"Ich habe alles gehabt – was will ich mehr?"
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Schon als Kind wollte Reinhard Mey Sänger werden. Mal melancholisch, mal kritisch und scharfsinnig blickt der 77-Jährige mit neuen Liedern auf sein Leben zurück. Der Albumtitel "Das Haus an der Ampel" beziehe sich auf sein Elternhaus, verrät er.
Carsten Beyer: Reinhard Mey, Sie haben sich an Ihre eigene Tradition der letzten 25 Jahre gehalten. Ein neues Mey-Album, das erscheint im Mai. Allerdings ist mir aufgefallen: Die Abstände werden doch größer. Früher waren es zwei oder drei Jahre zwischen den Alben, jetzt sind schon vier Jahre vergangen seit dem Vorgängeralbum "Mister Lee". Hat das was mit dem Coronavirus zu tun oder ist das auch ein Zugeständnis an das Alter? Sie werden im Dezember 78. Da kann man ja auch mal ein bisschen kürzertreten.
Reinhard Mey: Ja, es ist eine ganz normale Entwicklung. Früher, als ich angefangen habe, habe ich jedes Jahr ein Album rausgebracht und da war eigentlich gar keine Zeit, zwischendurch Luft zu holen. Ich war jung und explodierte förmlich und musste das alles niederschreiben.
Später waren es zwei Jahre und dann hatte sich so ein Dreijahreszyklus herausgebildet, der wirklich sehr praktisch ist. Es gibt ein Jahr zum Nachdenken, es gibt ein Jahr zum Schreiben und dann ein Jahr zum Aufnehmen und auf Tournee zu gehen.
Und wirklich so im Hinblick auf die Endlichkeit des Lebens habe ich irgendwann gedacht, ich muss noch ein Jahr dazwischen legen; ein Jahr, in dem ich lebe, in dem ich mit den Enkelkindern viel Zeit verbringe, in dem ich einfach versuche, mal wirklich noch ein bisschen Abstand zu nehmen und mir noch mehr Freude dann zu machen, endlich wieder anzufangen zu schreiben.
Denn der Gedanke, der hinter diesen langen Pausen steht, ist auch der, dass man nicht in eine Situation gerät, wo man sagt: Ich muss jetzt schreiben, weil es wird von mir erwartet. Sondern ich warte so lange, bis ich so unwiderstehlich Lust zum Schreiben kriege, dass ich dem gar nicht mehr widerstehen kann. Und das ist ganz einfach, wenn man sich viel Zeit dazwischen lässt.
Beyer: Den Grundsound dieses neuen Albums, den haben wir ja gerade schonmal anklingen hören, das sind sparsame, meist folkige Arrangements, dominiert meistens von der Gitarre. Da kommt aber auch mal eine E-Gitarre zum Einsatz oder eine Harfe oder auch eine ganze Streichergruppe. Und dann gibt es noch eine zweite CD mit den gleichen Liedern. Nur diesmal Unplugged gespielt, also so, wie Sie es auch bei Ihren Konzerten machen würden - nur die Gitarre und der Gesang natürlich. Wie kam es zu diesem Skizzenbuch, wie sie das im Booklet nennen?
Entstehungsgeschichte des Albums
Mey: Ja, ursprünglich waren es wirklich auch Skizzen. Ich sitze bei mir, Sie können sich das vorstellen, ich habe ein winzig kleines Zimmer, und da ist ein kleiner Schreibtisch mit einem Rechner drauf und einem Mikrophon. Und da sitze ich davor mit meiner Gitarre und wenn ich die Texte fertig habe, beginne ich die Musik zu machen und dann Demos aufzunehmen für meinen Freund und Arrangeur Manfred Leuchter, der dann die Orchestrierung vornimmt.
Und da ich die Lieder, die ich dann als Demo aufnehmen will, zunächst meiner Frau vorspielen möchte, die eine sehr ernst zu nehmende Kritikerin ist, und ich mich nicht blamieren möchte, verwende ich sehr viel Mühe auf die Aufnahme dieser Demos. Die versuche ich schon sehr, sehr schön zu machen.
