Zahlen, Daten, Interpretationen
Die von den UN-Experten ausgearbeiteten Zahlen sollen die Lebenswirklichkeit von Millionen von Menschen ändern, ihnen den Zugang zu Wasser, Nahrung, zu einer Gesundheitsversorgung, zur politischen Teilhabe und Bildung ermöglichen. Doch wie sinnvoll ist das Hantieren mit Daten?
Anfang Juli 2015 stellen in einem Pressesaal der Vereinten Nationen UN-Experten den diesjährigen Bericht zu den Millenniumsentwicklungszielen vor. Er sei derjenige mit den Zahlen, beginnt Stefan Schweinfest seinen Vortrag. Schweinfest ist Direktor der UN-Statistikabteilung und hat damit eine besonders wichtige Funktion in einem Projekt, das nicht nur als eines der ambitioniertesten überhaupt gilt in der Geschichte der Vereinten Nationen, sondern auch als eines der datenaufwendigsten.
8 – 21 – 60 heißt das Grundgerüst, um das sich seine Arbeit spannt. Die Zahlenfolge ist das Rückgrat der Millenniumsentwicklungsziele – kurz MDGs – und steht für acht Entwicklungsziele, 21 Teilziele und 60 Indikatoren, mit denen der Fortschritt der Ziele und Teilziele gemessen werden soll.
Auf dem Papier sind die MDGs eine nüchterne Auflistung von Punkten, die es zu erreichen gilt. In der Lebenswirklichkeit von Millionen Menschen, so war die Idee, sollten sie bedeuten, dass ein Mangel behoben wird – ein Mangel an Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung, Teilhabe, Bildung, der ihnen das Leben erschwert oder unmöglich macht.
Trotz vieler ermutigender Ergebnisse hinkt eine große Zahl der Länder bis heute hinter den Zielen her. Und auch wenn die internationale Zusammenarbeit rund um die MDGs auch die Arbeit vieler nationaler Statistikbehörden gestärkt hat, sagt manches Resultat, das auf dem Papier erfolgreich wirkt, wenig über die Realität in den Ländern aus, die sich schon wegen ihrer unterschiedlichen Startvoraussetzungen und verschiedenen nationalen Gegebenheiten schlecht vergleichen lassen.
Michael Gahler: "Wenn man die Daten als solche betrachtet, sehe ich in einem kleineren Land, wo es sich besser agieren lässt wie Ruanda, durchaus die Zahlen auf einer besseren Seite, was z.B. die Korruptionsbekämpfung angeht, aber in Ruanda ist dann in Sachen Demokratie ein deutlicheres Defizit festzustellen."
Michael Gahler, CDU-Politiker, Europa-Abgeordneter und Vorsitzender der Delegation für die Beziehungen mit dem panafrikanischen Parlament.
"Insofern kann man durchaus Ergebnisse erzielen, die statistisch gut aussehen, dann aber auch einen Preis in Sachen Demokratie haben."
Fortschritte messen und benennen können
In dem Balance-Akt, die Ziele einfach und vermittelbar zu halten, wie bei ihrer Verabschiedung im Jahr 2000 beabsichtigt, gleichzeitig aber auch Fortschritte messen und benennen zu können, klafft so oft eine erhebliche Lücke zwischen Papier und Realität. Wie etwa bei Entwicklungsziel 2: Eine Grundschulausbildung für alle, für Jungs wie für Mädchen, sicherzustellen. Die Zahl der Kinder im Grundschulalter, die nicht zur Schule gehen, heißt es im MDG Bericht 2015, sei im Vergleich zum Jahr 2000 um fast die Hälfte gefallen. Das klingt erst einmal gut.
Nicole Rippin: "Gerade die Schulbildung ist ein guter Aspekt. Man hat sich input-Faktoren angesehen, also nicht wirklich das, worum es uns geht."
Sagt Nicole Rippin, die am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik zu den Millenniumszielen forscht.
Nicole Rippin: "Man hat sich als Ziel gesetzt, dass Kinder eingeschult sein sollen. Das ist aber ja nicht, worum es uns geht, es geht uns ja darum, dass sie etwas lernen, was ihnen später eine gute Zukunft ermöglicht."
