Reich an Erfahrungen

Vor knapp einem Jahr starb Christa Wolf. Der Suhrkamp Verlag hat nun posthum eine Erzählung veröffentlicht, die sie ein halbes Jahr vor ihrem Tod geschrieben und ihrem Mann zum 60. Hochzeitstag geschenkt hatte. Sie handelt von "August" - einem Kinderschicksal der Nachkriegszeit.
Am Schluss von Christa Wolfs Roman "Stadt der Engel" (2010) weiß die Erzählerin keinen Rat. Auf die Frage: "Wohin sind wir unterwegs?", antwortet sie: "Das weiß ich nicht." Ratlos ist auch August, die zentrale Figur in Christa Wolfs postum veröffentlichter gleichnamiger Erzählung. Doch während er sein Leben noch vor sich hat, in dem alles unsicher ist, blickt die Erzählerin im Roman auf ein an Erfahrungen reiches Leben zurück.

Am Schicksal eines Einzelnen und auf nur wenigen Seiten verfolgt Christa Wolf in dieser unspektakulären Erzählung einen Lebensweg, der symptomatisch für die Erfahrungen einer ganzen Generation ist. August ist ein Flüchtlingskind. Er hat seine Mutter auf der Flucht verloren, sein Vater wird vermisst. Nichts ist ihm geblieben. Oder genauer – und das steigert die Tragik –, das Einzige was er als Startkapital in eine ungewisse Zukunft mitbringt, sind "Motten" (so nannte man damals die Erkrankung an TBC).

"Waise" steht auf dem Pappschild, das man ihm um den Hals hängt, als er in ein Schloss einzieht. Es handelt sich um kein Traumschloss in dem Märchenträume in Erfüllung gehen, sondern um eine Lungenheilstätte, die nach dem Krieg notdürftig in der Nähe von Boltenhagen eingerichtet wurde.

So begann der Frieden für August, so hat er für viele begonnen: Kindheit im Krieg, dann Flucht oder Vertreibungen, später die Entbehrungen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Doch August findet sein bescheidenes Glück. Er entdeckt es im Schloss in Gestalt einer Prinzessin. In Lilo, die sich um die Kinder kümmert, sieht er (s)eine gute Fee. Eifersüchtig beobachtet er, wie sie sich anderen zuwendet, denn er fürchtet, er könnte auch sie verlieren.

An die "Mottenburg", so nannte man damals das Schloss, erinnert sich August, als er mehr als sechzig Jahre später einen Reisebus von Prag nach Berlin fährt. Die junge Frau von damals geht ihm nicht aus dem Kopf. Während er sich auf die Strecke konzentriert, die vor ihm liegt, gehen seine Gedanken zurück. So war es damals. Er hat diese Anfangsjahre auch deshalb nicht vergessen, weil sich mit Lilo eine Vorstellung von Hoffnung verband. Als Lichtgestalt tauchte sie damals auf und begleitete ihn durchs Leben. In dieser Zeit brauchte es wenig, um ein Gefühl von Geborgenheit aufkommen zu lassen.

Christa Wolf hat diese Erzählung mit autobiographischem Hintergrund ihrem Mann Gerhard Wolf zum 60. Hochzeitstag geschenkt. Der dazugehörende Brief ist als Reprint der Erzählung beigefügt. Er endet mit dem Satz: "Ich habe Glück gehabt." Die Erzählung wendet sich einer Zeit zu, als sich beide noch nicht kannten. Im Bewusstsein, viel Glück gehabt zu haben, denkt Christa Wolf an die, deren Anspruch auf Glück uneingelöst blieb. Ein in sich ruhender, leiser Text von erzählerischer Kraft, der bedeutend durch den Ton wird, den Christa Wolf gefunden hat. Es wird seltsam still, wenn man der erzählenden Stimme nachhört.

Besprochen von Michael Opitz


Christa Wolf: August
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
38 Seiten, 14,95 Euro


Beiträge zum Tod von Christa Wolf am 1. Dezember 2011 auf dradio.de:

Selbsterforschung als Antrieb des Schreibens - Nachruf auf Christa Wolf

Aktuell: Die Schrifstellerin Christa Wolf ist tot
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