Reichel: Eine fatale Gleichsetzung

Moderation: Dieter Kassel |
Der Politikwissenschaftler Peter Reichel hat den Vertriebenenverbänden vorgeworfen, eine Aufwertung und Gleichsetzung von Vertreibungsopfern und Judenmord zu betreiben. Dies sei ein Skandal, sagte der Wissenschaftler. Auch der ARD-Fernsehfilm "Die Flucht" habe nicht zu einem tieferen Verständnis der Geschichte beigetragen. Es sei ein Film in der "Machart der Rosamunde Pilcher".
Dieter Kassel: Im Fernsehen ist die Flucht beendet. Gestern lief in der ARD der zweite Teil des Fernsehfilms "Die Flucht". Die Geschichte der Gräfin Lena von Mahlenberg und ihrer Flucht aus Ostpreußen im Winter 1945 ist damit dort abgeschlossen. Aber die Diskussion um deutsches Leid im Zweiten Weltkrieg, um Schuld und Sühne, die hat wohl gerade erst so richtig angefangen. Professor Peter Reichel, Politikwissenschaftler an der Uni Hamburg, hat unter anderem ein Buch geschrieben über die Verarbeitung der Nazizeit in den Jahren 1950 bis 1980 ungefähr, "Die erfundene Erinnerung" heißt dieses Buch, das übrigens sehr bald im Mai auch als Taschenbuch noch einmal herauskommt, und er hat sich pflichtbewusst unter anderem für uns auch den ARD-Film angesehen, gestern Abend auch noch mal den zweiten Teil. Schönen guten Morgen Professor Reichel!

Peter Reichel: Ich grüße Sie, Herr Kassel!

Kassel: War denn das ein lohnender Fernsehabend für Sie, diese Sendung zu sehen?

Reichel: Nein, ehrlich gesagt, nicht. Ich habe es Ihretwegen getan und, ja, ein Vergnügen war es nicht, aber es war lehrreich, weil es Wahrnehmung, Einschätzung, Bewertung bestätigt hat, die ich in den letzten zehn Jahren beim Zuschauen von NS-bezogenen Fernsehfilmen gewonnen habe.

Kassel: Konkret in diesem Fall: Die Darstellung dieser Flucht aus Ostpreußen von einer adeligen Gräfin, aber natürlich von vielen Menschen drum herum, was hat Sie daran gestört, wie das jetzt im Fernsehen zu erleben war?

Reichel: Also die Fairness jedes Kritikers verlangt es ja, doch zunächst zu sagen, was einem gefallen hat. Gefallen hat mir die Filmfotografie, gar keine Frage. Die Filmdarsteller, die schauspielerischen Leistungen sind wie so oft bei solchen Ereignissen bedeutend besser als die Filmidee, als das Drehbuch, das offenbar inspiriert ist von so populären Erinnerungsbüchern wie dem von der Gräfin Dönhoff. Also, was Sie schon angedeutet haben, eine Gutsherren- oder, besser gesagt, Gutsfrauenfamilie, es ist ja die Stunde der Frauen, flieht samt Personal im letzten Kriegswinter vor der Roten Armee und kommt nicht ohne Verluste im Frühjahr im idyllischen Bayern an. Ostpreußen ist untergegangen, mit einem Wort, aber Bayern den Deutschen erhalten geblieben. Die Gutsherrin bricht nun definitiv mit dem 19. Jahrhundert, das die ganze Zeit im Hintergrund des Films präsent ist, der aristokratischen Guts- und Selbstherrlichkeit. Der I-Punkt ist dann eine deutsch-französische Liaison mit dem vormaligen Zwangsarbeiter Francoise. Es ist immerhin eine Produktion für den deutsch-französischen arte-Sender, aber es ist ein deutsch-französischer Vertreibungsfilm nach der Machart der Rosamunde Pilcher, der Zuschauer, der kritisch informiert sein möchte, nicht nur sentimental unterhalten, der wird enttäuscht. Ein für mich überragend wichtiger Vergleichsfilm, der immerhin schon 1979 in den USA entstanden ist, Vierteiler, "Holocaust", wird nicht annähernd erreicht. Dieser Film hat damals das selten geglückte Kunststück fertig gebracht, eine Familiensaga, eine private Lebenswelt mit der großen allgemeinen Zeitgeschichte zu verbinden. Dieser Film, das ist mein Hauptvorwurf, lässt eine Familiensaga sich verselbständigen gegen die politische Geschichte des Zweiten Weltkrieges, die unverstanden und letztlich auch unbekannt bleibt.

