Reise zur NS-Gedenkstätte Neuengamme

Auf den Spuren des ermordeten Vaters

Joost de Snoo
Joost de Snoo betrachtet Habseligkeiten seines Vaters in Bad Arolsen. Dort lagert der "Internationale Suchdienst" die sogenannten Effekte von ehemaligen Gefangenen. © Deutschlandradio / Ludger Fittkau
Von Ludger Fittkau |
In dem Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg töteten die Nazis systematisch Menschen. 1945 ist dort Joost de Snoo ermordert worden. Sein Sohn, der ebenfalls Joost de Snoo heißt, hat mit 75 Jahren diesen Ort besucht.
"Ich war drei Jahre alt, sehr jung. Ich habe meinen Vater nicht mehr gekannt."
Auf dem Küchentisch seiner Wohnung in Rotterdam liegt ein Foto der Großeltern von Joost de Snoo mit seinem Vater. Es stammt aus der sogenannten "Effektenkammer" des Konzentrationslagers Neuengamme. Als Effekten bezeichneten die Nazis die Habseligkeiten, die sie den KZ-Insassen abnahmen, als sie ins Lager kamen: Brieftaschen mit Fotos oder Taschenuhren, Eheringe oder Schmuck.
"Das gehe ich abholen."
2015 brachte das niederländische Fernsehen eine Dokumentation über den "Internationalen Suchdienst" im nordhessischen Bad Arolsen. Der Suchdienst ist heute eines der weltweit wichtigsten Archive zum Nationalsozialismus.
"Dienstag fahren wir nach Neuengamme und am nächsten Tag nach Arolsen.2
Joost de Snoo bekennt in seiner Rotterdamer Küche, dass er es lange vermieden hat, deutschen Boden zu betreten.
"Now I am older und ich kann verstehen, dass die Kinder der Nazis dieselben wie ich sind. Sie können nichts dafür, das verstehe ich sehr gut."

Verraten, verhaftet, ins Arbeitslager deportiert

Joost de Snoo wird nach dem möglichen Verrat an ihm verhaftet und in das niederländische Lager Amersfoort gebracht. Auch dort herrscht Gewalt, doch es gibt in Amersfoort keine systematische "Vernichtung durch Arbeit". Die erwartet Joost de Snoo wenig später in Neuengamme.
"Wenn ich die Dokumente geholt habe, ist das für mich abgeschlossen. Ich bin alleine daran interessiert, meinem Vater eine letzte Ehre zu geben in Neuengamme. Das ist es, was ich wünsche. Ich habe Jahre gesagt zu meiner Frau, wir gehen nach Neuengamme. Und nun, da die Dokumente da sind, bin ich daran sehr interessiert."

Ehepaar de Snoo
Das niederländische Ehepaar de Snoo in Rotterdam © Deutschlandradio / Ludger Fittkau

Häftling Nr. 49649 überlebte nur drei Monate

Das ehemalige KZ Neuengamme liegt am Stadtrand nicht weit vom Elbufer. Der Historiker Martin Reiter begrüßt das Rotterdamer Ehepaar Joost und Trus de Snoo. Martin Reiter sagt sofort: Er wisse, dass es keine leichte Reise für die beiden ist.
Joost de Snoo nickt. Man spürt: Das Ehepaar ist froh, gleich am Eingang des riesigen Lagerkomplexes von dem sehr einfühlsamen Mann Mitte 30 mit Lippen-Piercing in der Muttersprache empfangen zu werden.
Martin Reiter führt das Paar über den ehemaligen Appellplatz des Konzentrationslagers zum sogenannten "Steinhaus I". Im 2Steinhaus I" befindet sich heute das Archiv der Gedenkstätte. Mitarbeiterin Alyn Beßmann hat die Dokumente bereit gelegt, die über Joost de Snoo noch im KZ vorhanden sind. Ausgangsdokument ihrer Recherchen war die sogenannte "Effektenliste" mit den Habseligkeiten der KZ-Insassen, die die britische Armee nach Kriegsende sichern konnte:
"Wir konnten nun anhand der Häftlingsnummer von dieser Effektenliste sehen – die Häftlingsnummer ihres Vaters ist 49649- und über diese Häftlingsnummer können wir rückschließen, wann er ungefähr im KZ Neuengamme angekommen ist. Wir haben leider keine Unterlagen darüber, was er dann hier im Lager gemacht hat, in welchem Kommando er arbeiten musste, das können wir alles leider nicht sagen. Da sind die Unterlagen alle vernichtet. Das, was wir sagen können ist, dass er es tatsächlich nur ein gutes Vierteljahr geschafft hat, hier unter diesen katastrophalen Bedingungen zu überleben."

Todesursache "Herzschlag"

Alyn Beßmann übergibt Joost de Snoo nun ein Dokument, das er noch nicht kennt: die Kopie eines Eintrages zu seinem Vater im Totenbuch des Krankenreviers. Todesursache "Herzschlag" ist dort zu lesen. Alyn Beymann erläutert, dass die hier eingetragenen Todesursachen fiktiv sind. Die Täter hatten sie in der Regel schon in das Papier geschrieben, bevor dann Namen zugeordnet wurden.
"Joost de Snoo: Das ist das erste Mal, dass ich das sehe. Ist das für mich?"
"Ja."
"Danke."