Und als ich die alle fertig hatte und meiner Frau vorgespielt hatte und sie damit einverstanden war, dachte ich: 'Das wäre eigentlich schön, die Zuhörerinnen und Zuhörer einfach mal mitzunehmen und ihnen die Entstehungsgeschichte eines Album vorzustellen.'
Erinnerungen sind mein Schatz
Beyer: Also ein Blick in den Produktionsprozess sozusagen. Wenn wir auf die Texte kommen: Sie haben vorhin gesagt, Sie haben Zeit zu leben. Sie blicken zurück auf ihr Leben. Es bleibt viel Raum für Erinnerungen. Im Titelsong zum Beispiel "Das Haus an der Ampel". Da geht es um Ihr Elternhaus und natürlich auch um die Menschen darin, die Sie geprägt haben. Wie wichtig sind Ihnen diese Erinnerungen, dieses Bilanz ziehen?
Mey: Es ist sehr wichtig. Das ist der Schatz, aus dem ich meine Lieder schöpfen kann - aus den Erfahrungen, aus den Erlebnissen von der frühen Kindheit bis heute. Da entstehen die Lieder. Das ist der Stoff, mit dem ich arbeite. Ich bin ja noch ein Kriegskind, ich bin mit Bombenhagel und Hunger aufgewachsen. Und ich habe erlebt, wie es in diesem Land weiterging, über meine Jugendzeit. Irgendwann waren wir alle im Schlaraffenland. Das ist so ein langer Weg. Da gibt es so viel darüber zu erzählen. Und es drängt mich, diese Erinnerung und auch diese Gefühle, die damit verbunden sind, mit den Menschen zu teilen, die sie vielleicht ähnlich empfunden haben oder sie einer Generation zu erzählen, die sich das gar nicht vorstellen kann.
Beyer: Mit Ihren Liedern sind ja viele Menschen groß geworden in Deutschland. Und wenn man das mal so über die Jahre, Jahrzehnte hinweg beobachtet, da steckte immer auch eine Portion Melancholie mit drin. Aber ich habe so den Eindruck, diese Melancholie ist in den letzten Jahren noch ein bisschen stärker geworden. Oder täusche ich mich?
Mey: Also: Es kann schon so sein, dass es so klingt. Aber ich denke auch immer... Ich vergleiche mich manchmal mit einem Welpen und mit einem alten Hund. Und wenn Sie sehen, wie ein Welpe mit wedelndem Schwanz ums Gehöft rennt und alle freudig begrüßt und wie dann der alte Hund irgendwann in der Sonne liegt, alles schon erlebt hat, alles kennt, über alles Bescheid weiß und nicht mehr bei jedem Briefträger, der vorbeikommt, bellt, dann ist das auch so ein bisschen wie ein Liedermacher in seinem achten Lebensjahrzehnt.
Alles fällt auf fruchtbaren Boden
Beyer: Gleichzeitig gibt es natürlich aber auch Songs - auch jetzt auf dem neuen Album -, die sich mit ganz aktuellen, politischen Themen beschäftigen. Zum Beispiel "Gerhard und Frank" ist jetzt so ein Lied. Da geht es um das Thema Sterbehilfe. Da beschreiben Sie ein älteres Paar, wo der eine nicht mehr leben will, weil er eben eine schwere Krankheit hat. Das ist sehr eindrucksvoll, sehr einfühlsam auch geschildert. Wie suchen Sie solche Themen denn aus? War das eine Beobachtung, die Sie vielleicht auch in Ihrem Bekanntenkreis gemacht haben?
Mey: Mit offenen Augen durchs Leben gehen und zu versuchen, die Situation, die man da sieht, zu begreifen, die Geschichte, die dahinter steckt, zu entdecken. Und die Geschichte von Gerhard und Frank ist mir fast so passiert, dass ich wirklich auf einer Terrasse saß und ein Mann erzählt hat. Und alles, was man mir erzählt, fällt irgendwann auf fruchtbaren Boden und kommt als ein Lied wieder. Und das war eine Geschichte, die mich sehr berührt hat und den kleinen Hund, den hat es wirklich gegeben.
