"Für mich sind indische Frauen keine Opfer"
"Die Schneiderin der Träume" zeigt ein Indien jenseits von Bollywood. In dem durchaus politischen Film versucht ein Dienstmädchen, das indische Kastensystem zu überwinden. Liebe sei in Indien ein Klassenkampf, sagt die Regisseurin Rohena Gera.
Patrick Wellinski: Was war der Ursprung ihres Filmprojektes?
Rohena Gera: Der Ursprung des Films liegt in meiner Kindheit. Ich bin in einem Haushalt mit Dienstmädchen aufgewachsen. Als Kind habe ich das zwar nie hinterfragt, wusste aber instinktiv, dass etwas falsch war an der Art und Weise, wie wir gelebt haben. Aber ich wusste noch nicht, was ich dagegen machen kann. Selbst bei mir zu Hause gab es ein Klassensystem. Als Kind versteht man das vielleicht nicht auf Anhieb. Aber man spürt es. Dass ich für "Die Schneiderin der Träume" auf diese Erfahrungen zurückgegriffen habe, lag auch daran, dass ich meinen Debütfilm als Liebesgeschichte konzipieren wollte. Liebe soll das Klassendenken überwinden. Meine Hauptfiguren stehen damit gleichberechtigt nebeneinander. Wenn Sie jemanden lieben, sind sie plötzlich fähig, auch den Standpunkt des Gegenübers einzunehmen. Das war mein Ziel. Und ausgelöst wurde es durch meine Kindheitserfahrungen in einer Welt, die ich in diesem kleinen Apartment in meinem Film überwinden wollte.
Wellinski: Ratna heißt diese Hausfrau. Aber wir lernen Sie nicht nur in ihrer Funktion kennen, sondern als strebsame junge Frau mit Träumen. Sie kommt aus einem kleinen Dorf und möchte mit ihrer Schwester ein Geschäft eröffnen. Können Sie beschreiben, wie Sie Ratna konstruiert haben?
Gera: Für mich sind indische Frauen keine Opfer, obwohl sie so von der Mehrheit gesehen werden. Für mich sind das starke Menschen, die es schaffen, sich über die gesellschaftlichen Verhältnisse hinwegzusetzen. Sie sind immer aktiv. Indische Frauen verbringen nicht viel Zeit damit, sich ständig zu beschweren oder sich selbst zu bemitleiden. Das beeindruckt mich immer wieder. Und das war dann auch der wesentliche Charakterzug, den ich Ratna mitgeben wollte. Ihre Herkunft und ihre Träume sind Eigenschaften, die ich bei Freunden und ähnlichen Frauen beobachtet habe. Da ist wenig ausgedacht. Ich kenne solche Frauen wie Ratna. Selbst diese Idee, dass sie als Hausmädchen arbeitet, um das Studium der Schwester zu finanzieren anstatt sich selbst weiter zu bilden, auch das habe ich so mehrfach erlebt. Also Frauen, die wissen, dass für sie der Zug vielleicht abgefahren ist, aber die es dennoch aufopferungsvoll schaffen, die nächste Generation weiterzubilden. Viele dieser Details im Film sind direkt aus dem Leben gegriffen.
"Es war mir sehr wichtig, dass er kein Macho ist."
Wellinski: Es ist dennoch immer wieder hart mitanzusehen, wie gemein das Leben mit Ratnas Träumen umgeht. Sie will das Geschäft mit der Schwester öffnen, aber die Schwester wird verheiratet und darf das nicht mehr. Und dann verliebt sie sich in ihren Arbeitgeber, was ihre eigene Existenzgrundlage gefährdet. Trotz des Mutes verhindern Normen und Dogmen Ratnas Glück.
Gera: Ja, da haben Sie recht. Unerfüllte Träume sind Alltag und das ist hart. Aber diese Träume treiben diese Menschen an, ohne sie würden sie vor sich hinsiechen. Das Leben in Indien ist hart. Aber mir ging es nicht nur um Träume, mir ging es auch um die Tatsache, dass man hart für etwas im Leben arbeiten muss. Ratna ist ja keine romantische Träumerin, die den ganzen Tag rumsitzt und sich Gedanken über ein besseres und erfolgreicheres Leben macht. Sie hat eine sehr reale und konkrete Vorstellung von sich und ihrem Leben. Sie möchte Schneiderin werden. Dazu muss sie Dinge einfach können und dafür sorgen, dass sie sie beherrscht. Und vielleicht wird sie diesen Traum nie erreichen. Aber er treibt sie Tag für Tag an. Sie bemitleidet sich nicht. Sie macht einfach weiter.