Joost de Snoo öffnet die Aktentasche, die er mitgebracht hat und verstaut die Papiere sorgfältig. In einer Plastiktüte hat er einen Topf mit Blumen und fragt, wo er die niederlegen könne. Martin Reiter schlägt den Platz vor, auf dem das Krematorium des Konzentrationslagers stand.
Wann der Klinkerbau abgerissen wurde, ist nicht bekannt. Die Gedenkplatte gibt es seit den 1970er Jahren. Joost de Snoo stellt seinen Blumentopf neben einige Kränze mit Trauerschleifen aus Frankreich und senkt den Kopf, schluchzt.
Gedenkstätte Neuengamme bei Hamburg 
Grundrisse des ehemaligen Lagergefängnisses des KZ´s Neuengamme bei Hamburg.© picture alliance/dpa/Foto: Christian Charisius
Als er sich wieder gefasst hat, setzt sich Joost de Snoo mit seiner Frau ein paar Meter weiter auf eine Parkbank. Er spricht in diesen Moment des Abschieds von seinem Vater Niederländisch. Martin Reiter übersetzt:
"Er hat einfach nie einen Vater gehabt. Und was er auch merkt: Er hat ja selber Kinder, mit denen kann er alles teilen. Und das ist das, was er nie erlebt hat. Er ist von Pflegern aus der Schule abgeholt worden, aber das ist ja keine Familie gewesen. Und das ist das, was ihm immer gefehlt hat."

Widerstand ohne Waffe

Martin Reiter fragt Joost de Snoo auf meine Bitte hin, ob er das, was sein Vater gemacht hat, als Akt des Widerstands gegen die deutschen Besatzer begreift. Joost de Snoo zögert nicht mit der Antwort:
"Ja. Das war Widerstand. Das ist eindeutig Widerstand gewesen. Das ist kein Urlaub gewesen hier, das ist eindeutig Widerstand gewesen."
Widerstand, erklärt er später, sei es eben nicht nur, mit der Waffe in der Hand zu kämpfen. Sondern auch wenn man sich wie Joost de Snoo es getan hat - aktiv dem Arbeitsdienst entzieht.
Joost und Trus de Snoo verlassen nach einigen Stunden Neuengamme und fahren zurück in die Hamburger Innenstadt. Am nächsten Tag wollen sie zum Internationalen Suchdienst im hessischen Bad Arolsen weiterreisen, um im dortigen Archiv die letzten Habseligkeiten des ermordeten Vaters abzuholen.

Der emotionale Wert der Dinge

Zwei Tage später im nordhessischen Kleinstädtchen Bad Arolsen. Joost und Trus de Snoo werden von Mitarbeitern des Internationalen Suchdienstes empfangen. Anna Meier-Osinski, Mitarbeiterin des Suchdienstes, führt das Paar aus Rotterdam in den Raum, in dem die Übergabe stattfinden soll.
Ein alter Personalausweis, kleine Plastiktüten mit Arbeitsbescheinigungen und einige Familienfotos. Als Joost de Snoo das Ausweispapier seines Vaters in die Hand nimmt, überwältigen ihn seine Gefühle:
"Ich bin sehr glücklich, dass ich sie empfangen darf. Es hat keinen materiellen Wert, aber einen emotionalen Wert. Das sind Dinge, die er selbst in der Hand gehabt hat und bei sich gehabt hat."
Anna Meier-Osiniski stehen ebenfalls Tränen in den Augen. Momente wie diese sind auch für die mehr als 200 Mitarbeiter des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen nicht alltäglich.


Die Handschrift seines Vaters sei exakt dieselbe wie seine, sagt Joost de Snoo. Der Übersetzer bemerkt, dass der 75-Jährige eine Gänsehaut kriegt, als er das sagt.
Christian Groh öffnet einen mächtigen Metallschrank, in dem weiße, verschlossene Umschläge sorgfältig aufgereiht sind.

"Das Besondere an diesem Bestand ist, dass er eben viele Gegenstände beinhaltet, nicht nur Papier. Und das zweite ist, dass anders als die Papiere, die immer beim ITS aufbewahrt werden sollten, wir die Effekten zurückgeben. Wir betrachten das nicht als das Eigentum des ITS, sondern als Eigentum der Verfolgten und ihrer Familien, falls diese noch leben."
Das Ehepaar Snoo in der Gedenkstätte Neuengamme
Das Ehepaar Snoo mit Martin Reiter, Mitarbeiter der Gedenkstätte Neuengamme© Deutschlandradio / Ludger Fittkau

Ein Karton voller Erinnerungen

Mit dem Pappkarton unter dem Arm geht er wenig später gemeinsam mit seiner Frau Trus zurück zum Hotel. Noch am Abend will das Paar nach Rotterdam zurückfahren. Eine anstrengende Reise geht zu Ende.
Er müsse alles noch verarbeiten, sagt Joost de Snoo. Das könne er nicht hier, dazu müsse er jetzt wieder nach Hause. Wenn er dort noch einmal in den Dokumenten blättere, kämen die Emotionen. Ganz sicher.

KZ-Gedenkstätte Neuengamme bei Hamburg am 07.10.2015
Ein rekonstruierter Stacheldrahtzaun vor einer ehemaligen Häftlingsunterbringung (heute Studienzentrum und Verwaltung) auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Neuengamme bei Hamburg.© picture alliance/dpa/Foto: Christian Charisius
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