Reiseberichte über die frühe Globalisierung

17.08.2010
Mark Twain war ein respektloser und origineller Beobachter seiner Zeit. 1866 reiste er für eine amerikanische Zeitung nach Hawaii: Erstmals erscheinen seine hinreißenden Reiseberichte nun vollständig in deutscher Sprache.
Vier Wochen waren bestellt, vier Monate wurden es, und selten hat alle Welt so von einem elend säumigen Skribenten profitiert: Im März 1866 dampfte der Journalist Samuel Langhorne Clemens im Auftrag der "Sacramento Daily Union" mit der "Ajax" ab nach Hawaii - damals noch Sandwich-Inseln -, aber erst Ende Juli machte er sich auf den Heimweg nach San Francisco. Die verabredeten 20, 30 Briefe hatten sich vervielfacht, zur Begeisterung der Leser, auch wenn die noch nicht wissen konnten, dass sie einer Entpuppung mit weltweiten Folgen beiwohnten.

Mit dieser "Post aus Hawai" etablierte sich nicht nur der Markenname Mark Twain, mit ihr wurde aus dem Zeitungskorrespondenten der Schriftsteller, der zum Urvater der US-amerikanischen Literatur werden sollte.

Eben darin liegt für uns Heutige ein doppelter Lesegenuss. Zum einen liefern Twains Reisebriefe kostbares Wissen über diesen Archipel, den Captain Cook nach Lord Sandwich benannt hatte und auf dessen größter Insel, Hawaii, er 1779 bei einem dubiosen Waffengang ums Leben kam. Wer mit "Hawaii" nur Hula-Hula, den Ironman und neuerdings Obamas Oma verbindet, weiß nach der Lektüre eine Menge über knallharte öko-bio-geo-politische Realitäten in Südseeparadiesen: Über Sitten und Unsitten von Ureinwohnern wie Kolonialisierern, über Vulkane, Flora, Fauna und das Meer, über Walfang- und Zuckerindustrie - kurz und modern: über die frühe Globalisierung samt ex- und importierter Billigarbeitskraft, chinesischen Kulis etwa.

Wer gern mal "Magnum P.I." im "King Kamehameha Club" träfe, erfährt viel über Kamehameha I bis V, aber auch über Monarchie und Republik, britische Hoheit, korrupte anglikanische Missionare und die – für Twain erstrebenswerte, dreißig Jahre später erfolgende – Annexion durch die USA.

Zum anderen sind die Briefe ein faszinierend kecker Mix aus Genres und Schreibhaltungen und erzählen eben, wie jede Reiseliteratur, eine Menge über den Schreiber. Der hier nimmt sich einiges heraus, Platz zum Beispiel. Er schildert en detail einen Schiffsuntergang, bringt seitenweise Vergleichszahlen über die Zuckerproduktion in Louisiana und Mauritius, setzt dem Heldenbild von Cooks Tod ein kolonialkritisches entgegen, mit Anklängen an Gedankenprosa. Ganz traut er sich noch nicht, oft tarnt er den Schriftsteller hinter reportagehaftem Faktenmaterial, nur um sofort wieder abzuschweifen - in Satire, Parodie, philosophische Erwägungen. Letztere sind gelegentlich von weißer Borniertheit, also ziemlich entfernt von Twains späterer klar antirassistischer Haltung. Aber er konterkariert sie selbst sofort mit Hohn und Spott für die "eigenen Leute'", am beißendsten in Gestalt des Sidekicks Mr. Brown. Dieses rein fiktive Element ist die größte Chuzpe, die der "Reporter" sich herausnimmt.

Ein Buch wurden die Briefe erst hundert Jahre später. Diese erste deutsche Ausgabe fügt einen nachträglichen, aus Kalifornien geschriebenen, an Mutter und Schwester dazu – und bietet einen dritten Lesegenuss: die kongenial komische, nuancenreiche Übersetzung von Alexander Pechmann, der auch für die lesefreundlichen Fußnoten und das erhellende knappe Nachwort verantwortlich ist.

Besprochen von Pieke Biermann

Mark Twain: Post aus Hawaii
Herausgegeben und übersetzt von Alexander Pechmann
Marebuch Verlag, Hamburg 2010
368 Seiten, 24 EUR
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