Regisseur Xavier Dolan

"Mütter inspirieren mich einfach"

Der kanadische Regisseur Xavier Dolan beim Film-Festival in Cannes, Mai 2014
Der kanadische Regisseur Xavier Dolan beim Film-Festival in Cannes, Mai 2014 © AFP
Moderation: Susanne Burg |
Er ist erst 25 Jahre alt, war in Cannes und Venedig eingeladen, gilt als Regiewunderkind - der kanadische Regisseur Xavier Dolan. Doch für das Gerede über sein Alter und sein Talent könne er sich nichts kaufen, sagt er selbst. Am Donnerstag startet sein Film "Mommy".
Susanne Burg: Xavier Dolan ist ein Phänomen. Er ist erst 25 Jahre alt, hat fünf Filme gedreht und alle liefen auf internationalen Festivals – entweder in Cannes oder in Venedig, darunter auch seine beiden letzten Filme "Laurence Anyways" und "Tom at the Farm".
Am Donnerstag kommt nun sein neuer Film bei uns in die Kinos: "Mommy" – ein Mutter-Sohn-Drama um die resolute Diane und ihren 15-jährigen Sohn Steve, der seine Mutter mit seinen extremen Wut- und Gewaltausbrüchen geradezu in den Wahnsinn treibt. Es ist ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis, das der franko-kanadische Regisseur so glaubwürdig, brutal und gleichzeitig lustig und liebevoll auf die Leinwand bannt, dass man das Gefühl hat, den beiden in ihrem kanadischen Haus förmlich beizuwohnen.
Ich habe Xavier Dolan zum Interview getroffen und ihn zunächst auf seinen Debütfilm angesprochen – auf "I killed my Mother". Er war nämlich gerade mal 17 Jahre alt, als er das Drehbuch geschrieben und 20 Jahre alt, als der Film herauskam. Ich wollte wissen: Schauen Sie ihn sich heute anders an als vor fünf Jahren?
Xavier Dolan: Oh ja, den Film sehe ich heute doch sehr anders. Er ist voller Fehler. Ich finde ihn streckenweise sogar richtig hässlich. Ich meine, ich weiß, da gibt es ein paar gute emotionale Szenen, er hat den Leuten auch gefallen, das merke ich heute noch an Reaktionen auf Twitter, die ich für den Film bekomme, dass es Zuschauer gab, die den Film mochten. Aber ich würde heute wirklich vieles ganz anders machen. Von all den Filmen, die ich gemacht habe, ist das der Film, auf den ich wohl den strengsten Blick werfe, im Nachhinein. Das bezieht sich nicht wirklich auf alle meine Filme. Beispielsweise "Laurence Anyways" oder "Tom at the Farm", das sind Filme, die würde ich heute noch genauso machen, komischerweise.
Burg: Warum merkwürdigerweise? Es war ja Ihr Debütfilm. Da könnte man ja auch sagen, wow, was ich mit 20 schon alles geschafft habe!
Dolan: Na ja, ich sehe halt in erster Linie die Fehler. Ich sehe halt, was ich falsch gemacht habe, was ich meiner Meinung falsch an diesem Film ist. Aber andererseits, ich könnte es nicht ändern, ich könnte diese Filme nicht anders machen. Ich sehe natürlich die Fortschritte, die ich gemacht habe. Die Fortschritte als Künstler, aber vor allen Dingen eben die Fortschritte als Mensch, in meiner Entwicklung, wie ich heutzutage Geschichten erzähle, wie ich Charakter entwickle. Und wenn ich einen Film wie "Mommy" sehe oder "I killed my Mother", dann ist das ein ganz anderer Filmemacher, der den gemacht hat, nur, es ist der gleiche Mensch, der dafür verantwortlich ist, der sich aber wirklich entwickelt hat und der eben auch dazugelernt hat.
Burg: Und in beiden Filmen geht es ja auch um einen Mutter-Sohn-Verhältnis. Was hat Sie daran interessiert, nach fünf Jahren sich des Themas noch mal anzunehmen, Mutter-Sohn-Verhältnis?
Dolan: Es geht in meinen Filmen immer um Mütter und Söhne, das ist ein Thema, was mich wirklich nicht verlassen hat, was in all meinen Filmen eine Rolle spielt, auch in "Tom at the Farm" beispielsweise oder in "Laurence Anyways". Und "Tom at the Farm" hätte ich nicht gemacht, ich hätte dieses Stück nicht adaptiert fürs Kino, wenn da nicht diese Mutter gewesen wäre. Mütter inspirieren mich einfach, auch im Kern von "Mommy", meinem neuen Film, ist diese Mutter.
Für mich ist da auch noch kein Ende in Sicht, mich mit diesem Thema zu befassen, weil Mütter stehen einfach für so viel, da kann man so viel mit machen, sie sind das Fundament für so viele Dinge, das kann man so viel anreichern mit Details. Sie haben so viele Qualitäten, so viele Fehler, sie sind auch Opfer ihrer Träume, ihrer Wünsche, ihrer Lust.
