Reihe: Ungewöhnliche Kulturberufe
Sonntag, 3.1., ab 23:05 Uhr
Der Theaterarzt
Montag, 4.1., ab 23:05 Uhr
Der Rote-Teppich-Kurator
Dienstag, 5.1., ab 23:05 Uhr
Der Fake-Internet-Designer
Mittwoch, 6.1., ab 23:05 Uhr
Der Kunsttransporteur
Donnerstag, 7.1., ab 23:05 Uhr
Der Kunstfelsenbauer
Freitag, 8.1., ab 23:05 Uhr
Die Harfenmanagerin
Der Theaterarzt
Der Alltag eines Arztes lässt oft wenig Zeit für Kultur. Die Feierabende sind nicht planbar. Einige wenige Ärzte verordnen sich daher regelrecht Kultur. Sie verbinden die Pflicht mit der Kür: Theaterärzte.
Chris Müllerschön: "Das ist die Liste, wo sie sich eintragen müssen, mit ihrer Handynummer. Zum Beweis, dass sie da waren. Was fehlt ist ein Kugelschreiber ..."
Dr. Chris Müllerschön trägt Name und Handynummer in die Liste ein, dann legt sie den Dienstpiepser parat und schon geht das Licht aus.
Der Vorhang hebt sich, zwölf Tänzer stehen auf der Bühne. Die Dermatologin aus dem Stuttgart - Bad Cannstatter Krankenhaus und ihr Mann, der Internist Dr. Stefan Waldenmaier, sind ab jetzt in ärztlicher Bereitschaft, zuständig für Künstler und Publikum. Theaterärzte.
Ein Ballettabend mit nahezu allen Stars der Stuttgarter Compagnie. Das Große Haus, die Stuttgarter Oper, ist ausverkauft. Choreografien großer Meister stehen heute auf dem Programm: Kylián, van Manen und natürlich darf in Stuttgart auch John Cranko nicht fehlen. Die beiden Ärzte haben die Erfahrung gemacht: Beim Ballett bleibt es meist ruhig, anders ist es bei der Oper:
Stefan Waldenmaier: "Also ich habe vor allem den Eindruck, dass die Sänger extrem nervös werden, wenn sie sehen, der Auftritt rückt näher und die Stimme funktioniert nicht so, wie man es sich vorstellt. Zuletzt habe ich den Eindruck, muss man vor allem beruhigend wirken auf die Leute."
Eine kulturbegeisterte Ärzteschaft aus dem Großraum Stuttgart wechselt sich mit den Diensten im Staatstheater Stuttgart ab. Nur wenige Theaterhäuser leisten sich einen derartigen Service überhaupt noch. Die Organisation ist aufwändig, oft müssen mehrere Veranstaltungen gleichzeitig ärztlich besetzt werden. Der Lohn für den Arzt im Großen Haus: eine eigene Loge im ersten Rang, gerne mit Begleitung.
Die meisten Theaterärzte arbeiten tagsüber in Kliniken, alle hoffen sie auf einen komplikationslosen Dienst in Oper, Ballett oder Schauspiel. Das klappt nicht immer, wie das Theaterarztbuch zeigt; ein dickes DIN A4 Heft, in dem Einsätze dokumentiert werden:
Chris Müllerschön: "Rigoletto Premiere: Übelkeit, Erbrechen, erhöhter Puls während der Ouvertüre. Besucherin mit Kopfschmerzen, eine Tablette Dolormin."
Ärztin Chris Müllerschön, eine humorvolle Frau mittleren Alters, schmunzelt beim Durchblättern des Theaterarztbuches. Namen der Patienten finden sich nicht im Heft, die Ärzte stehen natürlich auch im Theater unter Schweigepflicht.
Chris Müllerschön: "Hier ist noch etwas Süßes: Tenor erleidet Oberschenkelzerrung."
Der Stil ist von Arzt zu Arzt unterschiedlich. Die meisten halten sich sehr kurz.
Chris Müllerschön: "Ältere Dame synkopiert während der Aufführung."
Sie wird ohnmächtig, schreibt ein Arzt.
Chris Müllerschön: "Bei meinem Eintreffen wieder gehfähig, erholt sich nur langsam: Krankenhaus."
Nächstes Mal sitzen die Ärzte in der Oper
In diesen Fällen wird ein Notarztwagen gerufen, der Theaterarzt muss bis zum Schlussapplaus vor Ort bleiben. Sinnvoll, wie ein Eintrag beweist: gleich drei Gäste wurden am Ende einer Oper bewusstlos. Der Theaterarzt hatte also viel zu tun, doch alle kamen wieder schnell zu Bewusstsein, so steht es geschrieben. Ein anderer Arzt konnte einer Patientin helfen, die sich durch eine wilde Schießerei auf der Bühne so erschrocken hat, dass ihr Herz etwas aus dem Rhythmus geriet.
Auf den Gängen gibt es Champagner und Häppchen, Chris Müllerschön, einst selbst Ballettschülerin, legt das Theaterarztbuch wieder zurück in einen Schrank. Viele Seiten des Buches stammen von ihr und ihrem Mann, seit über 15 Jahren machen die beiden Theaterarzt-Dienst.
Chris Müllerschön: "Es möchte nicht jeder Theaterarzt machen, es ist sehr schwierig Nachwuchs zu finden, um es mal so zu sagen. Vielen ist einfach das Risiko zu hoch, dass wirklich was passiert und selbst die Schönheit dessen, was sie zu sehen bekommen, kann da nicht drüber hinweghelfen."
Echte Notfälle seien selten, berichten die beiden, wenn was passiert, dann meist den Schauspielern.
Stefan Waldenmaier: "Ja, bei Horváth ist ein Sturz vorgesehen gewesen und der Sturz führte dann auch tatsächlich zu einem ausgekugelten Schultergelenk."
Nach der Pause bei einem Glas Wasser gehen die beiden Ärzte wieder auf ihren Logenplatz zurück. Nur bei den Streichern brennt jetzt das Licht im Orchestergraben. Auf der Bühne haben im Wechsel drei Tänzer ihren Auftritt, Ballettstars, die Solo, eine Choreographie von Hans van Mannen tanzen.
Im Publikum wird gehustet, viele Gäste sind erkältet. Internist Waldenmmaier geht immer wieder mit seinen Blicken die Reihen durch. Doch bis zum Schluss bleibt es ruhig.
Nach zweieinhalb Stunden Dienst geben die beiden Theaterärzte den Dienstpiepser zurück:
Stefan Waldenmaier: "Ich denke wir können jetzt gehen."
Eine Servicedame nimmt den Piepser zurück.
Dame: "Auf Wiedersehen und bis zum nächsten Mal!"
Das nächste Mal ist bereits in der kommenden Woche: eine Oper.