Regisseurin Audrey Diwan über "Das Ereignis"
Die Schauspielerin Anamaria Vartolome spielt die Hauptrolle in dem Film "Das Ereignis". Die Protagonistin Anne ist ungewollt schwanger und muss einen Ausweg finden. © © 2021 PROKINO Filmverleih GmbH
Die Einsamkeit einer ungewollt Schwangeren vor 1968
10:46 Minuten
Audrey Diwan hat mit mit ihrem Film über eine ungewollte Schwangerschaft und eine illegale Abtreibung im Frankreich der 1960er-Jahre den Goldenen Löwen gewonnen. Sie betont, die Erzählung von Annie Ernaux sei an vielen Orten der Welt immer noch aktuell.
In ihrer Erzählung „Das Ereignis“ hat die französische Autorin Annie Ernaux eine sehr persönliche Geschichte verarbeitet. Mit Anfang 20 wurde sie in den 1960er Jahren ungewollt schwanger und trieb heimlich ab. Die Regisseurin Audrey Diwan hat aus dem Buch einen Spielfilm gemacht und dafür beim Filmfestival in Venedig im letzten Jahr den Goldenen Löwen gewonnen. Der Film erzählt von Anne, die kurz vor dem Abschluss ihres Literaturstudiums steht. Die Zuschauer begleiten die junge Frau beim Kampf um eine Lösung, gegen die Zeit und für ihre Selbstbestimmung. Im Gespräch erzählte Regisseurin Audrey Diwan von ihrer ersten Begegnung mit Ernaux‘s Buch.
Audrey Diwan: Da war vor allem ein ganz besonderer Moment. Ich habe viele Bücher von Annie Ernaux gelesen, aber "Das Ereignis" erst sehr spät und kurz nachdem ich eine Abtreibung hinter mir hatte. Ich wollte etwas über dieses Thema lesen und jemand empfahl mir das Buch.
Ich bemerkte, dass ich sehr wenig über illegale Abtreibungen wusste. Und mir wurde klar, was für ein Glück ich hatte und welch ein riesiger Unterschied medizinisch zwischen einer legalen und einer illegalen Abtreibung besteht. Außerdem war ich wütend, als ich mir vorstellte, dass man als Frau gezwungen war, einen solchen Weg gehen zu müssen.
Noch etwas anderes interessierte mich an dem Buch: Es war das Verhältnis zur Lust, wie Annie Ernaux über die sexuelle Lust junger Frauen schreibt, aber auch wie sie davon schreibt, wie groß der Wunsch der jungen Frauen nach Bildung ist. Und mir gefällt an diesem Buch, dass es einen Weg zur Freiheit aufzeigt.
Abtreibungen und der soziale Kontext
Susanne Burg: Das Buch spielt in den frühen 1960er-Jahren. Annie Ernaux beschreibt viel im Buch, auch was die illegalen Abtreibungen angeht. Sie waren für den Film im Kontakt mit Annie Ernaux: Gab es zusätzliche Informationen, die sie beigesteuert hat?
Diwan: Ich habe ihr anfangs meine filmische Adaption vorgestellt und gesagt 'Ich will, dass man eine Erfahrung durchlebt, etwas, das den Körper einbezieht'. Ich wollte sicherstellen, dass wir uns über die Grundidee dieser Verfilmung einig sind.
Danach fragte ich sie nach der Bedeutung der Dinge, die im Off geschehen, die nicht im Buch stehen. Wir haben dann viel über den sozialen Kontext gesprochen, über die Angst und welche Rolle die Angst bei den illegalen Abtreibungen spielt; über das Verhältnis von Anne zu anderen jungen Frauen und ihren Eltern und Scham – diese Scham, die dazu führt, dass man nicht darüber redet, die das Schweigen provoziert.
Burg: Den sozialen Kontext schaffen Sie im Film durch die Interaktion von Ihrer Protagonistin Anne mit ihrem sozialen Umkreis. Sie zeigen Männer, darunter auch die Ärzte, die nicht hilfreich sind. Ein Studienfreund, dem Anne sich anvertrauen will, versucht, Sex mit ihr zu haben. Auch ihre engen Freundinnen trauen sich nicht wirklich, ihr zu helfen. Wie sind Sie vorgegangen, um diesen sozialen Kontext mit Hilfe der Figuren zu schaffen?