Nach dem Bau tausender neuer Schulen war in vielen Ländern kein Geld für Lehrer übrig oder nur für solche, die selbst kaum ausgebildet waren. 130 Millionen Kinder weltweit, schätzt ein Unesco-Bericht, konnten 2012 trotz abgeschlossener Grundschule weder lesen noch schreiben.
Manchmal scheiterte die Fortschrittsbeobachtung aber auch schlicht daran, dass die in den einzelnen Ländern gesammelten Daten so unzuverlässig waren, dass beinah jeder Schluss daraus gezogen werden konnte - oder dass sie erst gar nicht vorhanden waren, wie es im letzten Bericht zu den Entwicklungszielen nachzulesen ist.
Eine Studie der Weltbank zeigt, dass für etwa die Hälfte der 155 betrachteten Länder ausreichende Daten zur Überwachung der Armut fehlen und damit die ärmsten Menschen in diesen Ländern oft unsichtbar bleiben.
Den Statistikern fehlte also eine verlässliche Arbeitsgrundlage. Problematisch wurde es aber dann, sagt Nicole Rippin, wenn sie die Betrachtungsweise änderten, um trotzdem arbeiten zu können.
Nicole Rippin: "Man hat bei den MDGs dann oft gesagt, wenn wir die Daten nicht haben, dann nehmen wir eben die Daten, die zur Verfügung stehen. Das war in vielen Fällen eine ganz schlechte Entscheidung."
Menschenrechte verletzen, um die Ziele zu erreichen?
Als etwa offensichtlich wurde, dass die Verbesserung der Lebensumstände von Slumbewohnern nicht gemessen werden konnte, weil es keine verlässlichen Zahlen dazu gab, wie viele Menschen Zugang zu einer sicheren Unterkunft haben, formulierte man den entsprechenden Indikator um - zugeschnitten auf Daten, die tatsächlich vorhanden waren. Als Maßstab gilt seitdem die Menge der städtischen Bevölkerung, die in Slums lebt.
Eine besonders eindrückliche Folge war Vietnams Reaktion: Das südostasiatische Land ließ seine Slums kurzerhand räumen, machte damit tausende Menschen obdachlos, und listete das Unterfangen als eine Anstrengung auf, die Millenniumsziele zu erfüllen.
Nicole Rippin: "Das ist natürlich eine unglaubliche Verletzung der Menschenrechte. Es hat aber dazu geführt, dass es durchgeführt wurde aufgrund der falschen Anreize, die durch die MDG gesetzt wurden. Das ist natürlich etwas, was wir absolut nicht wollen. Dass absolute Menschenrechtsverletzungen umdefiniert werden zu großen Anstrengungen der MDGs. Das zeigt, was für fatale Folgen es haben kann, wenn man Indikatoren benutzt, die einfach schlecht sind."
Auch die Vereinten Nationen sind sich durchaus bewusst, dass sich das Herzstück ihres Unternehmens – das Erreichen der Ziele – nur mit aussagekräftigen Daten und sinnvollen Indikatoren überprüfen lässt. Die Erfahrung mit den Millenniumszielen hat gezeigt, dass für die Nachfolgerziele eine noch engere Zusammenarbeit mit den nationalen Statistikämtern notwendig ist und auch globale Standards entwickelt werden müssen, um den Fortschritt in den einzelnen Ländern vergleichbar zu machen.
Daneben setzen die Statistiker aber auch auf neue Zahlen wie etwa Geodaten oder auch Echtzeit-Informationen, die durch die immer größere Verbreitung von Mobilfunknetzen möglich wäre. Bei den Nachfolgern der Millenniumsziele sollen außerdem neben gut 100 globalen Indikatoren auch nationale Indikatoren den jeweiligen regionalen Gegebenheiten Rechnung tragen. Um aus diesen neuen Daten dann auch tatsächlich aussagekräftige Informationen ziehen zu können, fordern die UN-Statistiker...
"...eine Datenrevolution, die durch bessere Verfügbarkeit, Qualität, Aktualität und Aufschlüsselung der Daten die Umsetzung der neuen Entwicklungsagenda auf allen Ebenen unterstützt."
Erst in 15 bis 20 Jahre, wenn die Datenanalyse der Nachfolge-Ziele abgeschlossen ist, wird sich zeigen, was diese Forderung für das Überprüfen und Erreichen der neuen Ziele bedeutet hat – zumindest auf dem Papier. An der Lebenswirklichkeit dürften sich Erfolg oder Misserfolg schon früher ablesen lassen.