Das Tribunal tagt
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Am Hamburger Schauspielhaus beginnt die Spielzeit mit "Reich des Todes". Darin nimmt Rainald Goetz den "Krieg gegen den Terror" nach dem 11. September 2001 ins Visier. Ein fragmentiertes, redseliges und damit auch anstrengendes Werk.
Pünktlicher gehts nicht: Am Jahrestag der terroristischen Angriffe mit mehreren Flugzeugen unter anderem auf die Zwillingstürme vom World Trade Center in New York zeigt das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg eine historische Abrechnung der besonderen Art.
Der Dramatiker Rainald Goetz nimmt das damalige Handeln der Regierung von George W. Bush sehr konkret ins Visier; als werde deren Mitgliedern heute der Prozess gemacht, weil sie im "Krieg gegen den Terror" aktiv auch auf die Zerstörung der demokratischen Verfassung des Staates hingewirkt hätten. Intendantin Karin Beier inszeniert das gut vierstündige Historienpanorama als schillernde Mischung aus Tribunal mit Videobeweisen und Gedankenspiel über die Kernwerte der Demokratie.
Wer die Erinnerungen an jene dramatische Zeit noch präsent hat, wird das handelnde Personal schnell identifizieren können, auch wenn es auf der Bühne andere Namen trägt:
Den ebenso selbstgefälligen wie intellektuell eher beschränkten Präsidenten selbst und den strippenziehenden Stellvertreter im Hintergrund (mit ihm beginnt die Geschichte am Tag der Angriffe selbst!); die Präsidentengattin und die allgegenwärtige Sicherheitsberaterin sind im Fokus des Bühnengeschehens, ebenso der Kriegs- wie der Justizminister, karrieresüchtige Assistenten und im Bereich der Justiz immerhin ein Entscheidungsträger, der dem Handeln der Funktionäre des Krieges kritisch gegenübersteht. Er wird fast zwei Jahrzehnte später (im zweiten Teil vom Stück) den Prozess führen, den es nur hier bei Rainald Goetz gibt.
Im Krieg der Ideologien ist jedes Mittel erlaubt
Überreich an Daten und Details ist der Text, zugleich und über weite Strecken aber "typisch Goetz" - fragmentarisch wie für den News-Blog formuliert, polemisch, sarkastisch, zugespitzt. Im Zentrum des anderen, hochoffiziellen Angriffs jener Tage, dem nämlich auf zivilisatorische Basiswerte des Gemeinwesens, vor allem auf das Verbot der Folter, stehen der Vizepräsident (gut zu erkennen als Dick Cheney, auch wenn Sebastian Blomberg gar nichts Cheney-Haftes an sich hat!) und ein Korps von Helfern, deren fundamentalistisches Denken, aufgeladen mit sehr viel Religion, längst alle Skrupel über Bord geworfen hat – sie stellen jede demokratische Überprüfbarkeit staatlichen Handelns infrage, sie setzen im Augenblick der fundamentalen Herausforderung auf Diktatur. Im Krieg der Ideologien ist jedes Mittel erlaubt; auch Folter, auch staatlich sanktioniertes Töten.
"Reich des Todes" spielt in einer Art Hölle (oder Vorhölle) der Weltpolitik. Und dem Horror dort stehen dokumentarische Bilder vom Terror im Gefangenenlager von Abu Ghraib gegenüber, deren Veröffentlichung im Jahr nach Beginn des zweiten amerikanischen Krieges im Irak das Image der Weltmacht final zerstörte; fleißig dreht sich die Bühne von Johannes Schütz und bringt einen fast raumhohen Bildschirm in Stellung. Und so stehen die stummen Bilder vom Foltern sehr wirkungsvoll dem teils extrem abstoßenden Rechtfertigungspalaver der Politfunktionäre gegenüber.
Zerklüftet und fragmentarisch
Regisseurin Karin Beier stellt dem durchaus anstrengenden, weil recht redseligen Text eine Menge an assoziativem Bild- und Spiel-Material gegenüber – immer wieder aus dem Fundus des heraufziehenden Faschismus in Deutschland der 20er-Jahre des vorigen Jahrhunderts. Da singt dann Burghart Klaußner (sonst als Kriegsminister tätig an diesem Abend) mit Hitler-Frisur eine Überarbeitung von Friedrich Hollaenders Chanson "Augen der Großstadt". Und gegen Ende wird der Geheimdienstchef (der sich selbst gerichtet hat) verbrannt wie der Gröfaz im Garten vom Führerbunker. Zerklüftet und fragmentarisch wie das Textkonvolut von Rainald Goetz ist auch die Inszenierung; auch durch die Kostüme von Wicke Naujoks und Eva Dessecker fügen sich Bilderwelten mit wenig Zusammenhang im Echoraum des Theaters zusammen.
Mit einem grandiosen Schlusschor verweist der lange Abend schließlich auf all die Gegenwart, die in der Geschichte steckt: Wie streiten wir heute für die Demokratie und den Rechtsstaat? Wie antworten wir all jenen Gruppen, ja ganzen Schichten der Gesellschaft, denen das Recht mittlerweile eher egal ist, wenn es mal nicht die Mittel heiligt für einen wichtigen Zweck? Und generell: Ist Humanität überhaupt noch zu retten?
Engagiert streitet sich das extrem kompakte und kollektiv agierende Ensemble in die Grundsätzlichkeit dieser Debatte um Zivilisation hinein, die Rainald Goetz aufblättert. An diesem Kraftakt des Theaters wird das Publikum noch lange zu knabbern haben.