Reise ins 18. Jahrhundert
Der kanadische Literaturwissenschaftler Philippe Despoix beschreibt in "Die Welt vermessen" legendäre Seereisen berühmter Entdecker wie James Cook. Er zeigt, welche Entwicklungssprünge der Wissenschaft dadurch möglich wurden.
Man nennt es das Jahrhundert der Aufklärung, den Beginn der Moderne: das 18. Jahrhundert; 1712 arbeitete die erste Dampfmaschine, 1757 wurde der erste Blitzableiter installiert. Und der französische Philosoph Rousseau meinte herausgefunden zu haben, dass der Mensch von Geburt gut sei. Vermeintliche Belege dafür fanden berühmte Seefahrer wie James Cook auf den paradiesischen Inseln der Südsee. Die aufgeklärte Menschheit begann, ihre Welt in den Griff zu bekommen, sie zu verstehen und ihre letzten unbekannten Winkel zu entdecken und zu vermessen.
"Die Welt vermessen", so hat der Kanadier Philippe Despoix, Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Montréal, seine wissenschaftliche Studie zu den - wie es im Untertitel heißt - "Dispositive(n) der Entdeckungsreise im Zeitalter der Aufklärung" genannt. "Dispositiv" ist ein eher selten verwendetes Fachwort aus der Kommunikationswissenschaft, das entscheidende Denk- und Wahrnehmungsstrukturen bezeichnet.
Forschungsgegenstand der Analysen von Despoix sind jene legendären Seereisen berühmter Entdecker wie James Cook und Louis Antoine de Bougainville zwischen 1770 und 1780, deren Reiseziel ausnahmslos der Pazifik, der letzte noch unerforschte Ozean war. Wichtig für die Geschichte der Menschheit wurden diese Reisen, weil sie einen ganzen Katalog verschiedener aber entscheidender Entwicklungssprünge der Wissenschaft, also der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft, markieren.
Bis in jene 1770er-Jahre glaubten die Wissenschaftler, dass es statt einer Antarktis einen paradiesischen Kontinent im Süden geben müsse, wo es sechserlei Sorten Bananen gäbe und Perlen und Gold am Strand lägen. Dieser Traum war nach den Forschungsreisen ausgeträumt. Zum ersten Mal sahen die Menschen den Globus in seiner ganzen Realität vor sich.
Als eine andere Sensation jener Zeit galt, dass man nun endlich so weit war, mathematisch zu berechnen, an welchem Punkt genau man sich auf der Welt befand - das, was heute das GPS auf Kopfdruck erledigt. Damals hatten die Astronomen und Mathematiker endlich eine - wenn auch komplizierte - Methode gefunden, den Längengrad zu bestimmen, da baute ein kleiner englischer Uhrmacher, ein Autodidakt, auch noch eine sekundengenaue Präzisionsuhr, auf der der Kapitän quasi ablesen konnte, wo er war, und düpierte damit die Königswissenschaften Mathematik und Astronomie.
Der Uhrmacher John Harrison wird zu einem Symbol der 1770er Dekade: die Menschen entdecken das Individuum, der Mensch entdeckt den Menschen als Menschen, so werden die Protagonisten der Seereisen, die Kapitäne und Forscher, statt anonyme Ausführende ihrer Könige und Staaten zu sein, plötzlich Individuen, zu Helden und zu Autoren, - die Reiseliteratur wird geboren, der Buchmarkt boomt. Und natürlich spielen beim Stichwort Mensch auch jene Eingeborenen eine ganz zentrale Rolle, die die Seereisenden im Pazifik antreffen, auf den vermeintlich so paradiesischen Inseln wie Tahiti oder Hawaii.
Europa beginnt sich mit anderen Völkern zu vergleichen und formuliert zum ersten Mal die Frage, worin "Zivilisation" bestehe. Die Europäer hatten im Pazifik eine, wie sie fanden, äußerst zivilisierte Gesellschaft vorgefunden, die von der Natur gesegnet war und in der die Frauen nett und willig waren, wie man berichtete. Präzise und akribisch arbeitet Autor Philippe Despoix die unterschiedliche Wahrnehmung, Projektion und Verarbeitung durch die europäischen Autoren jener Zeit heraus: So verklären die Franzosen das Ganze als Wiedergeburt der klassischen Antike, in der Prostitution ein Götterdienst gewesen sein soll.
"Die Welt vermessen – Dispositive der Entdeckungsreise im Zeitalter der Aufklärung" bietet ein unerschöpfliches Füllhorn von Originalquellen zu den verschiedenen Perspektiven der Zeit. Es bietet eine komplette Anthologie gesamteuropäischer Literatur-Geschichte zum Thema Welterkundung, und es zeichnet u.a. auch die Entstehung der Soziologie und Anthropologie in Europa nach.
"Die Welt vermessen" ist übersichtlich gegliedert, bietet immer wieder verständliche Zusammenfassungen, wendet sich aber an ein wissenschaftliches Publikum; viele der englischen und französischen Zitate sind nicht übersetzt. Der Stil erinnert stark an die Sprache des französischen Poststrukturalismus der 1960er und 1970er Jahre:
"Die Figur des Indigenen ist ... keine einfache Projektion europäischer Herrschaftsphantasmen, sie erweist sich als Effekt einer unausweichlichen Interferenz von heterogenen Systemen."
"Die Welt vermessen" sollte für jeden Geisteswissenschaftler ein Muss sein - ein wichtiges Buch.