Diwan: Für mich besteht dieser soziale Kontext vor allem im Intimleben. Wenn ich sage, die Gesellschaft ist gegen die Abtreibung, dann ist das theoretisch. Wenn ich es darstelle und in Bezug auf die anderen Menschen zeige, dann kann man es nachempfinden. Die ganze Erfahrung des Films besteht darin, aus dieser theoretischen Blase auszubrechen und diesen Moment zu erleben, um auch körperlich zu empfinden, was diese Einsamkeit bedeutet.
Dann gibt es Dinge, die mich interessierten, die auch im Buch waren: Wie der junge Mann, der versucht mit ihr zu schlafen, nachdem er erfahren hat, dass sie schwanger ist. Er ist am Ende derjenige, der ihr hilft.
Als ich darüber nachdachte, fand ich, dass es sich um genau dieselben Prinzipien handelt wie bei der Résistance während des Krieges: Alle haben Angst, sehr wenige Menschen sind Helden – aber einige lehnen sich gegen das Gesetz auf und gehen Risiken ein.
Jean, der junge Mann, ist die Figur, die sich zusammen mit meiner Filmheldin am meisten verändert. Es gibt zwei Ärzte. Einer ist unangenehm, der andere traut sich nicht, ihr zu helfen, aber er versteht, worum es geht. Ich wollte mit all diesen verschiedenen Aspekten der Wirklichkeit fair umgehen.
Ein Satz wie ein Horrorfilm
Burg: Diese Realität beinhaltet ja eben auch, dass Anne versucht, andere, illegale Lösungen zu finden. Einige davon sind ziemlich brutal. Wie sehr sollte das Publikum diese Brutalität zu spüren bekommen und wo zogen Sie die Grenze des optisch Zumutbaren?
Diwan: So habe ich mir die Frage nicht gestellt. Ich möchte den Blick dieser jungen Frau einnehmen und sage mir: ich zeige, was sie sieht. So weiß ich, dass es Dinge gibt, die ich nicht sehen möchte, die ich aber dennoch sehen muss. Es gab für diese verschiedenen Schlüsselszenen im Film unterschiedliche Längen. Zu kurz sind sie zu theoretisch und zu lang wirken sie nur als Provokation. Daher versuchte ich wahrhaftig zu bleiben. Das war meine Absicht.
Burg: Sie sprechen von der Dauer einer Einstellung. Nun spielt Zeit auch bei einer Schwangerschaft und einem Schwangerschaftsabbruch eine wichtige Rolle. Sie spielen im Film mit der Zeit, den Schwangerschaftswochen. Wie wichtig war das beim Strukturieren des Films?
Diwan: Es gibt einen Satz im Buch, der mich auf diese Idee brachte. Annie Ernaux schreibt: „Die Zeit hatte aufgehört, eine Aufeinanderfolge von Tagen zu sein, die man ausfüllen musste… In mir wuchs langsam etwas Unförmiges heran.“
Für mich ist dieser Satz ebenso ein Thriller wie ein Horrorfilm. Es verbindet den Körper mit der Zeit und der Spannung. Das wollte ich darstellen und auch, dass man dieses Verhältnis zur Zeit spürt, so wie sie Annie Ernaux beschreibt: wie eine Zeit, die den Körper verändert.
Das Schwingen des Augenblicks
Burg: Wir sprachen schon darüber: Der Film spielt 1963 in Frankreich und es gibt Bezüge zu der Ära, aber es ist alles andere als ein Historienfilm. Wie haben Sie die Balance austariert, dass er in einer historischen Epoche verankert ist und gleichzeitig eine gewisse visuelle Zeitlosigkeit hat? Und warum die Entscheidung für diese Art der Darstellung?
