Reise entlang der Weltgrenze

Der Nullmeridian teilt den Globus in Ost und West. Dass er ausgerechnet durch die britischen Stadt Greenwich verläuft, ist allerdings Willkür. Der niederländische Journalist und Autor Alfred van Cleef wollte wissen, wer sonst noch an der zufälligen Grenze lebt - und hat den Meridian bereist.
Die Null ist eine faszinierende Zahl, weil sie keine ist. Sie ist bloß ein willkürliches Zeichen für etwas ohne konkreten (Zahlen-)Wert. Ein Artefakt, weit östlich von Europa erdacht zur besseren Beherrschung der Natur durch Berechnung der Planeten. Elementar für die Ordnung der Welt in Zeiten und Räume und für die früheste Form der Globalisierung: Der weltweite Handel ist ohne Dezimalsystem nicht denkbar. Ein Paradox obendrein - wer eine Null ist, zählt nichts, aber eine nachgestellte Null macht jede Zahl größer.

Alfred van Cleef wächst auf in einem Stadtteil "aus rechteckig angelegten Straßen", inszeniert Straßenverkehr auf dem Teppich und verspürt schon als Kind einen "unaufhaltbaren Ordnungsdrang". Weshalb ihn alles "Chaotischere", die Ränder seiner allmählich wachsenden Welt magisch anziehen. Er wird erst manischer Sammler von Karten und Plänen, dann Reporter, reist über den Globus und beobachtet und berichtet, wie es wo um Ordnung und Chaos, zum Beispiel durch Krieg, bestellt ist.

So jemand muss eines Tages ein Buch schreiben, dessen erstes Kapitel die Zählung 0 und den Titel Null hat und das von einer Reise entlang eines heute fast absurd willkürlich wirkenden Artefakts namens Nullmeridian erzählt: Jener imaginären Linie zwischen Nord- und Südpol, die 1884, in den Glanzzeiten des Weltmeere und -handel beherrschenden "British Empire", gezogen wurde und nicht nur Greenwich zum Zentrum der Weltzeit machte, sondern auch definierte, wer "im Osten" und wer "im Westen" wohnt.

Der Nullmeridian zerteilt Flüsse, Wüsten, Dörfer und Städte, Straßen, sogar Häuser. Zum Glück ohne, dass deren Bewohner schizophren werden, bloß weil sie ein Ost-Schlafzimmer und eine West-Küche haben, oder umgekehrt. An manchen Orten wird er gewürdigt, zu sehen ist er - natürlich! - nirgends. Er markiert tatsächlich eine verborgene Weltordnung und führt nur zum kleineren Teil und nur auf der nördlichen Halbkugel über Land: vom abbröckelnden Städtchen Tunstall in Yorkshire bei 53°46' nB durch England, Frankreich, Spanien, Algerien, Mali, Burkina Faso und Togo bis in die künstlich erweiterte ghanaische Hafenstadt Tema bei 05°37' nB, kurz vorm Äquator. Boden unter die Füße bekäme man erst 8.400 Kilometer weiter südlich, im antarktischen Neuschwabenland: Eisboden.

Eines Augusttages zieht van Cleef mit Rucksack, GPS-Navi und Satellitentelefon für Notfälle los. Er beobachtet und berichtet, was alles so am Wegesrand liegt und wer dort wohnt. Wie leben die Menschen, was tun, was essen sie, wie machen sie sich (und ihm) das Leben schwer - bürokratisch, kriegerisch zum Beispiel? Und er trägt immensen Recherchestoff zusammen, um die in den vielen Geschichten der Menschen verborgene Geschichte herauszudestillieren. Und gleichzeitig eine Ahnung von der Winzigkeit aller Menschenordnung gegenüber der Natur, der Macht des Meeres zu vermitteln: "Was in Tunstall von den Klippen ins Meer gespült wurde, kam in Tema als Hafenerweiterung wieder hinzu." Der kunstvoll gespannte Bogen ist auch ein Paradox: Er hat etwas Tröstliches.

Besprochen von Pieke Biermann

Alfred van Cleef: Die verborgene Ordnung. Eine Reise entlang des Nullmeridians
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas
marebuch, Hamburg 2012
429 Seiten, 24 Euro


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