Reich oder Nation
Vor 200 Jahren, am 6. August 1806, ging das Heilige Römische Reich Deutscher Nation auf Druck Napoleons unter. Auch wenn das Reich scheiterte, ging ihm doch eine über 800-jährige Existenz voraus, die selbst tiefste Krisen überwand.
Man schreibt das Jahr 843. Zwischen den drei Enkeln Karls des Großen wird in Verdun ein Vertrag geschlossen, der das Frankenreich in ein West-, Mittel-, und Ostreich teilt. Dieser Vertrag gilt als Geburtsstunde einer neuen europäischen Ordnung. Der Schriftsteller Ernst Jünger, der als Frontkämpfer am 1. Weltkrieg teilgenommen hatte, sagte 1979 anlässlich einer Gedenkfeier an diesem historischen Ort:
"Mit dem Teilungsvertrag des Fränkisches Reiches 843 begann die Trennung unserer beiden Völker."
Aus dem westfränkischen Reich entwickelte sich Frankreich, aus dem ostfränkischen das Sacrum Imperium Romanum (das Heilige Römische Reich), dessen Zeichen seit alters ein Greifvogel war. Ein Sänger des 13. Jahrhunderts. setzte diesem Reichs- beziehungsweise. Kaiserzeichen später ein dichterisches Denkmal:
"Nehmt den Schild des Reiches [und sein Wappen] wahr. Ein aufrechter Adler, auf goldenem Hintergrund, hat sich auf dem Schild aufgerichtet. Der Adler ist von schwarzer Farbe."
Das Heilige Römische Reich, das auch als das Alte Reich bezeichnet wird, kennt keine Gründungsurkunde oder ein bestimmtes Gründungsdatum, gleichwohl aber Herrscher, die, in einem spezifischen Antikenbezug, für den Reichsbildungsprozess stehen. Michael Borgolte, Historiker an der Humboldt-Universität Berlin:
"Was die Anbindung an das antike Imperium betrifft, das antike römische Reich ist im 5. Jahrhundert. untergegangen, jedenfalls so weit der Westen betroffen ist, und die Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahr 800 war eine Wiederaufnahme einer Tradition, die 400 Jahre abgebrochen gewesen ist."
Obgleich mit Karl dem Großen die Tradition des antiken Kaisertums zunächst wieder auflebte, sieht sie in der Folge dennoch keiner stabilen Zukunft entgegen, steht doch dem universalen Kaisertum ein faktisch geteiltes fränkisches Reich entgegen, was der Herausbildung eines stetigen Kaisertums entgegenwirkt.
Erst mit Otto dem Großen, dem Herrscher des ostfränkisch-deutschen Reiches, beginnt dann die eigentliche, weil kontinuierliche Kaiserreihe und damit Reichsgeschichte. Auch Otto knüpfte mit seiner Kaiserkrönung 962 in Rom an das antike Kaisertum an und verband damit die Vorstellung einer translatio Imperii, des Übergangs der Herrschaft von den Römern zu den Franken und den Deutschen.
Die einstige Legitimation durch das Heer, wie sie bei antiken Kaisererhebungen üblich war, ersetzte in einer sonderbaren historischen Wandlung im Mittelalter der Papst. Otto wuchs mit der Kaiserkrönung also eine universale, aber zugleich auch, da er durch den Papst gekrönt wurde, noch eine heilsgeschichtliche Würde zu: die des Schutzherren der Christenheit. Ein "Amt", das von Beginn an für schärfste Konflikte zwischen Kaiser und Papst sorgte.
Ab dem 12. Jahrhundert machte Friedrich I. Barbarossa mit der Reichsbezeichnung sacrum imperium ("Heiliges Reich") sogar namentlich auf die Ebenbürtigkeit von Kaiser und Papst aufmerksam. Wie eng das weltliche Reich mit dem geistlichen im Mittelalter verknüpft wurde (woraus ein Absolutheitsanspruch des Reiches resultierte), beschreibt der Politikwissenschaftler Münkler in seiner Abhandlung "Imperien" an dem Reichstitel sacrum imperium :
"In dieser Formel beruhte die Heiligkeit des Reichs auf seiner geschichtstheologischen Rolle als Katechon (Aufhalter) des Weltendes, das, sollte das Reich untergehen, zwangsläufig eintreten werde."
Selbst noch im 17. Jahrhundert, im Zeitalter des Rationalismus, wurde der christlich-heilsgeschichtliche Charakter der Reichsidee hervorgehoben, so etwa von dem Juristen Johannes Limnaeus:
"Das Römische Reich wird ein Heilges Reich geheisset, weil es von dem Heiligen Geist verordnet, bestettiget, und bis auff die ehrne Zeiten erhalten [wird]."
Von Anfang an betrachteten sich die römischen Kaiser als Sendboten und Schutzherren der Christenheit. Mit diesem Glauben betrieb Otto der Große seine Expansionspolitik Richtung Osten und begann die Slawen zwischen Elbe und Oder zu missionieren und zu unterwerfen, in einem Gebiet, das ungefähr dem heutigen Ostdeutschland entspricht.
Ottos ostfränkisch-deutsches Reich umfasste bis dahin in groben Zügen das heutige Westdeutschland, Teile der Schweiz und Österreichs und setzte sich aus den Herzogtümern Franken, Schwaben, Bayern, Lothringen und Sachsen zusammen.
Ottos Rolle als Schutzherr der Christenheit, brachte ihn jedoch bald in Konflikt mit dem Papst, der sich als oberster Herrscher des Erdkreises betrachtete. Diesen Dissens konnte Otto, der auch die Königswürde von Italien erwarb, zunächst noch für sich entscheiden. Er ließ mit Waffengewalt ihm genehme Päpste einsetzen.
Allerdings schlug das Pendel wenig später in eine andere Richtung aus. Der aufgeladene Dualismus zwischen weltlicher und geistlicher Macht, kulminierte im so genannten Investiturstreit, oder auch Canossagang, und führte das Reich in eine seiner schwersten Krisen.
