Wie eine graue Stadt erblühte
Die Beatles, die Rolling Stones, The Who, Twiggy, PopArt und Minirock: Die 60er-Jahre machten die britische Hauptstadt zum "Swinging London", zur Drehscheibe einer popkulturellen Revolte. Und das in einer Stadt, in der noch Bombenkrater klafften.
Der popkulturelle Gründungsmythos Swinging London, offiziell proklamiert auf der Titelseite von Time Magazine im April 1966, er hält sich genauso beharrlich wie die seit fünf Jahrzehnten regelmäßig ausgepackten Archivbildsequenzen: Minis und Miniröcke, die Beatles, die Stones, kreischende Mädchen, bisschen Pop Art und Op Art, Schwarzweißfotos von David Bailey, für immer eingebrannt ins kollektive Gedächtnis.
David Gilmour: "It's easy to delude yourself that the sixties was everyone. It just was wasn't ... The sixties that we know and think about and love was only one aspect of what was going on."
Es ist leicht, sich vorzumachen, dass alle Teil der Sixties waren, aber so war es nicht, erinnert sich Pink-Floyd-Gitarrist David Gilmour heute. Die Sixties, wie wir sie kennen und lieben, waren nur ein kleiner Aspekt des Geschehens.
John Savage: "It wasn't like Austin Powers. You're not in a Union Jack jacket in an E-Type driving down Carnaby Street."
Es war nicht wie der Film "Austin Powers", stimmt Pop-Historiker Jon Savage bei. Niemand fuhr in einem Union-Jack-Jackett in einem E-Type Jaguar mit einer 3-D-Compilation der Sixties-Klassiker im Autoradio die Carnaby Street entlang.
Nur eine Laune gelangweilter Oberschicht-Kids?
Genauso beharrlich wie der Mythos Swinging London selbst ist allerdings auch das Bedürfnis, ihn zu demontieren, von Margaret Thatcher bis zu den Punks haben sich viele daran versucht.
Die derzeit gängigste ist die von Leuten wie dem Historiker Dominic Sandbrook vorgebrachte Gegenthese, die fabulösen Sixties hätten tatsächlich bloß in ein paar guten Häusern in Chelsea stattgefunden, wo Jungaristokratie und Popstars in Gesellschaft glamouröser Unterweltfiguren miteinander einen auf Bohemien machten. Völlig unwahr, sagt dazu Joe Boyd, und der war dabei.
"The idea that it was just some elite in Chelsea dabbling in bohemianism is absolutely not true."
Joe Boyd, später ein berühmter Produzent, zog Mitte der Sechziger der Musikszene wegen aus Amerika nach London. Dort erwartete ihn der Kulturschock einer kaum überwundenen Nachkriegsgesellschaft, Bombenlöcher in den Straßen und leere Regale in den Küchen.
"You know my experience as an American coming to Britain was that there wasn't much of a consumerist society. You know the lack of material possessions was startling for an American.”
Meine Erfahrung als Amerikaner, der nach Britannien kam, war, dass es keine besonders entwickelte Konsumgesellschaft gab, sagt Joe Boyd. Die Leute gaben ihr kleines bisschen Geld für Kleidung aus und stellten die Milch aufs Fensterbrett, weil sie keine Kühlschränke hatten. Der Mangel an materiellem Besitz war für einen Amerikaner erschreckend.
"Die Zeiten sind gut, Babe, für dich und mich, die Welt rund um uns fällt auseinander, und ich kann gehen, wohin ich mag, tun was ich will", sang die obskure Band Syd's Crowd, wo kam sie also her, diese Euphorie der Befreiung?
Auslöser war die Profumo-Affäre
Ein wichtiger Einfluss auf Swinging London war die Profumo-Affäre, die eine unglaubliche Wirkung auf Großbritannien hatte. Als hätte man dem ganzen Land den Deckel abgenommen.
Ein Sex-Skandal im Establishment, die Affäre des Ministers John Profumo mit einer 19-jährigen Prostituierten als Initialzünder einer Pop-Revolution. Für Nicht-Briten schwer nachvollziehbar, aber Annie Flowers, damals eine Londoner Teenagerin, erlebte das zumindest auch so.
"The Profumo affair was the beginning of ordinary people seeing the corruption. Them isn't quite what we thought them was. They weren't so respectable after all."
Mit der Profumo-Affäre begannen gewöhnliche Leute die Korruption der Upper Class zu sehen, sagt Annie Flowers, die da oben waren nicht so respektabel, wie wir geglaubt hatten.
Wann immer man britischen Phänomenen auf den Grund geht, landet man bei der britischen Klassengesellschaft. Und selbst wenn die 50 Jahre danach immer noch existiert, ist sich Jon Savage sicher: Swinging London hat was verändert, es war nicht bloß oberflächlicher Mist und nicht bloß ein kleiner Klüngel, es war mehr als das:
"It really did help to change things. It wasn't just superficial crap, it wasn't just a few people in London. It was more than that."