"Reichstag-Reenactment" bei Kunstfest Weimar

Wir spielen Weimarer Republik

05:32 Minuten
21.08.2019, Thüringen, Weimar: Mit der Nachstellung eines historischen Fotos auf dem Theaterplatz vor dem Deutschen Nationaltheater Weimar beginnt die Uraufführung "Reichstags-Reenactment" beim Kunstfest Weimar. Rund 500 Menschen stellen die Weimarer Nationalversammlung und den deutschen Reichstag nach und lesen Ausschnitte aus Reden und Debatten. Regie führt Nurkan Erpulat.
Bürger, Politiker und Schüler stellen vor dem Nationaltheater Weimar ein Foto von 1919 nach. © Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dpa
Von Henry Bernhard |
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Nach der letzten Sitzung der verfassungsgebenden Nationalversammlung in Weimar am 21.August 1919 versammelten sich die Parlamentarier auf dem Balkon für ein Foto. 100 Jahre später eröffnet das Kunstfest Weimar mit einer Re-Inszenierung der Aufnahme.
Der Theaterplatz in Weimar ist vollgefüllt und der neue Kunstfest-Chef, Rolf Hemke, startet sein erstes Kunstfest.
"Ich fühle mich den ganzen Tag schon, als ob ich Geburtstag hätte! Es ist irgendwie ein sehr glücklicher Tag. Und ich glaube, wir schreiben auch in einer ganz schönen Art und Weise diese Kunsttradition von Weimar fort. Vergessen Sie nicht, dass Goethe und Schiller zu ihrer Zeit Avantgarde waren! Und niemand wusste, welchen Status sie in der Zukunft haben werden. Wir haben, wenn wir Glück haben, vielleicht auch die Goethes und Schillers von morgen in unseren Künstlerreihen", hofft Hemke.
Am Anfang eines Weimarer Kunstfests steht traditionell ein Spektakel. In diesem Jahr geht es darum, einen Tag vor genau 100 Jahren nachzuempfinden, den Tag der letzten Sitzung der Weimarer Reichsversammlung, den Tag, als Fotos entstanden, die die Abgeordneten auf der Treppe und dem Balkon des Deutschen Nationaltheaters zeigen.
Die Bürger sind aufgefordert, sich in schwarze Anzüge bzw. lange Röcke zu kleiden und möglichst einen Hut zu tragen.
"Ich hoffe, Sie kennen das Foto! Sie sehen es alle, bestimmt. Und da sind Sie – und Sie sind genau hier. Und das werde ich jetzt mit Ihnen koordinieren. Da hinten gibt es Hüte. Einige von Ihnen haben das schon entdeckt" animiert der Moderator das Publikum.
Nationalversammlung Weimar 1919
So sah es 1919 im Nationaltheater aus.© Kunstfest Weimar

Das Foto wird vielfältiger als das Original

Die Strohhüte reichen nur für wenige, das Bild gerät am Ende viel weniger steif, viel weniger historisch anmutend, weniger staatstragend, viel moderner und vielfältiger als die historische Vorlage – und damit wohl sogar im Sinne der Erfinder.
Balkon des Weimarer Nationaltheaters bei "Reichstag-Reenactment"
2019 auf dem Balkon des Nationaltheaters.© Henry Bernhard
Zwei Weimarer Frauen stehen mittendrin, Magdalena Roos und Heidrun Reinfried. Sie haben sich stilecht in lange Kleider gewandet und tragen dunkle Hüte.
"Mich berührt dieses hundertjährige Jubiläum von Demokratie und Frauenwahlrecht. Und das haben wir ja jetzt auch nur einmal im Jahrhundert. Und ich lebe gerade, also nehme ich gerne teil", sagt Magdalena Roos.
Zwei Besucherinnen von "Reichstag-Reenactment".
Die Besucherinnen Magdalena Roos und Heidrun Reinfried haben sich extra schick gemacht.© Henry Bernhard
"Ich habe auch gedacht, es ist so eine Zeit, wo Demokratie immer mehr angefragt wird. Und da finde ich es doch wichtig, dass so etwas thematisiert wird und ein Zeichen gesetzt wird. Und ich hatte auch Lust, mich zu verkleiden. Ich habe mich heute auch hingesetzt und einen Rock genäht, und der Rest ist Fundus! Und von einer Freundin sind die Hüte, die wir tragen", ergänzt Heidrun Reinfried.

Im Nationaltheater spielt die Musik

Als die Fotos gemacht sind, geht es hinein ins Nationaltheater, dort, wo die Nationalversammlung die Weimarer Reichsverfassung im August 2019 verabschiedet hat. Schauspieler, Bürger, Politiker lesen Reden, die hier schon einmal erklangen. Doch zunächst: Musik. Matthias Goerne singt das Solidaritätslied.
Zweifelsohne bereichert der Bariton Matthias Goerne das Programm. Ob aber das Solidaritätslied von Bertolt Brecht und Hanns Eisler der richtige Einstieg ist, der ersten demokratischen Verfassung Deutschlands zu gedenken, ist zumindest zweifelhaft. Dann aber spricht Friedrich Ebert – oder besser: sein Darsteller.
"Mit den alten Königen und Fürsten von Gottes Gnaden ist es für immer vorbei. Wir verwehren niemandem eine sentimentale Erinnerungsfeier. Aber so gewiss diese Nationalversammlung eine große republikanische Mehrheit hat, so gewiss sind die alten gottgegebenen Abhängigkeiten für immer beseitigt. Das deutsche Volk ist frei, bleibt frei und regiert in aller Zukunft sich selbst", deklamiert der Ebert-Darsteller unter Beifall.

Beifall an derselben Stelle

Als hätte das Publikum die Abschrift von Friedrich Eberts Rede zur Eröffnung der Nationalversammlung am 6. Februar 1919 vor sich, mit allen Beifalls- und Unmutsbekundungen, applaudiert es an genau derselben Stelle wie die Abgeordneten vor 100 Jahren. Spätestens hier wird klar, dass der Abend funktioniert, dass es um Gegenwart geht.
"Wir wollen errichten ein Reich des Rechtes und der Wahrhaftigkeit, gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt", fordert "Friedrich Ebert".
Diese Worte im Ohr hätte es der Intervention des Weimarer Oberbürgermeisters gar nicht bedurft, der nach dem Vortrag der Rede des historischen Innenministers Franz Kreutz über die damals neuen Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold aus seiner Rolle trat und aufrief, auch heute diese Farben nicht den Verächtern der Freiheit zu überlassen. Schließlich wehte die Fahne übergroß am deutschen Nationaltheater.
Das Kunstfest unter Rolf Hemke ist eröffnet. Nach 3 Stunden Reden von Profis, Laien, Politikern gab es noch Musik und Tanz auf dem Theaterplatz. Es folgen nun 17 Tage Theater, Musik, Performance, darstellende Kunst, Diskussionen. Den Schwerpunkt will Hemke wieder mehr in Richtung Musik verschieben. Die Latte seines Vorgängers Christian Holtzhauer liegt hoch.

Kunstfest Weimar
21.8.-7.9.2019

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