"Der so genannte Investiturstreit hat dann dazu geführt, dass die Päpste sich diese Spitzenstellung in der Weltordnung erkämpfen wollten, mit dem Motto, der Kirche die Freiheit zu verschaffen. Das hat bedeutet, dass die Könige, die ja wie die Bischöfe gesalbt waren, das heißt also nicht normale Laien waren, aber natürlich auch nicht Geistliche waren, dass diese Könige von Seiten der Kurie auf die Ebene der Laien herabgedrückt werden sollten. Das ist der entscheidende Vorgang von Canossa, wo Heinrich IV. 1077 wie ein normaler Laie sich vor Gregor VII. im Schnee demütigte, um wieder in die Kirche aufgenommen zu werden."
Was in der Konsequenz bedeutete, dass die römischen Kaiser nicht mehr das Recht zur Investitur, zur Einsetzung der Bischöfe haben sollten, von der Ernennung von Päpsten ganz zu schweigen.
Das Ringen um regnum (Königtum) und sacerdotium (Priestertum) sollte noch lange Zeit im Mittelalter dominieren. Denn der Kern des Problems ließ sich letztlich nicht lösen: waren dem Stellvertreter Gottes alle Menschen untertan (einschließlich Kaiser) oder dem Kaiser, der sein Amt der Gnade Gottes verdankte. Karl V. war schließlich der letzte König, der sich 1530 vom Papst zum Kaiser krönen ließ. Nachfolgende Herrscher nahmen den Kaisertitel gleich mit der Königswahl an und verzichteten auf den Papst.
Gegenüber dem Papsttum ließen sich die Machtforderungen der Kaiser also nur bedingt verwirklichen. Doch wie sah die Herrscherposition des Kaisers beziehungsweise Königs, denn nicht alle Regenten waren Kaiser, im Reich selbst aus?
Trotz des Universalanspruchs blieb die Macht des Königs begrenzt. Das Reich war keine Erb- sondern eine Wahlmonarchie und das hieß der König wurde von den Kurfürsten gekürt. Als Resultat ergab sich daraus eine überaus verschachtelte und spannungsreiche Reichsarchitektur. Etienne François, Historiker an der Technischen Universität Berlin:
"Innerhalb dieser ganz großen Konstellation bilden sich, also unterhalb der Reichsebene, unterschiedliche zwischenstaatliche Formationen: Da sind die so genannten Reichsstände – die Mitglieder des Reichsverbandes, sie verfügen über eine große Selbständigkeit, und infolge der Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst auf der einen Seite, der Interregna auf der anderen Seite im Reich, gelingt es diesen Landesfürsten, ob geistlich oder weltlich, eine immer größere Autonomie zu nehmen. Sodass wir sehr frühzeitig in dem späteren Deutschland diese Form der Zweistaatlichkeit haben, die übergeordnete transnationale und die untergeordnete regionale und lokale.
Während wir in Frankreich sehr früh eine Kontinuität in der Herrschaftsabfolge haben. Es gelingt dem König, sich sehr schnell oberhalb der Struktur der Feudalität zu stellen, die Landesfürsten unter seine Herrschaft zu bringen und sich als Konkurrenz zum Kaiser zu stilisieren, mit dem berühmten Spruch: Der König in Frankreich ist Kaiser in seinem Königtum."
Der Dualismus zwischen dem Kaiser, der ja selbst Ländereien anhäufte und den Reichsständen, die ihn eifersüchtig beobachteten, hatte allerdings Folgen. Es war auf diese Weise unmöglich eine Zentralgewalt, sei es für das Heer oder die Verwaltung zu etablieren. Der Historiker Heinz Schilling von der Humboldt-Universität Berlin:
"Das Reich hat in der Tat keine zentralen staatlichen Institutionen aufgebaut. Zentrale oder Gesamtinstitutionen würde ich das gerne nennen, waren der Kaiser, waren die Reichsgerichte, war der Reichstag, aber das waren keine zentralen Behörden, Institutionen und auch nicht im modernen Sinne Gesetzgebungsinstitutionen wie wir die heute haben."
Zusammengehalten wurde das Reich, im Gegensatz zu Staaten, von mehr oder weniger selbständigen Personen oder Personengruppen. Vornehmste Aufgabe dieses Personenverbandes, der sich übergreifende Einrichtungen schuf, war die Friedens- und Rechtswahrung, weshalb die einzelnen Glieder des Reiches, offiziell, auch keinen Krieg gegeneinander führen durften, obwohl sie es häufig trotzdem taten.
"Dass das Bundesverfassungsgericht in unserer heutigen Demokratie so eine hervorragende Rolle spielt, ja doch, hervorragender und gewichtiger als in vielen anderen europäischen Staaten, hängt damit zusammen, dass das Reich eine Rechtssicherungseinheit war, dass die obersten Reichsgerichte im Alten Reich eine so hervorragende Rolle gespielt haben."
"Als weiteres muss man sicherlich sagen, dass insbesondere in der späteren Phase, in der das internationale Staatensystem in Europa sich entwickelt hatte, die Mitte Europas nur durch die Existenz des Reiches befriedet werden konnte oder in Frieden gehalten werden konnte. Sodass also die nichtstaatliche Struktur der europäischen Mitte für ganz Europa wichtig war. Und wie wichtig dieses war, kann man ja ablesen von den Katastrophen, die dann im 19. und 20. Jahrhundert., in dem Moment, in dem diese Mitte Europas dann staatlich, nationalstaatlich geeint war und dann als mächtige politische Potenz in dieses Mächteringen eingriff, wie da die europäische Mitte, praktisch bis in unser 21. Jahrhundert. hinein, wo das endlich überwunden ist, nicht mehr sozusagen die Verankerung des europäischen Friedens leistete."
Das wichtigste Forum des Reiches, um etwa über Krieg, Steuern oder Außenpolitik zu debattieren, war der Reichstag. Seit dem 15. Jahrhundert hatte sich dieses Gremium zu einer Ständeversammlung entwickelt, die das Reich als eine Art Gemeinwesen repräsentierte. Hier wurden Entscheidungen im Konsens gefällt. Allerdings war der Reichstag nicht ein:
"…im modernen Sinne demokratisch legitimiertes Gremium, sondern die Großen des Reiches trafen sich dort, verhandelten den Frieden, verhandelten Gesetzesvorhaben, handelten aus ein Gleichgewicht zwischen großen und kleinen Reichsständen, die kleinen die Reichsstädte, die Reichsritter, die großen die Kurfürsten und Fürsten, und, vor allen Dingen konkretisiert in der Einheit von Kaiser und Reichsständen in einem gewissen Dualismus."
