Reise ins Ungewisse

Die junge Meryem soll getötet werden, weil sie nach einer Vergewaltigung Schande über die Familie gebracht habe - die archaischen Bräuche eines ostanatolischen Dorfes sind Thema des Romans von Zülfü Livaneli. Die Reise, die der jungen Frau den Tod bringen soll, verläuft jedoch anders als vorgesehen.
So ist es eben Brauch - mit diesen Worten wird das Schicksal der 15-jährigen Meryem besiegelt, der Hauptfigur in Zülfü Livanelis Roman "Glückseligkeit". Meryem soll getötet werden, weil sie von ihrem Onkel, einem angesehenen Imam, vergewaltigt worden ist und daher Schande nicht nur auf die Familie, sondern auf das gesamte ostanatolische Dorf geladen hat.

In diesem abgelegenen Teil der Türkei herrschen noch die rigiden und frauenfeindlichen Gesetze eines Islam, der den Männern alles Recht auf Erden verleiht, den Frauen aber die Schuld für alle Sünden zuschreibt.

Davon ist auch Cemal überzeugt, Meryems Cousin und ihr Spielgefährte aus Kindertagen, der gerade erst als Soldat von einem Einsatz in den Bergen gegen die PKK zurückgekehrt ist. Er wird beauftragt, Meryem nach Istanbul zu bringen und dort den Ehrenmord zu vollziehen. Doch für beide wird es eine Reise mit unvorhersehbaren Folgen.

Ihre verschlungenen Pfade führen sie schließlich in die Ägäis, wo sie Irfan begegnen, einem frustrierten Istanbuler Professor, der sich in einer Lebens- und Sinnkrise befindet. Dort, umgeben von einer offenen, westlichen und weltlichen Türkei, beginnen alle drei, ihre eigene Wahrnehmung der Welt zu hinterfragen: Cemal den militanten Nationalismus, Meryem die Engstirnigkeit eines frauen- und lebensfeindlichen Islam, Irfan die saturierte Wurzel- und Kulturlosigkeit der Istanbuler Oberschicht, hinter deren liberaler Fassade er eine kaltherzige Gleichgültigkeit vermutet.

Man ahnt: "Glückseligkeit" ist nicht allein ein Entwicklungsroman, der trotz der kunstvollen Verschränkung dreier Perspektiven aus betont weiblicher Sicht verfasst ist und vor allem Frauen einen gebührenden Platz in der türkischen Gesellschaft einräumt.

Zülfü Livaneli - 1946 in Konya geboren, Autor, Sänger, Komponist, nicht zuletzt Mitglied des türkischen Parlaments und laut den Worten seines Schriftstellerkollegen Orhan Pamuk eine "unverzichtbare Autorität in der kulturellen und politischen Szene der Türkei" - liefert zugleich ein so breit gefächertes wie äußerst kritisches Gesellschaftspanorama der gegenwärtigen Türkei. Er sieht das Land vor einer Zerreißprobe.

Die Fülle der diversen Exkurse - Aberglaube und Sufismus, Hisbollah und die Armenien-Frage, das Kopftuch und die Unterdrückung religiöser Minderheiten - lässt das Buch an manchen Stellen zwar fast überladen wirken, wie auch Meryems Emanzipation von einem naiven Dorfmädchen zu einer selbstbestimmten jungen Frau nicht frei von Kitsch und dem gesellschaftskritischen "good will" des Autors ist. Doch das kann die literarische und menschliche Wucht dieses aufrüttelnden Romans in keiner Weise mindern.

Rezensiert von Claudia Kramatschek

Zülfü Livaneli: Glückseligkeit
Aus dem Türkischen von Wolfgang Riemann
Roman, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2008
313 Seiten, 22,90 Euro