Kassel: Nun haben vor der Ausstrahlung dieses Films einige Historiker und andere Menschen auch etwas anderes befürchtet, nämlich dass der Film die Flucht, das Leid der Deutschen so in den Vordergrund stellen könnte, dass Deutsche plötzlich nur noch als Opfer des Zweiten Weltkriegs da stehen und nicht mehr auch als Täter. Muss man dieser Produktion nicht immerhin zugute halten, dass das letzten Endes so nicht passiert ist?

Reichel: Jein. Offensichtlich hat, zumindest war das mein Eindruck gestern Abend, die ARD dem Spielfilm dieses kritische Moment nicht wirklich zugetraut, sonst hätte sie wohl nicht noch einen Dokumentarfilm nachgereicht, der sich doch um die zeithistorische Einbettung und Aufklärung bemüht. Dort, in diesem Aufklärungsfilm, in diesem Dokumentarfilm wird eigentlich erst unmissverständlich deutlich gemacht, dass Vertreibung, dass Flucht, Enteignung, Vergewaltigung, Zwangsumsiedlung der Deutschen die Antwort, die Rache derer gewesen ist, die von den Deutschen heimgesucht, vergewaltigt, zwangsumgesiedelt worden sind. Also dort im Dokumentarfilm kommt erst doch im größeren Umfang auch mit so genannten Zeitzeugen eben das Leid der osteuropäischen Zivilbevölkerung zum Ausdruck, zum Tragen, dass wir in den letzten Jahren, Jahrzehnten, das Leid insbesondere der polnischen und russischen Zivilbevölkerung viel zu wenig zur Kenntnis genommen haben. Im Übrigen, wenn ich das noch sagen darf, hat der Film für mein Empfinden also so eine gewisse Verkrampfung doch nicht überspielen können, hat ganz offensichtlich die Produzenten, der Regisseur, war mein Eindruck, Angst etwas falsch zu machen. Russische Grausamkeiten werden mit deutschen Wehrmachtsverbrechen gekontert. Das Unrecht, das auf jeder Seite begangen wird, wird gleich auch gesühnt, also ein russischer Offizier beispielsweise erschießt die Soldaten, die deutsche Frauen vergewaltigt haben und so weiter.

Kassel: Der Produzent dieses Zweiteilers, Nico Hofmann, hat in einem Interview gesagt, die Darstellung der Vertreibung und des deutschen Leids, die sei in Film und Fernsehen in Deutschland bisher so überhaupt nicht möglich gewesen, da habe es ein großes Tabu gegeben. Hat er damit Recht?

Reichel: Ich finde, ehrlich gesagt, die Behauptung ist etwas dreist, oder sie zeugt, da bin ich mir nicht ganz sicher, vom schlechten Gedächtnis des Produzenten. Ich bin weiß Gott kein Freund von dem ZDF-Geschichtsprofessor Guido Knopp in Mainz, aber wenn sich einer in jüngster Zeit als Tabubrecher in Sachen Vertreibung betätigt hat, dann war er es beziehungsweise das um ihm versammelte Mainzer Team mit dem, das war ein Fünfteiler, glaube ich, "Die große Flucht", der 2001 ausgestrahlt worden ist. Also das nur in jüngerer Zeit, und im Übrigen ist das Thema ja bereits, bevor es dann wieder in Vergessenheit geraten ist in den fünfziger Jahren, durchaus massenmedial aufbereitet worden.