Obgleich der Reichstag also keine demokratische Interessenvertretung war sondern eine Versammlung von Herrschaftsträgern, ist seine integrative Funktion nicht zu unterschätzen. Sein Einfluss bewährte sich in solchen Augenblicken der Geschichte, in denen die Einheit des Reiches zu zerbrechen drohte, wie etwa während des Dreißigjährigen Krieges:
"Der Reichstag war entscheidend, dass nach 1648 das Reich nicht auseinander fiel, sondern dass auch die Glieder des Reiches, die sich zu unabhängigen Staaten entwickeln, unabhängig waren sie ja nicht im vollen souveränen Sinne, dass die im Reich blieben, und dass das Reich als nichtstaatliche politische Organisation der deutschen Stände und später der deutschen Territorien erhalten blieb. Dieses wurde auf dem Reichstag geleistet, und wir sollten zunächst mal diese ungeheure föderal zusammenbindende Leistung des Reichstages würdigen und nicht sagen, was er nicht geschaffen hat, geschafft hat, denn das war überhaupt nicht zu schaffen. Das Reich war kein Staat im modernen Sinne und sollte dieses auch nicht werden."
Außenpolitisch beschäftigte den Reichstag die Abwehr der Türken. Innenpolitisch mussten immer wieder Konfessionsfragen behandelt werden. Einen Höhepunkt dabei bildete die Reformationszeit. 1521 kam es auf dem Wormser Reichstag zu dem legendären Auftritt Martin Luthers, bei dem er sich weigerte seiner Lehre abzuschwören. Luther verkündete damals:
"Weil denn Eure allergnädigste Majestät und fürstlichen Gnaden eine einfache Antwort verlangen, will ich sie ohne Spitzfindigkeiten und unverfänglich erteilen (...) ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es offenkundig ist, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen."
Karl V. konnte solche Worte nicht durchgehen lassen. Für ihn zählt die Einheit von Kirche und Reich, die seiner universalistischen Kaiseridee entsprach. Noch in der Nacht nach Luthers Auftritt verfasste er einen Brief, der am nächsten Tag vor dem Reichstag verlesen wurde:
"So bin ich entschlossen, festzuhalten an allem, was seit dem Konstanzer Konzil geschehen ist. Denn es ist sicher, dass ein einzelner Bruder irrt, wenn er gegen die Meinung der ganzen Christenheit steht, da sonst die Christenheit tausend Jahre oder mehr geirrt haben müsste. Ich bedaure, so lange gezögert zu haben, gegen ihn vorzugehen. Er habe sein Geleit; aber ich werde ihn fortan als notorischen Ketzer betrachten(...)"
Die Auflösung des Konflikts erfolgte 1555 im Augsburger Religionsfrieden, der die Koexistenz von Katholiken und Protestanten sicherstellte. Er begründete einen Frieden, der über eine lange Zeit hielt und in der der Reichstag nur einmal einberufen wurde. Erst der Dreißigjährige Krieg beendete diese Periode.
Der Reichstag wirkt also zunächst als ein wichtiges Gesetzgebungsorgan, aber er gibt auch Auskunft über die territoriale Beschaffenheit des Reiches. Allerdings ist die Frage nach der Reichsgrenze oder besser der Peripherie des Reiches prinzipiell nicht leicht zu beantworten:
So kann man zum Reich, im engeren Sinne, zählen, wer auf dem Reichstag Sitz und Stimme hatte, also im Wesentlichen die Angehörigen Deutschlands und Österreichs. Auf dieses Reichsverständnis bezieht sich auch der im 15. Jahrhundert. auftauchende Zusatz "Heiliges Römische Reich Deutscher Nation". Er artikuliert ein ethnisches Zusammengehörigkeitsgefühl der in den Reichsinstitutionen organisierten Vertreter deutscher Sprachgebiete und lässt Ansätze eines sich entwickelnden Nationalgefühls erkennen.
Oder aber man versteht das Reich als eine Lehenskonstruktion, zu der neben Deutschland und Österreich auch Teile Italiens, der Niederlande oder der Schweiz gehörten, denn die Lehenshoheit des Kaisers hatte einen erheblich größeren Radius als der Einflussbereich des Reichstages. Das Reich als Lehensreich wäre demnach als ein transnationales und vielsprachiges Gebilde anzusehen. Kaiser Karl IV., der seinen Wohnsitz in Prag hatte, erließ 1356 ein Gesetz über die Königswahl (die Goldene Bulle), in dem es auch ein Kapitel zur Mehrsprachigkeit gibt:
"Da die Erhabenheit des Römischen Reiches die Gesetze der an Gebräuchen, Lebensweise und Sprache verschiedenen Völker und deren Leitung zu regeln hat, ist es angemessen (...), dass die Kurfürsten (...) in den Unterschieden der einzelnen Sprachen und Zungen unterwiesen werden, damit sie mehr Leute verstehen und von mehr Leuten verstanden werden – sie, die der kaiserlichen Hoheit bei der Abhilfe der so überaus zahlreichen Nöte beistehen (...) Deswegen setzen wir fest, dass die Söhne (...) der erlauchten Kurfürsten (...) von ihrem siebenten Lebensjahr in lateinischer Grammatik und in italienischer und slawischer Sprache (also tschechisch) unterrichtet werden, sodass sie bis zum 14. Lebensjahr entsprechend der ihnen von Gott verliehenen Gnade darin gebildet sind."
Nachdem das Lehensreich Jahrhunderte hindurch bestanden hatte, begann im 18. Jahrhundert die Erosion. In dieser Zeit wendeten sich die deutschen Kur- und Reichsfürsten von dem Brauch und der Pflicht ab, ihre erblichen Lehen vom Kaiser erneuern zu lassen. Das aufwendige Zeremoniell, Kniefall vor dem Kaiser inklusive, hatten die Fürsten ohnehin schon an ihre Gesandten übertragen. Natürlich wusste man, was man tat: Ein reichshofrätliches Rundschreiben machte bereits 1749 auf die Risiken für den Reichszusammenhalt aufmerksam:
"Da die Belehnungen in der Sache selbsten die Verbindlichkeit zwischen Haupt und Gliedern, anmit den Eintritt des Investiti in den [Reichs]Cörper enthalten, so folget, dass derselben Unterlassung die Verbindlichkeit aufhebe und eine allgemeine Trennung und Zertheilung nach sich ziehen müsse."