Besprochen von Lutz Bunk
Philippe Despoix: "Die Welt vermessen – Dispositive der Entdeckungsreise im Zeitalter der Aufklärung"
Reihe: Marbacher Wissenschaftsgeschichte, Hg. Michael Hagner und Hans-Jörg Rheinsberger, aus dem Französischen übersetzt von Guido Goerlitz,
Wallstein Verlag Göttingen 2009, 288 Seiten, 30 Abbildungen, 29.90 Euro.
"Die Welt vermessen", so hat der Kanadier Philippe Despoix, Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Montréal, seine wissenschaftliche Studie zu den - wie es im Untertitel heißt - "Dispositive(n) der Entdeckungsreise im Zeitalter der Aufklärung" genannt. "Dispositiv" ist ein eher selten verwendetes Fachwort aus der Kommunikationswissenschaft, das entscheidende Denk- und Wahrnehmungsstrukturen bezeichnet.
Forschungsgegenstand der Analysen von Despoix sind jene legendären Seereisen berühmter Entdecker wie James Cook und Louis Antoine de Bougainville zwischen 1770 und 1780, deren Reiseziel ausnahmslos der Pazifik, der letzte noch unerforschte Ozean war. Wichtig für die Geschichte der Menschheit wurden diese Reisen, weil sie einen ganzen Katalog verschiedener aber entscheidender Entwicklungssprünge der Wissenschaft, also der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft, markieren.
Bis in jene 1770er-Jahre glaubten die Wissenschaftler, dass es statt einer Antarktis einen paradiesischen Kontinent im Süden geben müsse, wo es sechserlei Sorten Bananen gäbe und Perlen und Gold am Strand lägen. Dieser Traum war nach den Forschungsreisen ausgeträumt. Zum ersten Mal sahen die Menschen den Globus in seiner ganzen Realität vor sich.
Als eine andere Sensation jener Zeit galt, dass man nun endlich so weit war, mathematisch zu berechnen, an welchem Punkt genau man sich auf der Welt befand - das, was heute das GPS auf Kopfdruck erledigt. Damals hatten die Astronomen und Mathematiker endlich eine - wenn auch komplizierte - Methode gefunden, den Längengrad zu bestimmen, da baute ein kleiner englischer Uhrmacher, ein Autodidakt, auch noch eine sekundengenaue Präzisionsuhr, auf der der Kapitän quasi ablesen konnte, wo er war, und düpierte damit die Königswissenschaften Mathematik und Astronomie.
Der Uhrmacher John Harrison wird zu einem Symbol der 1770er Dekade: die Menschen entdecken das Individuum, der Mensch entdeckt den Menschen als Menschen, so werden die Protagonisten der Seereisen, die Kapitäne und Forscher, statt anonyme Ausführende ihrer Könige und Staaten zu sein, plötzlich Individuen, zu Helden und zu Autoren, - die Reiseliteratur wird geboren, der Buchmarkt boomt. Und natürlich spielen beim Stichwort Mensch auch jene Eingeborenen eine ganz zentrale Rolle, die die Seereisenden im Pazifik antreffen, auf den vermeintlich so paradiesischen Inseln wie Tahiti oder Hawaii.
Europa beginnt sich mit anderen Völkern zu vergleichen und formuliert zum ersten Mal die Frage, worin "Zivilisation" bestehe. Die Europäer hatten im Pazifik eine, wie sie fanden, äußerst zivilisierte Gesellschaft vorgefunden, die von der Natur gesegnet war und in der die Frauen nett und willig waren, wie man berichtete. Präzise und akribisch arbeitet Autor Philippe Despoix die unterschiedliche Wahrnehmung, Projektion und Verarbeitung durch die europäischen Autoren jener Zeit heraus: So verklären die Franzosen das Ganze als Wiedergeburt der klassischen Antike, in der Prostitution ein Götterdienst gewesen sein soll.
"Die Welt vermessen – Dispositive der Entdeckungsreise im Zeitalter der Aufklärung" bietet ein unerschöpfliches Füllhorn von Originalquellen zu den verschiedenen Perspektiven der Zeit. Es bietet eine komplette Anthologie gesamteuropäischer Literatur-Geschichte zum Thema Welterkundung, und es zeichnet u.a. auch die Entstehung der Soziologie und Anthropologie in Europa nach.
"Die Welt vermessen" ist übersichtlich gegliedert, bietet immer wieder verständliche Zusammenfassungen, wendet sich aber an ein wissenschaftliches Publikum; viele der englischen und französischen Zitate sind nicht übersetzt. Der Stil erinnert stark an die Sprache des französischen Poststrukturalismus der 1960er und 1970er Jahre:
"Die Figur des Indigenen ist ... keine einfache Projektion europäischer Herrschaftsphantasmen, sie erweist sich als Effekt einer unausweichlichen Interferenz von heterogenen Systemen."
"Die Welt vermessen" sollte für jeden Geisteswissenschaftler ein Muss sein - ein wichtiges Buch.
Besprochen von Lutz Bunk
Philippe Despoix: "Die Welt vermessen – Dispositive der Entdeckungsreise im Zeitalter der Aufklärung"
Reihe: Marbacher Wissenschaftsgeschichte, Hg. Michael Hagner und Hans-Jörg Rheinsberger, aus dem Französischen übersetzt von Guido Goerlitz,
Wallstein Verlag Göttingen 2009, 288 Seiten, 30 Abbildungen, 29.90 Euro.