Verteidigung der Mutter
Also, ich sehe da so einen unglaublichen Reichtum in einer Mutterfigur, dass ich da noch sehr viele Möglichkeiten auch für mich in der Zukunft sehe. Aber die fünf Jahre, die zwischen meinem ersten Film, "I killed my Mother" und "Mommy" liegen, die haben doch zwei ganz unterschiedliche Resultate produziert. Für mich sind die beiden Filme wie Tag und Nacht.
Also, "Mommy", das ist jetzt wirklich eine Art existenzielles Drama geworden über einen Teenager in der Krise, und wenn ich in dem ersten Film, "I killed my Mother", so noch auf der Seite des Sohnes war, dann verteidige ich diesmal im neuen Film eigentlich eher die Mutter.
Burg: Wenn man gar nicht danach guckt, wie Sie wen verteidigen, sondern einfach diese Beziehung, es ist in vielen Ihrer Filme eine sehr symbiotische Beziehung, eine absolute gegenseitige Abhängigkeit. Was interessiert Sie daran?
Dolan: Nun, in meinen Filmen erzähle ich immer Liebesgeschichten. Es sind immer Filme über Beziehungen, die haben einen Anfang, die haben ein Ende. Das ermöglicht mir einfach, eine Story zu erzählen, narrative Strukturen zu verwenden. Es geht dort um Metaphern, es geht um das, was zwei Menschen miteinander durchmachen, welche Probleme sie miteinander auskämpfen, und am Ende kommt es immer zu einer Klimax, es kommt immer zu einem Höhepunkt, ganz egal, ob nun die Geschichte gut oder weniger gut ausgeht, ob es ein Happy-End gibt oder nicht – am Ende gehen die Figuren dann getrennte Wege, und das ist, finde ich, eine sehr kompatible Struktur, um eine Kinogeschichte zu erzählen in 90 Minuten, manchmal auch ein bisschen länger. In diesem Fall waren es zweieinhalb Stunden.
Natürlich könnte ich auch einen Film über ein glückliches Paar machen, was sich abends das Essen in der Mikrowelle zubereitet und glücklich auf der Couch sitzt, aber das finde ich weit weniger interessant als den Kampf um Liebe und den Kampf um Freiheit zu erzählen mit einer großen Leidenschaft, in der eben Liebe und Freundschaft verhandelt werden. Ich finde das letztendlich auch viel poetischer, viel intensiver, und das hat viel mehr mit Kino zu tun.
Burg: Es scheint bei Ihnen in den Filmen auch immer bei der Liebe ein sehr starkes Element der Gewalt zu geben. Woher kommt das?
Dolan: Ja, Gewalt ist ein Thema. Ich habe sehr viel Gewalt in mir, ich war ein sehr gewalttätiges Kind. Ohne Grund zu haben, war ich in der Schule sehr gewalttätig, habe diese Gewalt irgendwie ausgelebt, und dann habe ich es später einfach gelernt, das in andere Bahnen zu lenken und diese Gewalt mehr so umzulenken, dass ich Kinofilme gedreht habe.
Woher diese Gewalt kommt? Ich weiß es nicht. Das heißt, ich habe schon eine gewisse Idee, aber dafür eignet sich dieses Gespräch nicht, um das weiter zu vertiefen. Aber in mir steckt eben sehr viel physische und verbale Gewalt, die ich immer versuche, irgendwie auszudrücken. Es geht mir immer um Freiheit, um Authentizität, um die Akzeptanz durch die Gesellschaft für ein gewisses Anderssein. Und das drücke ich jetzt mit Kinomitteln aus.
Burg: Es gibt keinen Artikel über Sie, in dem Sie nicht als Wunderkind beschrieben werden. Empfinden Sie das als Kompliment?
Dolan: Sicher ist das ein Kompliment, aber was soll ich mit diesem Kompliment anfangen? Es steigert nicht meine Kreativität, ich kann damit nicht weiter umgehen. Natürlich, wenn ich Artikel lese, in denen schöne Worte fallen, in denen ich gelobt werde, dann kann ich mich darüber freuen, aber ich kann nun wirklich gar nichts damit anfangen. Es bereichert mich in keiner Weise.
Und das Zweite ist, ich werde immer wieder auf mein Alter angesprochen. Man sagt immer, du bist erst 25, und dann sage ich, ja, und was meinst du damit, was willst du damit sagen? Im nächsten Jahr bin ich 26, und dann sagst du mir, du bist erst 26! Das hilft mir nicht. Ich werde dadurch weder ein besserer Mensch noch ein besserer Künstler, und all diese Adjektive und Beschreibungen, die sehr schmeichelhaft sein können, muss ich auch wieder ganz schnell vergessen, um einfach weiterzukommen.