Die Weigerung, sich die Lehen erneuern zu lassen, bedeutete also weit mehr als ein formales Aufbegehren. Es war der Ausdruck für eine Entwicklung im Reich, in der die sich modernisierenden Staaten eine größere Souveränität beanspruchten.
Sowohl Preußen als auch Österreich, von Vernunftrechtstheorien beeinflusst, reformierten ihre Staatswesen so, dass sie Heer, Verwaltung und Schulwesen zentralisierten, strafften und vereinheitlichten. Die Alleingänge dieser hochorganisierten Staaten stellten für den auf Konsens ausgerichteten Reichsverband zunehmend eine Zerreißprobe dar. Endgültig zu sprengen, vermochten die fast souveränen Staaten den Reichsverband erst, als sie auch noch Krieg gegeneinander führten. Etienne François:
"Der Beginn des Todesstoßes gegen das Alte Reich, das war das Hervorkommen des späteren Dualismus zwischen Österreich und Preußen. Und wenn jemand das Reich zerstört hat, dann ist es nicht Napoleon, sondern Friedrich II. mit dem Kriegseintritt gegen Österreich 1740.
Das ist der eine Grund, der zweite Grund, das ist die massive Herausforderung durch die Französische Revolution und den französischen Expansionismus. Und das Reich als eine Institution der Befriedung im Innern war völlig außer der Lage diese Herausforderung positiv zu meistern. Und diese zwei Elemente zusammen, zuerst die preußische Provokation und dann die französische Provokation brachten dieses alte Gebilde zum Sturz."
Preußens Separatismus, der mit dem Krieg gegen Österreich begonnen hatte, wurde ein weiterer Baustein hinzugefügt, als Preußen 1795 im 1. Koalitionskrieg mit Frankreich Frieden schloss. Ein Beispiel, das Schule machen sollte. Der fortschreitende Zerfall des Reiches löste einen bisher nicht gekannten Gebietsschacher aus.
Sowohl die Säkularisation nach französischem Vorbild als auch die Aufteilung von Reichsstädten sorgte dafür, dass etliche Fürsten zu Territorien kamen, die weit größer waren, als die vorangegangenen Besitzungen. Festgeschrieben wurde die rabiate Umverteilung 1803 im Reichsdeputationshauptschluss, dem der Reichstag formal zustimmte.
Chaotisch und interessengelenkt zeigten sich die letzten Momente des Heiligen Römischen Reiches. Deutsche Fürsten schlossen sich im Rheinbund Napoleon an. Der Kaiser des Reiches ließ sich noch 1804 zum Kaiser Österreichs proklamieren, nachdem sich Napoleon kurz zuvor zum Kaiser der Franzosen ernannt hatte. Kaiser Franz II. ahnte wohl, dass man sich in Zukunft auf kleinere Territorien würde beschränken müssen. Es dauerte dann auch nicht mehr lange und der Habsburger legte am 6. August 1806 auf Druck Napoleons die Kaiserkrone nieder und erklärte:
"Wir Franz der Zweite, von Gottes Gnaden erwählter römischer Kaiser, zu allen Zeiten Mehrer des Reichs, Erbkaiser von Oesterreich etc., König in Germanien, zu Hungarn, Böheim, Croatien, Dalmazien, Slavonien, Galizien, Lodomerien und Jerusalem, Erzherzog zu Oesterreich (...) Wir erklären (...), dass Wir das Band, welches Uns bis jetzt an den Staatskörper des deutschen Reichs gebunden hat, als gelöst ansehen (...) und die (...) bis jetzt getragene Kaiserkrone und geführte kaiserliche Regierung (...) niederlegen. Wir entbinden zugleich Churfürsten, Fürsten und Stände und alle Reichsangehörigen (...) von ihren Pflichten."
Der Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation löste ganz unterschiedliche Reaktionen aus: Goethe hatte zunächst Schwierigkeiten "sich selbst im Gleichgewicht zu halten", bezeichnete das Reich aber später als "überlebtes Welttheater". Martin Wieland hingegen sorgte sich bereits um die Sicherheit:
"Leiden, zusehen, sich alles gefallen lassen, ist jetzt das Einzige, was denen über bleibt, die keine Armeen ins Feld schicken können."
Und Goethes Mutter schrieb bestürzt an ihren Sohn:
"Mir ist übrigens zu muthe als wenn ein alter Freund sehr kranck ist, die ärzte geben ihn auf mann ist versichert dass er sterben wird und mit all der Gewißheit wird man doch erschüttert wann die Post kommt er ist todt. So gehts mir und der ganzen Stadt – Gestern wurde zum ersten mahl Kaiser und Reich aus dem Kirchengebet weggelaßen."
Die Deutschen befanden sich nach dem Kollaps des Reiches in einer Identitätskrise, die lange nachwirken sollte. An Versuchen hat es nicht gemangelt, das Alte Reich, auch wenn man es im Grunde für morsch hielt, wieder aufleben zu lassen, und sei es in der Phantasie.
Nicht nur, dass eine alte Ordnung untergegangen war, die Halt gewährt hatte. In den Jahrhunderten des Alten Reiches entstanden einzigartige Werke in Kunst und Kultur: die ottonische Buchmalerei; den Speyerer Dom der Romanik; die Gotik der Familie Parler; die Blüte der mittelalterlichen Literatur; die Renaissance, die Humanisten, Dürer, der Buchdruck und den Barock, Mozart, Dresden, Würzburg...
Auf dem Weg in eine neue Epoche, die des Nationalstaats, er führte über die Befreiungskriege, den Deutschen Bund und die Märzrevolution zum Kaiserreich von 1871, auf dem Weg in diese neue Epoche, sollte das Reich immer wieder als, ungefüges, Modell für eine zukünftige Staatlichkeit Deutschlands fungieren.