Wellinski: Ratna liebt ihren Arbeitgeber Ashwin. Sie nennt ihn aber nur Sir. Und dieser Ashwin ist auch eine sehr interessante Figur. Er ist sehr passiv. Er wurde von seiner Frau verlassen. Doch er ist jetzt kein Macho, er wirkt sanft und verträumt. Ein Männerbild, das sehr prominent in indischen Kinos ist.
Gera: Es war mir sehr wichtig, dass er kein Macho ist. Anders als Ratna hat Ashwin seine Träume aufgegeben. Deshalb wirkt er so trübsinnig und traurig. Er versucht allen Wünschen seiner Umwelt gerecht zu werden. Er will ein guter Sohn sein. Seine Eltern messen ihn aber immer am verstorbenen Bruder. Ashwin spielt in seinem Leben immer nur eine Rolle. Er kann nie er selbst sein. Seine Träume wurden ihm genommen. Das ist auch ein Grund dafür, warum diese Rolle so undankbar für den Darsteller war. Er kann nicht viel machen, er muss passiv bleiben. Ich wollte aber diese Figur genauso anlegen, als netten, liebenswürdigen Typen. Aber die Gesellschaft zwingt ihm ein Rollenbild auf. Das ist brutal. Mich interessierte, wie ein solch sanfter Mann sich damit auseinandersetzt. Wie findet er seinen Weg?
Wellinski: Dieses Verhältnis zeigt ja auch im Zulassen der Gefühle. Es wirkt als würde Ashwin als erster merken, dass er sich in Ratna verliebt. Und bei Ratna wirkt es so, als würde sie es gar nicht zulassen wollen?
Gera: Exakt. Ich denke, dass Ratna ihn mag. Sie ist am Anfang ja noch ein fast anonymes Wesen, das die Wohnung sauber macht. Sie existiert für ihn ja gar nicht. Jemand kümmert sich um seine Sachen, aber er sieht sie nicht. Sie sieht ihn und kümmert sich um ihn und sein Zeug. Dadurch weiß sie alles über ihn, mehr als Ashwin realisiert. Und als dann bei Ratna Gefühle entstehen, merkt sie gar nicht, dass das Liebe sein könnte. Sie ist irritiert. Als Ashwin aber merkt, dass er seine Hausfrau liebt, wird für ihn plötzlich vieles leichter. Er kann das schnell akzeptieren. Er beginnt sie zu bemerken, bewundert ihre Arbeit. Sie inspiriert ihn sogar. Für ihn ist das zwar neu, aber er kann damit schnell umgehen. Für sie bleibt es kompliziert.
Liebesverhältnis mit Dienstmädchen: ein gefährliches Thema?
Wellinski: Ist Liebe ein Klassenkampf in Indien?
Gera: Ja, das Kastensystem hat in Indien ganz harte Hierarchien erzeugt. Liebe ist da manchmal wirklich ein Problem, dabei ist auch der Berufsstatus wichtig. Im Reich der Bürojobs könnten Sie sogar ihre Sekretärin heiraten. Das ist nicht so ein Tabubruch, wie dem Hausmädchen zu verfallen. Und es ist erstaunlich, wie groß das Tabu ist, selbst in der Kunst. Es gibt Filme und Bücher in Indien, die viele Tabus behandeln, zum Beispiel gleichgeschlechtliche Beziehungen in einer Kaste. Aber ein Liebesverhältnis zu einem Bediensteten tritt nie auf. Als ich sehr progressiven Freunden den Inhalt meines Films erzählte, fanden viele alleine die Idee schon sehr bedrohlich. Ich verstehe aber nicht warum.
Wellinski: Diese unterschiedlichen Welten versinnbildlichen Sie ja in diesem Apartment. Es ist ja keine Villa. Umso seltsamer ist es, dass da jemand wohnt, der kein Interesse an dem hat, der den ganzen Tag in derselben Wohnung arbeitet.
Gera: Ja, diese Frage war auch mein Antrieb für "Die Schneiderin der Träume". Es sind halt zwei Welten, die nebeneinander auf engstem Raum existieren, nur von einer einzigen Wand getrennt? Und es entsteht dennoch eine gewisse Intimität. Ratna sieht und hört viel, sie kümmert sich und beobachtet alles rund um Ashwins Alltag. Wenn Ashwin einen Telefonanruf bekommt und wütend auflegt und geht, dann weiß Ratna, dass es ihm nicht gut geht. Dennoch kommen diese Welten nicht zueinander. Die Lücke zwischen Ihnen ist ja eine gesellschaftlich erzeugte. Das lässt sich nur schwer überwinden. Es ist nicht viel, manchmal nur ein Zentimeter. Aber man muss ganze Welten verschieben, um diese kleine Entfernung zu überwinden.