Burg: Inwiefern steigt aber dadurch vielleicht auch der Druck? Denn auch Ihre Filme liefen alle bei wichtigen Festivals, in Venedig oder Cannes.
Filmkritiken als Nachhilfe
Dolan: Nein, ich spüre da keinen Druck. Ich denke nicht an Cannes, wenn ich einen Film drehe, oder an Venedig, und denke mir: "Oh, sie haben meinen letzten Film in Cannes geliebt, sie haben meinen letzten Film in Venedig geliebt. Schaffe ich das noch mal? Wow!" Nein, so denke ich einfach nicht. Cannes spielt keine Rolle. Ich muss mir treu bleiben, und natürlich lese ich Kritiken zu meinen Arbeiten, und es gibt interessante Punkte, und da finde ich auch etwas über mich heraus, über meine Arbeit heraus. Und wenn ich dann einige Monate später wieder am Set bin und einen neuen Film drehe, versuche ich, gewisse Fehler einfach nicht zu wiederholen.
Und dann, wenn der Film abgedreht ist, drücke ich einfach die Daumen, dass er funktioniert. Aber einen Druck – nein, einen Druck spüre ich nicht wirklich. Es ist so, dass vielleicht in der Postproduktion, vielleicht, wenn ich dann in Cannes angekommen bin, vielleicht entsteht dann so eine Art von gewissem Druck, aber während ich einen Film drehe oder während ich in der kreativen Phase bin, denke ich an 1000 andere Dinge, bloß nicht eben an so was, wie der Film später aufgenommen wird. Ich vergesse das dann alles. Ich vergesse, dass ich 25 Jahre alt bin, ich vergesse, dass man mich Wunderkind nennt. Ich darf da überhaupt nicht drüber nachdenken, weil wenn ich das täte, dann würde ich wirklich schlechte Filme drehen.
Burg: Da wir gerade von Labels sprechen – was ist mit dem Label "queer cinema"? Andere Filmemacher würden bestimmt in diese Kategorie gesteckt werden. Wie stehen Sie zu diesem Label?
Dolan: Ich mag überhaupt keine Label, ich mag überhaupt keine Etiketten, ich mag keine Schubladen. Damit kann ich nichts anfangen. Was würde man denn sagen – würden Sie von einem schwarzen Kino reden, oder bei einem Film der Coen-Brüder von einem guten jüdischen Kino?
Burg: Aber es gab das Label "Blaxploitation".
Dolan: Ja gut, diesen Begriff hat es gegeben, aber ich halte ihn letztendlich für anti-progressiv, er bringt einen nicht weiter. Es gibt Leute, die haben wirklich hart gekämpft dafür, dass heute junge Filmemacher wie ich ihren Platz finden, in der Kunst, im Showbusiness. Und da geht es nicht darum, welcher Sexualität ich angehöre, was ich für eine sexuelle Identität habe. Das ist überhaupt nicht die Frage.
Natürlich ist es so, dass ich in meinem ersten Film, da geht es auch um einen Jungen, der sich outet. Aber das macht vielleicht ein Prozent, höchstens zehn Prozent dieses Films aus. Meistens geht es in diesem Film einfach um einen Jungen, um ein Kid, der ein Problem mit seiner Mutter hat, und der seiner Mutter davonläuft, weil er mit ihr nicht klarkommt. Das ist ein Film, da geht es um Liebe, da geht es um Beziehung, da geht es um Menschen.
Ja, ich bin schwul. Aber das hat nichts weiter zu sagen. Darum geht es letztendlich nicht. Ich stehe natürlich dazu, aber ich möchte einen Film für alle drehen. Ich möchte, dass jeder Zuschauer sich meine Filme anschaut, und ich möchte mich da nicht in eine gewisse Ecke stellen. Für mich ist queer culture, also schwule Kultur, einfach ein Teil der Kultur, und ich möchte nicht in ein schwules Restaurant gehen, um dort zu essen, ich möchte nicht in eine schwule Bar gehen, um dort zu tanzen.
Ich bin manchmal gezwungen, in eine schwule Bar zu gehen, um zu tanzen, weil wenn ich in eine normale Bar gehe mit einem Jungen und anfange, ihn zu küssen, dann bin ich dort vielleicht nicht willkommen. Aber das ist ein anderes Thema, das würde zu einem anderen Gespräch führen. Wie gesagt, ich möchte nicht aufgrund meiner Sexualitätdefiniert werden, weil mir geht es um Liebe, mir geht es um Kunst, mir geht es darum, Leute zu porträtieren, die manchmal am Rand der Gesellschaft stehen, die manchmal Künstler sind, die manchmal gewalttätige Kids sind. Aber, wie gesagt, ich kann mit solchen Preisen nichts anfangen, die nur darauf abzielen, mich in ein gewisses Etikett zu verwandeln oder mir ein Label überzustülpen.
Burg: Thank you very much! Vielen Dank!
Dolan: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.