Nicht zuletzt auch für nationale Hypertrophien, wie sie sich bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein erstreckten. Mit dem Anbruch des 21. Jahrhunderts, der weit reichenden Reduktion der Nationalstaaten in Europa, scheint nun das Alte Reich auf unerwartete Weise wieder Gesprächsstoff zu bieten.
Ausstellung: "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation "
Kulturhistorisches Museum Magdeburg: "Von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters"
Deutsches Historisches Museum Berlin: "Altes Reich und neue Staaten 1495-1806"
"Mit dem Teilungsvertrag des Fränkisches Reiches 843 begann die Trennung unserer beiden Völker."
Aus dem westfränkischen Reich entwickelte sich Frankreich, aus dem ostfränkischen das Sacrum Imperium Romanum (das Heilige Römische Reich), dessen Zeichen seit alters ein Greifvogel war. Ein Sänger des 13. Jahrhunderts. setzte diesem Reichs- beziehungsweise. Kaiserzeichen später ein dichterisches Denkmal:
"Nehmt den Schild des Reiches [und sein Wappen] wahr. Ein aufrechter Adler, auf goldenem Hintergrund, hat sich auf dem Schild aufgerichtet. Der Adler ist von schwarzer Farbe."
Das Heilige Römische Reich, das auch als das Alte Reich bezeichnet wird, kennt keine Gründungsurkunde oder ein bestimmtes Gründungsdatum, gleichwohl aber Herrscher, die, in einem spezifischen Antikenbezug, für den Reichsbildungsprozess stehen. Michael Borgolte, Historiker an der Humboldt-Universität Berlin:
"Was die Anbindung an das antike Imperium betrifft, das antike römische Reich ist im 5. Jahrhundert. untergegangen, jedenfalls so weit der Westen betroffen ist, und die Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahr 800 war eine Wiederaufnahme einer Tradition, die 400 Jahre abgebrochen gewesen ist."
Obgleich mit Karl dem Großen die Tradition des antiken Kaisertums zunächst wieder auflebte, sieht sie in der Folge dennoch keiner stabilen Zukunft entgegen, steht doch dem universalen Kaisertum ein faktisch geteiltes fränkisches Reich entgegen, was der Herausbildung eines stetigen Kaisertums entgegenwirkt.
Erst mit Otto dem Großen, dem Herrscher des ostfränkisch-deutschen Reiches, beginnt dann die eigentliche, weil kontinuierliche Kaiserreihe und damit Reichsgeschichte. Auch Otto knüpfte mit seiner Kaiserkrönung 962 in Rom an das antike Kaisertum an und verband damit die Vorstellung einer translatio Imperii, des Übergangs der Herrschaft von den Römern zu den Franken und den Deutschen.
Die einstige Legitimation durch das Heer, wie sie bei antiken Kaisererhebungen üblich war, ersetzte in einer sonderbaren historischen Wandlung im Mittelalter der Papst. Otto wuchs mit der Kaiserkrönung also eine universale, aber zugleich auch, da er durch den Papst gekrönt wurde, noch eine heilsgeschichtliche Würde zu: die des Schutzherren der Christenheit. Ein "Amt", das von Beginn an für schärfste Konflikte zwischen Kaiser und Papst sorgte.
Ab dem 12. Jahrhundert machte Friedrich I. Barbarossa mit der Reichsbezeichnung sacrum imperium ("Heiliges Reich") sogar namentlich auf die Ebenbürtigkeit von Kaiser und Papst aufmerksam. Wie eng das weltliche Reich mit dem geistlichen im Mittelalter verknüpft wurde (woraus ein Absolutheitsanspruch des Reiches resultierte), beschreibt der Politikwissenschaftler Münkler in seiner Abhandlung "Imperien" an dem Reichstitel sacrum imperium :
"In dieser Formel beruhte die Heiligkeit des Reichs auf seiner geschichtstheologischen Rolle als Katechon (Aufhalter) des Weltendes, das, sollte das Reich untergehen, zwangsläufig eintreten werde."
Selbst noch im 17. Jahrhundert, im Zeitalter des Rationalismus, wurde der christlich-heilsgeschichtliche Charakter der Reichsidee hervorgehoben, so etwa von dem Juristen Johannes Limnaeus:
"Das Römische Reich wird ein Heilges Reich geheisset, weil es von dem Heiligen Geist verordnet, bestettiget, und bis auff die ehrne Zeiten erhalten [wird]."
Von Anfang an betrachteten sich die römischen Kaiser als Sendboten und Schutzherren der Christenheit. Mit diesem Glauben betrieb Otto der Große seine Expansionspolitik Richtung Osten und begann die Slawen zwischen Elbe und Oder zu missionieren und zu unterwerfen, in einem Gebiet, das ungefähr dem heutigen Ostdeutschland entspricht.
Ottos ostfränkisch-deutsches Reich umfasste bis dahin in groben Zügen das heutige Westdeutschland, Teile der Schweiz und Österreichs und setzte sich aus den Herzogtümern Franken, Schwaben, Bayern, Lothringen und Sachsen zusammen.
Ottos Rolle als Schutzherr der Christenheit, brachte ihn jedoch bald in Konflikt mit dem Papst, der sich als oberster Herrscher des Erdkreises betrachtete. Diesen Dissens konnte Otto, der auch die Königswürde von Italien erwarb, zunächst noch für sich entscheiden. Er ließ mit Waffengewalt ihm genehme Päpste einsetzen.
Allerdings schlug das Pendel wenig später in eine andere Richtung aus. Der aufgeladene Dualismus zwischen weltlicher und geistlicher Macht, kulminierte im so genannten Investiturstreit, oder auch Canossagang, und führte das Reich in eine seiner schwersten Krisen.
"Der so genannte Investiturstreit hat dann dazu geführt, dass die Päpste sich diese Spitzenstellung in der Weltordnung erkämpfen wollten, mit dem Motto, der Kirche die Freiheit zu verschaffen. Das hat bedeutet, dass die Könige, die ja wie die Bischöfe gesalbt waren, das heißt also nicht normale Laien waren, aber natürlich auch nicht Geistliche waren, dass diese Könige von Seiten der Kurie auf die Ebene der Laien herabgedrückt werden sollten. Das ist der entscheidende Vorgang von Canossa, wo Heinrich IV. 1077 wie ein normaler Laie sich vor Gregor VII. im Schnee demütigte, um wieder in die Kirche aufgenommen zu werden."