Diwan: Ich wollte niemals eine Realität erschaffen, die bewusst anachronistisch ist, aber ich wollte auch nicht die 60er-Jahre als nostalgische Ära der Schönheit wiedererschaffen. Ich überlegte: Wie wäre es, wenn man sich Schritt für Schritt innerhalb der 60er-Jahre so fortbewegte, als würden sie heute stattfinden. Also die Art und Weise, wie man den Körper betrachtet, die Farben, die Farbkalibrierung.
Es geht um das Schwingen des Augenblicks – eine Rekonstruktion hingegen erschafft nur eine Vergangenheit. Ich dachte daran, dass die Realität dieser jungen Frauen im Frankreich der 1960er-Jahre die alltägliche Realität vieler junger Frauen an verschiedenen Orten der Welt heute ist.
Daher wollte ich diese Brücke bauen, damit man die Handlung des Films nicht wie etwas Gestriges empfindet, sondern als etwas, das leider auch in der heutigen Zeit noch aktuell bleibt.
Burg: Es gibt diese Zeitlosigkeit und gleichzeitig sind es historisch die Jahre vor der 68er-Bewegung, also auch vor der sexuellen Befreiung. Wie wichtig war es Ihnen, einen Blick auf den Anfang der 60er-Jahre zu werfen, um vielleicht auch besser die folgende 68er-Bewegung zu verstehen?
Diwan: Ich dachte wirklich darüber nach, wie frustriert die Protagonisten sind. Ich fragte mich, was es bedeutet, 20 Jahre alt zu sein, es ist Frühling, die Sonne scheint und die Lust ist einfach präsent. Man tanzt, man kommt sich sozial näher, aber man darf nichts machen. Und da spielt das Verbotene eine Rolle. Das ist eine faszinierende Epoche, weil die Lust so präsent ist und weil sie mit der Frustration spielt.
Die Kamera im Rücken
Burg: Die Kameraarbeit ist in diesem Zusammenhang außerordentlich wichtig, denn wir sind die ganze Zeit bei Anne dabei, wir fühlen ihre Anspannung, den Druck und auch ihre Sehnsucht nach Lust und Freiheit. Wie haben Sie das mit Ihrem Kameramann Laurent Tangy erarbeitet?
Diwan: Laurent Tangy, mein Chefkameramann, ist einer meiner besten Freunde, das schafft schon eine große Nähe. Zuerst bat ich ihn, gemeinsam mit der Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei eine Choreographie zu entwickeln, als wären sie eins. Ich wollte die Kamera nicht spüren.
Wir fingen mit Bewegungen an, die eher an Tanzelemente erinnerten. Danach arbeiteten wir lange daran, wie man diese Einsamkeit in Bilder übersetzen kann. Zu Beginn arbeiten wir mit etwas weiteren Einstellungen. Anamaria ist inmitten der Anderen. Und langsam, wenn sie sich mehr in Richtung des Unbekannten bewegt, sitzt ihr die Kamera im Rücken. Sie weiß nicht, was sich hinter ihr befindet. So erlebt man diese Einsamkeit mit.
Je länger die Geschichte andauert, desto näher kommen wir ihr und sie ist im Bildrahmen gefangen. Das wirkt dann wie ein Gefängnis. Wir wollten alles, was man innerhalb dieses Bildrahmens sieht, als narratives Stilmittel einsetzen.
Vorführung für Annie Ernaux
Burg: Der Film ist nun in der Welt. Er hat in Venedig den Goldenen Löwen gewonnen und viele gute Kritiken bekommen. Wie wichtig war Ihnen die Meinung von Annie Ernaux?
Diwan: Es gibt zwei Vorführungen, an die ich mich immer erinnern werde: die für Annie Ernaux und die in Venedig. Bei Annie Ernaux hatte ich eine doppelte Verantwortung. Ich verfilme die Geschichte einer Autorin, die ich liebe. Ich verfilme aber auch die wahre Geschichte einer Frau, die das erlebt hat. Sie wird also mein Werk mit dem Blick des Erlebten hinterfragen, aber auch mit dem Blick der Schreibenden.
Mein größter Wunsch bestand darin, dass mein Film eine Weiterführung ihres Buches wird. Das war entscheidend. Sie guckte dann den Film und danach schaute sie mich an und meinte: Es stimmt.
Übersetzung von Jörg Taszman