Und vieles ist oft die Geschichte eins zu eins mit der Portion dichterischer Freiheit, die dazugehört, um es eben die Geschichte zu verdichten, um es besser erzählbar zu machen. Das geht im "Hotel zum ewigen Gang der Gezeiten", das sehe ich natürlich auch ganz deutlich von mir.
Und oft habe ich in so einem Hotel gesessen, ob das irgendwo in Knokke, in Belgien an der Nordsee war oder hier oder ob es auch nur an einem See ist. So eine übriggebliebene Pension. Und man sitzt dazwischen, und man erkennt in den Gesichtern der Menschen, die da sind, ihre Lebensgeschichte. Oder man versucht, sie sich vorzustellen. Aber irgendwo ist man mit seinen Vorstellungen nie ganz weit weg von der Wirklichkeit.
Bis mich der Sensenmann holt
Beyer: Ihr Freund und Kollege Hannes Wader, der ist ja der gleiche Jahrgang, wie Sie, 1942. Der hat vor einigen Jahren gesagt: Ich gehe jetzt ab von der Bühne, keine Konzerte mehr, auch keine neuen Studioalben, sondern höchstens mal ab und zu ein bisschen singen mit Freunden. Ist das so ein Gedanke, den sie auch schon mal hatten? Oder sagen Sie: Nein, ich mache so lange weiter, wie ich noch eine Gitarre halten kann. Also Charles Aznavour beispielsweise, den habe ich noch mit 90 in Berlin auf der Bühne erlebt, und der war großartig.
Mey: Also genau so ist es, Herr Beyer: Ich hab mir gewünscht, als kleiner Junge, wirklich diesen Beruf machen zu können. Ich hatte drei Wünsche: Entweder Pilot werden oder Dirigent werden oder Sänger werden. Und alles hat so ein bisschen geklappt.
Mit dem Singen war wirklich der schönste und der so wunderbar in Erfüllung gegangene Kindheitstraum. Daran hält man fest wenn man dieses Geschenk bekommen hat; das lässt man nicht aus den Händen. Und ich merke: Selbst wenn ich jetzt ein Jahr mehr Pause dazwischen gehabt habe, dass es mich nicht loslässt und dass es auch schon wieder in mir arbeitet, ich schon wieder neue Sachen schreiben möchte.
Es wird immer so weitergehen.... und das Singen, wenn die Lieder fertig sind... Irgendwann auf eine Bühne gehen und vor ein Publikum treten und die Lieder mit den Menschen teilen... Und die Atmosphäre spüren, die Wärme, die zurückkommt, die Reaktionen, die zurückkommen - das ist einfach so kostbar, das möchte ich nicht wieder aus den Händen geben. Und ich wünsche mir, dass ich ja lange meine Kräfte erhalte und dass ich singen kann. Ich werde so lange singen, bis ich tot umfalle. Bis mich der Sensenmann holt.
Ich bin dankbar, es war wunderbar
Beyer: Das heißt; auch mit dem neuen Album gibt es wieder eine Tour, so wie ihre Fans es von Ihnen gewohnt sind, auch wenn das vielleicht Corona-bedingt ein bisschen schwieriger wird.
Mey: Das steht in den Sternen. Es gibt keine feste Planung. Aber sicher ist, dass ich die Lieder irgendwann vor Leuten singen möchte.
Beyer: Vielen Dank für das Interview. Und wir hören jetzt noch ein Stück von dem neuen Album und zwar in diesem Fall von der Skizzenbuch-CD. "Was will ich mehr" heißt das Lied. Auch da blicken sie zurück auf Ihr Leben. Und Sie sagen: "Ich habe alles gehabt, was will ich mehr?" Ist das so eine Art künstlerisches, persönliches Credo von Ihnen, kann man das so sagen?
Mey: Ja, das ist Bilanz meines Lebens, wie ich gesagt habe: Ich möchte gerne noch lange, lange weiterleben, und ich möchte noch gerne lange, lange singen. Aber wenn es heute zu Ende wäre, dann müsste ich sagen: Ich bin dankbar. Es war wunderbar. Ich habe alles gehabt. Ich kann nicht mehr verlangen, was will ich mehr?
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