Was in der Konsequenz bedeutete, dass die römischen Kaiser nicht mehr das Recht zur Investitur, zur Einsetzung der Bischöfe haben sollten, von der Ernennung von Päpsten ganz zu schweigen.
Das Ringen um regnum (Königtum) und sacerdotium (Priestertum) sollte noch lange Zeit im Mittelalter dominieren. Denn der Kern des Problems ließ sich letztlich nicht lösen: waren dem Stellvertreter Gottes alle Menschen untertan (einschließlich Kaiser) oder dem Kaiser, der sein Amt der Gnade Gottes verdankte. Karl V. war schließlich der letzte König, der sich 1530 vom Papst zum Kaiser krönen ließ. Nachfolgende Herrscher nahmen den Kaisertitel gleich mit der Königswahl an und verzichteten auf den Papst.
Gegenüber dem Papsttum ließen sich die Machtforderungen der Kaiser also nur bedingt verwirklichen. Doch wie sah die Herrscherposition des Kaisers beziehungsweise Königs, denn nicht alle Regenten waren Kaiser, im Reich selbst aus?
Trotz des Universalanspruchs blieb die Macht des Königs begrenzt. Das Reich war keine Erb- sondern eine Wahlmonarchie und das hieß der König wurde von den Kurfürsten gekürt. Als Resultat ergab sich daraus eine überaus verschachtelte und spannungsreiche Reichsarchitektur. Etienne François, Historiker an der Technischen Universität Berlin:
"Innerhalb dieser ganz großen Konstellation bilden sich, also unterhalb der Reichsebene, unterschiedliche zwischenstaatliche Formationen: Da sind die so genannten Reichsstände – die Mitglieder des Reichsverbandes, sie verfügen über eine große Selbständigkeit, und infolge der Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst auf der einen Seite, der Interregna auf der anderen Seite im Reich, gelingt es diesen Landesfürsten, ob geistlich oder weltlich, eine immer größere Autonomie zu nehmen. Sodass wir sehr frühzeitig in dem späteren Deutschland diese Form der Zweistaatlichkeit haben, die übergeordnete transnationale und die untergeordnete regionale und lokale.
Während wir in Frankreich sehr früh eine Kontinuität in der Herrschaftsabfolge haben. Es gelingt dem König, sich sehr schnell oberhalb der Struktur der Feudalität zu stellen, die Landesfürsten unter seine Herrschaft zu bringen und sich als Konkurrenz zum Kaiser zu stilisieren, mit dem berühmten Spruch: Der König in Frankreich ist Kaiser in seinem Königtum."
Der Dualismus zwischen dem Kaiser, der ja selbst Ländereien anhäufte und den Reichsständen, die ihn eifersüchtig beobachteten, hatte allerdings Folgen. Es war auf diese Weise unmöglich eine Zentralgewalt, sei es für das Heer oder die Verwaltung zu etablieren. Der Historiker Heinz Schilling von der Humboldt-Universität Berlin:
"Das Reich hat in der Tat keine zentralen staatlichen Institutionen aufgebaut. Zentrale oder Gesamtinstitutionen würde ich das gerne nennen, waren der Kaiser, waren die Reichsgerichte, war der Reichstag, aber das waren keine zentralen Behörden, Institutionen und auch nicht im modernen Sinne Gesetzgebungsinstitutionen wie wir die heute haben."
Zusammengehalten wurde das Reich, im Gegensatz zu Staaten, von mehr oder weniger selbständigen Personen oder Personengruppen. Vornehmste Aufgabe dieses Personenverbandes, der sich übergreifende Einrichtungen schuf, war die Friedens- und Rechtswahrung, weshalb die einzelnen Glieder des Reiches, offiziell, auch keinen Krieg gegeneinander führen durften, obwohl sie es häufig trotzdem taten.
"Dass das Bundesverfassungsgericht in unserer heutigen Demokratie so eine hervorragende Rolle spielt, ja doch, hervorragender und gewichtiger als in vielen anderen europäischen Staaten, hängt damit zusammen, dass das Reich eine Rechtssicherungseinheit war, dass die obersten Reichsgerichte im Alten Reich eine so hervorragende Rolle gespielt haben."
"Als weiteres muss man sicherlich sagen, dass insbesondere in der späteren Phase, in der das internationale Staatensystem in Europa sich entwickelt hatte, die Mitte Europas nur durch die Existenz des Reiches befriedet werden konnte oder in Frieden gehalten werden konnte. Sodass also die nichtstaatliche Struktur der europäischen Mitte für ganz Europa wichtig war. Und wie wichtig dieses war, kann man ja ablesen von den Katastrophen, die dann im 19. und 20. Jahrhundert., in dem Moment, in dem diese Mitte Europas dann staatlich, nationalstaatlich geeint war und dann als mächtige politische Potenz in dieses Mächteringen eingriff, wie da die europäische Mitte, praktisch bis in unser 21. Jahrhundert. hinein, wo das endlich überwunden ist, nicht mehr sozusagen die Verankerung des europäischen Friedens leistete."
Das wichtigste Forum des Reiches, um etwa über Krieg, Steuern oder Außenpolitik zu debattieren, war der Reichstag. Seit dem 15. Jahrhundert hatte sich dieses Gremium zu einer Ständeversammlung entwickelt, die das Reich als eine Art Gemeinwesen repräsentierte. Hier wurden Entscheidungen im Konsens gefällt. Allerdings war der Reichstag nicht ein:
"…im modernen Sinne demokratisch legitimiertes Gremium, sondern die Großen des Reiches trafen sich dort, verhandelten den Frieden, verhandelten Gesetzesvorhaben, handelten aus ein Gleichgewicht zwischen großen und kleinen Reichsständen, die kleinen die Reichsstädte, die Reichsritter, die großen die Kurfürsten und Fürsten, und, vor allen Dingen konkretisiert in der Einheit von Kaiser und Reichsständen in einem gewissen Dualismus."
