Kolumne: Deutsche Bahn

Die seelischen Kosten des Nicht-Reisens

Bahnverkehr auf der Schnellfahrstrecke Nürnberg - Würzburg: Ein ICE fährt über eine hohe Brücke, eingerahmt von der Landschaft.
Unterwegs mit der Bahn: Die Ausssicht kann durchaus pittoresk sein. © IMAGO / Harry Körber
Eine Kolumne von Simon Strauß |
Endlich Urlaub: Wer den Zustand des Planeten berücksichtigt, überlegt zweimal, ob er das Flugzeug nimmt. Man kann ja auch zu Hause bleiben oder mit der Deutschen Bahn reisen. Kann man wirklich? Simon Strauß hat sich ein paar Gedanken gemacht.
Dieses Politische Feuilleton ist in einem stehenden Zug entstanden. Auf einer sonntäglichen Fahrt vom brandenburgischen Angermünde ins hamburgische Altona. Eigentlich keine große Mutprobe, der Navigator berechnete dreieinhalb Stunden Fahrtzeit. Gedauert hat es am Ende zehneinhalb. Erst Feuerwehreinsatz auf der Strecke und Umstieg in einen Bus, der ewig nicht kam, dann Personen im Gleis und schließlich noch eine hartnäckige Signalstörung.
In Zeitungsredaktionen ist die „Bahnglosse“ inzwischen ein stehender Ausdruck, eine eigene Genrebezeichnung gleich hinter Meldung oder Aufmacher. Verlässlich liefert die Deutsche Bahn der bundesrepublikanischen Gesellschaft sarkastischen Gesprächsstoff. Sich über verpasste Anschlusszüge, horrende Verspätungen und überfordertes Zugpersonal auszutauschen, schweißt zusammen und überbrückt jede noch so tiefe soziale Spaltung.
An und in der Bahn leiden alle Menschen gleich, egal ob sie AfD-Wähler oder Klimakleber sind. Eigentlich doch ganz beruhigend, dass die Nation neben Fußball und Tatort jetzt noch ein drittes Lagerfeuer hat, um das sie sich erzählend scharen kann – die Deutsche Bahn.
Besonders bitter ist der hierzulande katastrophale Zustand dieses Transportmittels, weil es inzwischen bei jeder Gelegenheit als die letztverbliebene moralisch anständige Form des Fortkommens apostrophiert wird. Anders zu reisen, etwa mit dem Auto, Flugzeug oder Schiff, gilt als klimaschädlich und ist erklärungsbedürftig.
Das Problem mit der Bahn ist allerdings nicht nur, dass sie häufig nicht fährt, sondern auch, dass sie meist teurer ist als andere Verkehrsmittel. Anständige Mobilität muss man sich also leisten können – sowohl nervlich als auch finanziell.

Als es cool war, Flugmeilen zu sammeln

Vorbei die Zeit, als eine ganze Generation nach einer billigen Fluggesellschaft benannt wurde, weil sie übers Wochenende völlig skrupellos in alle möglichen europäischen Städte reiste. Als es für cool gehalten wurde, möglichst viele Flugmeilen auf dem Konto zu haben oder von besonders fernen Fernreisen erzählen zu können. Heute reist man heimlich, ohne groß darüber zu sprechen, und wenn doch rauskommt, dass man für einen Junggesellinnenabschied nach Bologna geflogen ist, dann erzählt man davon am besten hinter vorgehaltener Hand.
Natürlich ist es richtig, sich die ökologischen Kosten des Reisens vor Augen zu führen. Sein Bewusstsein zu schärfen für die Klimabelastung durch Mobilität. Was dabei aber ebenfalls nicht aus dem Blick geraten darf, sind die seelischen Kosten des Nicht-Reisens. Was macht es insbesondere mit jungen Menschen, wenn ihnen suggeriert wird, jeder Ausflug in die Welt sei einer zu viel? Wie eng wird die Sicht, wenn man nie in die Fremde fährt? Was fehlt, wenn man die Südsee nur von Netflix kennt?

Das Reisen dialektisch betrachten

Die Frage des Reisens muss dialektisch gefasst werden – als eine genauso klimaschädliche wie bewusstseinserweiternde Tätigkeit. Wir Menschen sollten nicht nur unseren ökologischen Fußabdruck, sondern auch unseren Herzschlag messen. Der eine darf nicht zu groß, der andere nicht zu schwach sein. Sonst gerät die Sache aus dem Gleichgewicht. Sonst werden wir zwar klimaneutral, aber auch engstirnig und weltfremd.
Am Ende gibt es wahrscheinlich keine Alternative: Exzessives Bahnfahren ist die einzige Lösung. Und wer davon in Deutschland verständlicherweise die Nase voll hat, dem bleibt ja immer noch der Umzug an eine unserer Landesgrenzen – nach Aachen, Lörrach, Chemnitz oder Flensburg. Bekanntlich fährt man in unseren Nachbarländern wesentlich pünktlicher und entspannter mit dem Zug.
In diesem Sinne: Lassen Sie sich das Reisen nicht verdrießen. Achten Sie auf Ihren Fußabdruck, aber vergessen Sie auch Ihren Herzschlag nicht. Schöne Ferien!

Simon Strauß, geboren 1988 in Berlin, studierte Altertumswissenschaften und Geschichte in Basel, Poitiers und Cambridge. Er ist Mitorganisator des „Jungen Salons“ in Berlin. Seit Oktober 2016 ist er Redakteur im Feuilleton der FAZ. 2017 veröffentlichte er sein erzählerisches Debüt „Sieben Nächte“, sein neues Buch trägt den Titel „zu zweit“.

Ein Mann im Anzug: der Journalist Simon Strauß
© Julia Zimmermann
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