Tag 1992 - was es ja auch ist, ist der Versuch rauszufinden, was ist wirklich passiert. Für mich - und vielleicht war das auch Ihre Absicht oder einfach Ihre Kenntnis - bleibt die Frage, war es nun tatsächlich ein Jagdunfall, aber am Ende unbeantwortet.
Scheffner: Ich glaube, wir können das nicht klären. Das Gericht und die Staatsanwaltschaft hat es zehn Jahre lang versucht und sind damit, mit dieser Art des Versuches einer Aufarbeitung komplett gescheitert, und ich glaube auch nicht, dass wir das leisten können. Aber das finde ich eher auch ganz interessant, weil man sagen kann, eben diese juristische Form oder kriminalistische Form der Aufarbeitung oder der Beweisführung ist gescheitert, und was kann denn nun eigentlich eine filmische Form als Ergänzung oder als andere Form des Umgangs damit leisten. Und das war auch mehr unser Schwerpunkt. Also es gibt viele Fragen im Film, die aufgeworfen werden, die wir auch tatsächlich nicht klären können. Ich weiß nicht, wer geschossen hat, es gibt Vermutungen, wer geschossen hat von den beiden Jägern, Vermutungen, die auch von Ermittlungsseite geteilt werden, aber eben nicht bewiesen werden konnten.
Kassel: Eine Frage, die Sie auch nicht beantworten können, muss ich - zumindest ist das ein Gefühl von mir - trotzdem stellen: In dem Film kommt in einem Fernsehbeitrag aus dem Jahr 1995 - im ZDF, glaube ich, war es - der Satz vor: Man stelle sich vor, es hätten nicht zwei Deutsche zwei Roma erschossen, sondern zwei Roma zwei Deutsche, dann wäre alles ganz anders abgelaufen. Wäre es?
Scheffner: Da bin ich mir absolut sicher, ja. Der erste Punkt wäre einfach, dass dann die Angehörigen der Opfer in Deutschland gelebt hätten, sie hätten damit mehr über dieses Verfahren erfahren, sie hätten damals eine Nebenklage machen können, die Druck ausgeübt hätte auf das Verfahren, sie hätten damals aufgrund des Wissens über dieses Verfahren eine Entschädigungsklage anstrengen können. All das hätte Druck aufgebaut und hätte auch vor allem ganz reale ökonomische Entschädigungen als Ergebnis gehabt sehr wahrscheinlich, nach den Aussagen, die wir kennen. All das ist ja nicht passiert.
Das heißt, es wurden zwei Menschen erschossen, deren Namen in der deutschen Presse nie genannt wurde, bis auf einen "Stern"-Artikel von 1994, glaube ich, und dem von Ihnen angesprochenen Fernsehbeitrag in "Kennzeichen D". Die Leute wurden bezeichnet als polnische Menschenhändler, als Schlepper, als Schleuser, also mit dem ganzen Vokabular, was Menschen eben nicht zu Menschen macht, sondern letztendlich die Opfer zu Tätern macht. Und das wäre, glaube ich, bei der Umdrehung dieser Situation schon sehr, sehr anders gewesen. Und es spiegelt natürlich auch eine gewisse politische Situation wider, eine Situation, wo Menschen keine Lobby haben und wo Menschen letztendlich verschwinden, sowohl aus der deutschen Geschichtsschreibung als auch ganz real, weil sie werden abgeschoben nach Rumänien und sind dann eben auch weg.
Kassel: Der Film "Revision" über den Tod von Grigore Velcu und Eudache Calderar ist auf der Berlinale noch mehrmals zu sehen, unter anderem morgen um 19 Uhr 30, am Freitagnachmittag und dann noch mal am Publikumstag, am Sonntag, und er kommt voraussichtlich im Spätsommer dann auch regulär ins Kino. Mit dem Regisseur des Films, Philip Scheffner, haben wir gesprochen. Herr Scheffner, vielen Dank!
Scheffner: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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