Kassel: Nun meint aber, glaube ich, Nico Hofmann, und den Eindruck kann man manchmal haben, dass die Darstellung deutschen Leids, das war ja neben Flucht und Vertreibung, nicht nur aus Ostpreußen, waren es natürlich auch die Bombennächte von Hamburg und von Dresden, es gab den Dresden-Film im ZDF nun auch vor einigen Monaten, dass aber jahrzehntelang dieses deutsche Leid so als wirklich bedeutendes Leid in den Medien nicht gezeigt werden durfte. Darauf will er hinaus. War das nicht für einige Jahrzehnte tatsächlich auch richtig nach dem Krieg?

Reichel: Das stimmt, aber wenn wir genauer hingucken, dann wird man nicht verkennen dürfen, dass wir doch in den ersten fünf bis zehn Jahren, aber auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Phase gehabt haben, in der das aufgebaut worden ist, was wir heute den ersten deutschen Opfermythos, also etwas weniger pathetisch gesprochen, das deutsche Opferselbstbild nennen, das sehr stark fokussiert war auf das Kriegsende, in der die Deutschen natürlich auch von beiden Seiten, also durch die NS-Führung und ihre Anstrengungen, sich zu behaupten und den Krieg nach Möglichkeit zu gewinnen, zu Opfern gemacht wurden, die vorher Mitläufer und Täter waren und durch den Krieg der Anti-Hitler-Koalition natürlich auch in Mitleidenschaft gerieten. Also alle waren Schicksalsgruppen in irgendeiner Weise in Mitleidenschaft gezogen. Selbst die Alliierten haben, um die Deutschen für den Wiederaufbau zu gewinnen, diese Sichtweise, die Deutschen seien Opfer Hitlers, nach Kräften unterstützt. Die berühmte Rede hat Jackson bei der Eröffnung des Militärtribunals in Nürnberg gehalten, als er das Gros der Deutschen, eigentlich neun Zehntel aller Deutschen zu Opfern Hitlers erklärte und deutlich unterschied von Hitler und einer kleinen kriminellen Clique um ihn. Das hat das deutsche Selbstbewusstsein und das deutsche Selbstverständnis im Wiederaufbau der ersten 10, 15 Jahre nachhaltig geprägt und geriet dann in den Hintergrund, als man etwa ab Anfang der sechziger Jahre, Stichworte sind Eichmannprozess und Ausschwitzprozess, dann doch das Zentrum des Verbrechens, den Wesenskern des Nationalsozialismus erkannt und begriffen hat, nämlich die Vertreibung, die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden.

Kassel: Herr Reichel, lassen Sie uns jetzt aus den Medien endgültig heraus zur Realität kommen und darüber reden, was auch dieser Film, aber auch die Diskussion, so wie es sie im Moment gibt, bedeutet zum Beispiel für Bestrebungen für die Gründung eines Erinnerungsortes, der an Vertreibung erinnern soll, ein Zentrum für Vertreibung, sei es in Polen oder sei es sogar in Berlin. Tragen solche Medienereignisse dazu bei, dass die Menschen, die sich ein solches Zentrum in Berlin wünschen, wieder die Oberhand gewinnen?