Obgleich der Reichstag also keine demokratische Interessenvertretung war sondern eine Versammlung von Herrschaftsträgern, ist seine integrative Funktion nicht zu unterschätzen. Sein Einfluss bewährte sich in solchen Augenblicken der Geschichte, in denen die Einheit des Reiches zu zerbrechen drohte, wie etwa während des Dreißigjährigen Krieges:
"Der Reichstag war entscheidend, dass nach 1648 das Reich nicht auseinander fiel, sondern dass auch die Glieder des Reiches, die sich zu unabhängigen Staaten entwickeln, unabhängig waren sie ja nicht im vollen souveränen Sinne, dass die im Reich blieben, und dass das Reich als nichtstaatliche politische Organisation der deutschen Stände und später der deutschen Territorien erhalten blieb. Dieses wurde auf dem Reichstag geleistet, und wir sollten zunächst mal diese ungeheure föderal zusammenbindende Leistung des Reichstages würdigen und nicht sagen, was er nicht geschaffen hat, geschafft hat, denn das war überhaupt nicht zu schaffen. Das Reich war kein Staat im modernen Sinne und sollte dieses auch nicht werden."
Außenpolitisch beschäftigte den Reichstag die Abwehr der Türken. Innenpolitisch mussten immer wieder Konfessionsfragen behandelt werden. Einen Höhepunkt dabei bildete die Reformationszeit. 1521 kam es auf dem Wormser Reichstag zu dem legendären Auftritt Martin Luthers, bei dem er sich weigerte seiner Lehre abzuschwören. Luther verkündete damals:
"Weil denn Eure allergnädigste Majestät und fürstlichen Gnaden eine einfache Antwort verlangen, will ich sie ohne Spitzfindigkeiten und unverfänglich erteilen (...) ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es offenkundig ist, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen."
Karl V. konnte solche Worte nicht durchgehen lassen. Für ihn zählt die Einheit von Kirche und Reich, die seiner universalistischen Kaiseridee entsprach. Noch in der Nacht nach Luthers Auftritt verfasste er einen Brief, der am nächsten Tag vor dem Reichstag verlesen wurde:
"So bin ich entschlossen, festzuhalten an allem, was seit dem Konstanzer Konzil geschehen ist. Denn es ist sicher, dass ein einzelner Bruder irrt, wenn er gegen die Meinung der ganzen Christenheit steht, da sonst die Christenheit tausend Jahre oder mehr geirrt haben müsste. Ich bedaure, so lange gezögert zu haben, gegen ihn vorzugehen. Er habe sein Geleit; aber ich werde ihn fortan als notorischen Ketzer betrachten(...)"
Die Auflösung des Konflikts erfolgte 1555 im Augsburger Religionsfrieden, der die Koexistenz von Katholiken und Protestanten sicherstellte. Er begründete einen Frieden, der über eine lange Zeit hielt und in der der Reichstag nur einmal einberufen wurde. Erst der Dreißigjährige Krieg beendete diese Periode.
Der Reichstag wirkt also zunächst als ein wichtiges Gesetzgebungsorgan, aber er gibt auch Auskunft über die territoriale Beschaffenheit des Reiches. Allerdings ist die Frage nach der Reichsgrenze oder besser der Peripherie des Reiches prinzipiell nicht leicht zu beantworten:
So kann man zum Reich, im engeren Sinne, zählen, wer auf dem Reichstag Sitz und Stimme hatte, also im Wesentlichen die Angehörigen Deutschlands und Österreichs. Auf dieses Reichsverständnis bezieht sich auch der im 15. Jahrhundert. auftauchende Zusatz "Heiliges Römische Reich Deutscher Nation". Er artikuliert ein ethnisches Zusammengehörigkeitsgefühl der in den Reichsinstitutionen organisierten Vertreter deutscher Sprachgebiete und lässt Ansätze eines sich entwickelnden Nationalgefühls erkennen.
Oder aber man versteht das Reich als eine Lehenskonstruktion, zu der neben Deutschland und Österreich auch Teile Italiens, der Niederlande oder der Schweiz gehörten, denn die Lehenshoheit des Kaisers hatte einen erheblich größeren Radius als der Einflussbereich des Reichstages. Das Reich als Lehensreich wäre demnach als ein transnationales und vielsprachiges Gebilde anzusehen. Kaiser Karl IV., der seinen Wohnsitz in Prag hatte, erließ 1356 ein Gesetz über die Königswahl (die Goldene Bulle), in dem es auch ein Kapitel zur Mehrsprachigkeit gibt:
"Da die Erhabenheit des Römischen Reiches die Gesetze der an Gebräuchen, Lebensweise und Sprache verschiedenen Völker und deren Leitung zu regeln hat, ist es angemessen (...), dass die Kurfürsten (...) in den Unterschieden der einzelnen Sprachen und Zungen unterwiesen werden, damit sie mehr Leute verstehen und von mehr Leuten verstanden werden – sie, die der kaiserlichen Hoheit bei der Abhilfe der so überaus zahlreichen Nöte beistehen (...) Deswegen setzen wir fest, dass die Söhne (...) der erlauchten Kurfürsten (...) von ihrem siebenten Lebensjahr in lateinischer Grammatik und in italienischer und slawischer Sprache (also tschechisch) unterrichtet werden, sodass sie bis zum 14. Lebensjahr entsprechend der ihnen von Gott verliehenen Gnade darin gebildet sind."
Nachdem das Lehensreich Jahrhunderte hindurch bestanden hatte, begann im 18. Jahrhundert die Erosion. In dieser Zeit wendeten sich die deutschen Kur- und Reichsfürsten von dem Brauch und der Pflicht ab, ihre erblichen Lehen vom Kaiser erneuern zu lassen. Das aufwendige Zeremoniell, Kniefall vor dem Kaiser inklusive, hatten die Fürsten ohnehin schon an ihre Gesandten übertragen. Natürlich wusste man, was man tat: Ein reichshofrätliches Rundschreiben machte bereits 1749 auf die Risiken für den Reichszusammenhalt aufmerksam:
"Da die Belehnungen in der Sache selbsten die Verbindlichkeit zwischen Haupt und Gliedern, anmit den Eintritt des Investiti in den [Reichs]Cörper enthalten, so folget, dass derselben Unterlassung die Verbindlichkeit aufhebe und eine allgemeine Trennung und Zertheilung nach sich ziehen müsse."