Wellinski: Ratna wird gespielt von Tillotama Shome. Einer in Indien sehr bekannten Schauspielerin. Auch uns ist sie bekannt aus ihrer Rolle in "Monsoon Wedding" von Mira Nair. Haben Sie ihre Hauptfigur schon für diese tolle Darstellerin geschrieben?
Gera: Nein, Ratna ist eine Figur, die komplett aus Alltagsbeobachtungen entstanden ist. Erst im Casting habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wer sie denn spielen könnte. Und da dachte ich an Tillotama Shome. Sie wird respektiert und ist bekannt in Indien aber jetzt kein Mega-Star. Das fand ich aber gut, weil sie dadurch nicht auf ein bestimmtes Rollenfach festgeschrieben ist. Wenn man sie sieht, weiß man nicht, in welche Richtung die Geschichte gehen wird. Bei großen Bollywood-Stars ist das anders. Da weiß man sofort, ach die, die wird den heißen Typen bekommen, keine Frage. Meine einzige Befürchtung war, dass Tillotama absagt, weil sie in "Monsoon Wedding" auch schon ein Hausmädchen gespielt hat. Aber die Rolle in "Die Schneiderin der Träume" ist dann doch anders gelagert. Und ich war sehr froh als sie dann zugesagt hat.
"Das indische Publikum ist bereit für solche Filme"
Wellinski: Es ist ihr Debütfilm. Welche Gedanken haben Sie sich über den visuellen Stil des Films gemacht? Wie wollten Sie dass ihr Film aussieht?
Gera: Die größte Herausforderung war das Visualisieren der unterschiedlichen Welten. In der Wohnung selber war es mir wichtig zu zeigen, wie Ratna sich durch die Räume bewegt. Es sind ja nicht ihre Räume und dennoch ist sie es, die das Meiste tut. Ich wollte, dass man sieht, dass Ratna auch eine Verbindung zur Außenwelt ist. Sie geht auf den Markt, sie geht raus, sie ist der Weg an die Luft, die Freiheit, die Farben und das Licht. Wohingegen Ashwin sich nur in Innenräumen aufhält. Es sind schöne aber sehr sterile Räume. Er ist in diesem Goldenen Käfig gefangen. Mir ging es darum die Beziehung zwischen Freiheit und Raum auszuloten. Besonders schwer war es, diese beiden Welten zu vereinen und dennoch die gesellschaftliche Wand stehen zu lassen, die alles trennt. Ich wollte kleine, wahre Gesten, wie ich sie aus Indien kenne inszenieren.
Wellinski: Ist das eine Geschichte, die es im indischen Kino häufig gibt? "Die Schneiderin der Träume" ist ja kein Bollywoodfilm. Es ist Autorenkino. Gibt es aber für solche Bilder ein Publikum?
Gera: Ich denke, dass indische Publikum ist bereit für solche Filme. Aber vieles wird davon abhängen, wie wir den Film in Indien vermarkten, damit viele Menschen überhaupt von ihm erfahren. Wir müssen uns vor allem auf das erste Startwochenende konzentrieren, und die Bollywood-Konkurrenz angreifen. Das ist schwer, aber nicht unmöglich. Ich denke, es gibt gerade ein junges Publikum, das diese Art der Filme gerne sehen möchte.
Wellinski: Es ist aber auch die Frage, ob Menschen aus der Gesellschaftsschicht ihrer Hauptfigur den Film sehen können. Es ist sicherlich nicht gerade billig für sie, ein Kinoticket zu kaufen. Auf der anderen Seite muss man sich fragen, ob Haushaltshilfen überhaupt bereit sind ihr eigenes Leben auf der Leinwand zu sehen?
Gera: Ich denke, das geht. Vielleicht bin ich ja naiverweise optimistisch, aber ich hoffe sehr, dass sich viele Ratnas ins Kino verirren werden. Es gibt eine junge Generation von Haushälterinnen, die sogar etwas Geld für Freizeitaktivitäten haben, die gehen auch gerne ins Kino. Was mir aber erzählt wird, ist, dass genau diese Frauen ihr Geld lieber in einen großen Bollywood-Film mit Stars und Glamour investieren. Sie wollen Unterhaltung, eine große Show und sie wollen nicht ihr eigenes Leben sehen. Aber ich hoffe doch sehr, dass das nicht mehr stimmt. Und selbst, wenn man den Film nicht sofort im Kino sieht, werden sie ihn vielleicht im Fernsehen sehen. Diese Reaktionen würden mich schon sehr interessieren. Ich würde so gerne wissen, was sie sehen, wenn sie Ratnas Geschichte erleben und was sie dabei fühlen.