Reichel: Der Film unterstützt das wohl nicht vorsätzlich, aber ich sehe eine deutliche Anbindung an das, was durch die Vertreibungsausstellung, insbesondere in dem Zentrum, und durch die neue medialoffensive Geschichtspolitik der Frau Steinbach im Gange ist. Ich versuche das mal auf eine griffige Formulierung zu bringen und auch die Differenz, den Wandel, die Veränderung in der Geschichte der Vertriebenenverbandspolitik anzudeuten, was lange Zeit anrüchig und anstößig war im In- und Ausland. Also die so genannte Aufrechnungspolitik der Zeit des Kalten Krieges ist passé. Was heute gemacht wird, ist eine nicht Aufrechnung, sondern Aufwertung der Leiden der Vertriebenen. Das geschieht auf eine Art und Weise, dass Flucht und Vertreibung auch den Rang, den Status einer Deportation bekommen, damit ein Menschlichkeitsverbrechen werden, in die Nähe des Völkermordes gerückt werden, und das halte ich für ausgesprochen fatal. Kein geringerer als der vormalige Berliner Akademie Präsident, der ungarische Jude György Konrad, hat bei der Eröffnungsfeier das angesprochen und in seiner sehr noblen, sehr zurückhaltenden Rede, die deportierten europäischen Juden und die deutschen Vertreibungsopfer so verglichen, dass er gesagt hat, das Reiseziel der durch die deutschen deportierten europäischen Juden seien die Gaskammer von Auschwitz gewesen, das Reiseziel der vertriebenen Deutschen war Bayern, war Österreich, war Niedersachsen oder Schleswig-Holstein. Es ist nicht berichtet worden, dass irgendjemand der anwesenden Gäste das Kronprinzenpalais stumm, betroffen verlassen hätte. Ich habe nicht gesehen, dass man nächsten Tag in den Zeitungen darüber berichtet worden ist. Das ist der eigentliche Skandal, diese neue Aufwertung und Gleichsetzung von Vertreibungsopfern und Judenmord.

Kassel: Nun sagen gerade die Vertriebenenverbände, die Gruppen, die sich für ein Zentrum für Vertreibung auch nicht Polen, sondern in Berlin einsetzen, sagen, dass sie genau das aber eben nicht wollen angeblich, sie wollen nicht das Leid deutscher Bevölkerungsgruppen durch Flucht und Vertreibung aufrechnen oder überhaupt in eine Relation setzen zum Leid von Juden und anderen von den Nazis umgebrachten Menschen. Es gab auch eine Ausstellung, die das ja angeblich beweisen sollte, dass das so nicht gemeint ist. Ist das am Ende nicht gelungen.

Reichel: Herr Kassel, Sie haben ja Recht. Von einer Aufrechnung ist nichts mehr zu sehen und zu hören, Gott sei Dank nicht. Das strategische Instrumentarium ist, wenn ich das so sagen darf, raffinierter geworden, intelligenter. Man ist schließlich in Europa angekommen und ordnet sich ein in die Vielzahl der mit dem Krieg verbundenen Vertreibungen, Menschlichkeitsverbrechen, wie das in der neuen völkerstrafrechtlichen Diktion heißt. Aber damit wird das Spezifische aus der deutschen Sicht ja doch sehr deutlich relativiert und gleichzeitig eben als Genozid aufgewertet, und das Spezifische kann doch immer nur heißen aus der Sicht von deutschen Verbandspolitikern und deutschen Journalisten und Produzenten von Filmen und Büchern über diese Zeit, wie ist es dazu in Deutschland gekommen. Und nach der unmittelbaren oder weiteren, älteren, längeren Vorgeschichte von 33 wird umso weniger gefragt, je mehr der Blick auf das Kriegsende und das danach in das beginnende neue Deutschland und neue Europa fällt.

Kassel: Gestern Abend ging in der ARD der Fernsehfilm "Die Flucht" mit dem zweiten Teil bereits zu Ende. Die Diskussion in diesem Themenbereich, die hat aber wohl doch erst begonnen. Wir haben gerade mit dem Politikwissenschaftler Peter Reichel darüber geredet. Sein Buch über die Verarbeitung der NS-Zeit in Film und Fernsehen in der Zeit von 1950 bis 1980 "Erfundene Erinnerung" erscheint in einigen Wochen in einer Taschenbuchausgabe. Herr Reichel, ich danke Ihnen.