Die Weigerung, sich die Lehen erneuern zu lassen, bedeutete also weit mehr als ein formales Aufbegehren. Es war der Ausdruck für eine Entwicklung im Reich, in der die sich modernisierenden Staaten eine größere Souveränität beanspruchten.
Sowohl Preußen als auch Österreich, von Vernunftrechtstheorien beeinflusst, reformierten ihre Staatswesen so, dass sie Heer, Verwaltung und Schulwesen zentralisierten, strafften und vereinheitlichten. Die Alleingänge dieser hochorganisierten Staaten stellten für den auf Konsens ausgerichteten Reichsverband zunehmend eine Zerreißprobe dar. Endgültig zu sprengen, vermochten die fast souveränen Staaten den Reichsverband erst, als sie auch noch Krieg gegeneinander führten. Etienne François:
"Der Beginn des Todesstoßes gegen das Alte Reich, das war das Hervorkommen des späteren Dualismus zwischen Österreich und Preußen. Und wenn jemand das Reich zerstört hat, dann ist es nicht Napoleon, sondern Friedrich II. mit dem Kriegseintritt gegen Österreich 1740.
Das ist der eine Grund, der zweite Grund, das ist die massive Herausforderung durch die Französische Revolution und den französischen Expansionismus. Und das Reich als eine Institution der Befriedung im Innern war völlig außer der Lage diese Herausforderung positiv zu meistern. Und diese zwei Elemente zusammen, zuerst die preußische Provokation und dann die französische Provokation brachten dieses alte Gebilde zum Sturz."
Preußens Separatismus, der mit dem Krieg gegen Österreich begonnen hatte, wurde ein weiterer Baustein hinzugefügt, als Preußen 1795 im 1. Koalitionskrieg mit Frankreich Frieden schloss. Ein Beispiel, das Schule machen sollte. Der fortschreitende Zerfall des Reiches löste einen bisher nicht gekannten Gebietsschacher aus.
Sowohl die Säkularisation nach französischem Vorbild als auch die Aufteilung von Reichsstädten sorgte dafür, dass etliche Fürsten zu Territorien kamen, die weit größer waren, als die vorangegangenen Besitzungen. Festgeschrieben wurde die rabiate Umverteilung 1803 im Reichsdeputationshauptschluss, dem der Reichstag formal zustimmte.
Chaotisch und interessengelenkt zeigten sich die letzten Momente des Heiligen Römischen Reiches. Deutsche Fürsten schlossen sich im Rheinbund Napoleon an. Der Kaiser des Reiches ließ sich noch 1804 zum Kaiser Österreichs proklamieren, nachdem sich Napoleon kurz zuvor zum Kaiser der Franzosen ernannt hatte. Kaiser Franz II. ahnte wohl, dass man sich in Zukunft auf kleinere Territorien würde beschränken müssen. Es dauerte dann auch nicht mehr lange und der Habsburger legte am 6. August 1806 auf Druck Napoleons die Kaiserkrone nieder und erklärte:
"Wir Franz der Zweite, von Gottes Gnaden erwählter römischer Kaiser, zu allen Zeiten Mehrer des Reichs, Erbkaiser von Oesterreich etc., König in Germanien, zu Hungarn, Böheim, Croatien, Dalmazien, Slavonien, Galizien, Lodomerien und Jerusalem, Erzherzog zu Oesterreich (...) Wir erklären (...), dass Wir das Band, welches Uns bis jetzt an den Staatskörper des deutschen Reichs gebunden hat, als gelöst ansehen (...) und die (...) bis jetzt getragene Kaiserkrone und geführte kaiserliche Regierung (...) niederlegen. Wir entbinden zugleich Churfürsten, Fürsten und Stände und alle Reichsangehörigen (...) von ihren Pflichten."
Der Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation löste ganz unterschiedliche Reaktionen aus: Goethe hatte zunächst Schwierigkeiten "sich selbst im Gleichgewicht zu halten", bezeichnete das Reich aber später als "überlebtes Welttheater". Martin Wieland hingegen sorgte sich bereits um die Sicherheit:
"Leiden, zusehen, sich alles gefallen lassen, ist jetzt das Einzige, was denen über bleibt, die keine Armeen ins Feld schicken können."
Und Goethes Mutter schrieb bestürzt an ihren Sohn:
"Mir ist übrigens zu muthe als wenn ein alter Freund sehr kranck ist, die ärzte geben ihn auf mann ist versichert dass er sterben wird und mit all der Gewißheit wird man doch erschüttert wann die Post kommt er ist todt. So gehts mir und der ganzen Stadt – Gestern wurde zum ersten mahl Kaiser und Reich aus dem Kirchengebet weggelaßen."
Die Deutschen befanden sich nach dem Kollaps des Reiches in einer Identitätskrise, die lange nachwirken sollte. An Versuchen hat es nicht gemangelt, das Alte Reich, auch wenn man es im Grunde für morsch hielt, wieder aufleben zu lassen, und sei es in der Phantasie.
Nicht nur, dass eine alte Ordnung untergegangen war, die Halt gewährt hatte. In den Jahrhunderten des Alten Reiches entstanden einzigartige Werke in Kunst und Kultur: die ottonische Buchmalerei; den Speyerer Dom der Romanik; die Gotik der Familie Parler; die Blüte der mittelalterlichen Literatur; die Renaissance, die Humanisten, Dürer, der Buchdruck und den Barock, Mozart, Dresden, Würzburg...
Auf dem Weg in eine neue Epoche, die des Nationalstaats, er führte über die Befreiungskriege, den Deutschen Bund und die Märzrevolution zum Kaiserreich von 1871, auf dem Weg in diese neue Epoche, sollte das Reich immer wieder als, ungefüges, Modell für eine zukünftige Staatlichkeit Deutschlands fungieren.
Nicht zuletzt auch für nationale Hypertrophien, wie sie sich bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein erstreckten. Mit dem Anbruch des 21. Jahrhunderts, der weit reichenden Reduktion der Nationalstaaten in Europa, scheint nun das Alte Reich auf unerwartete Weise wieder Gesprächsstoff zu bieten.
Ausstellung: "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation "
Kulturhistorisches Museum Magdeburg: "Von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters"
Deutsches Historisches Museum Berlin: "Altes Reich und neue Staaten 1495-1806"