Wie und wo hat sich die Menschheit entwickelt, wer waren unsere Vorfahren und wie haben sie gelebt? - Diesen Fragen gehen wir nach in unserer Sommerreihe "Reisen zu den Ursprüngen der Menschheit".
Alter Mann mit Biss
Der Name "Homo Heidelbergensis" verhalf der Gemeinde Mauer einst zu weltweiter Bekanntheit. Von dem etwa 600.000 Jahre alten Herrn ist nur noch der Unterkiefer übrig geblieben, der 1907 in einer Sandgrube bei Mauer gefunden wurde – ein Sensationsfund.
Treppenlaufen in einem Fachwerkhaus mitten im Zentrum der kleinen Gemeinde Mauer ganz in der Nähe von Heidelberg: Volker Liebig braucht von seinem Büro im ersten Stock zum kleinen Ausstellungsraum im Erdgeschoss nur wenige Augenblicke. Mit einem Anflug von Bewunderung zeigt er auf einen alten Zeitungsausschnitt hinter einer Vitrine:
"Diese Meldung stammt aus dem Heidelberger Tageblatt und zwar vom 24. Oktober 1907. Es wird gemeldet: ‚In der hiesigen Sandgrube des Herrn Josef Rösch wurde ein seltener Fund gemacht, nämlich die untere Kinnladen mit sehr gut erhaltenen Zähnen eines Urmenschen. Die Menschenkinnlade lag zwanzig Meter tief unter der Erdoberfläche.‘ Es ist dies in dieser Gegend der erste Fund eines vorgeschichtlichen Menschenknochens, während Knochenteile urweltlicher Tiere beim Sandabbau häufig schon in den hiesigen Sandgruben gefunden wurden."
Schnell stellte sich heraus: Der Fund jener Knochen, die zusammengesetzt den Unterkiefer eines jungen Mannes ergaben, war eine archäologische Sensation.
Der Unterkiefer von Mauer
"Der wissenschaftliche Name lautet 'Homo Heidelbergensis', wegen der Nähe zur Universitätsstadt Heidelberg. Das war zu einer Zeit, als man weltweit nur zwei weitere Urmenschenfunde hatte: Den Neandertaler und den Homo Erectus aus Südostasien. Und man wusste von Anfang an, dass man es hier mit einem Menschen zu tun hatte, der vielleicht schon ein paar hunderttausend Jahre alt ist."
So Volker Liebig, Geologe und Paläontologe, ein Experte also, der sich mit versteinerten Fossilien beschäftigt. Der Wissenschaftler steht heute dem Verein "Homo Heidelbergensis von Mauer e.V." vor, der das Dokumentationszentrum in dem kleinen Fachwerkhaus unterhält. Und dort lässt sich auch so manches nachlesen über den Unterkiefer von Mauer, den "Homo Heidelbergensis" oder, wie er manchmal auch genannt wird, den "Heidelbergmensch":
"Man geht im Moment davon aus, dass in Europa aus dem 'Homo Heidelbergensis' der Neandertaler entstanden ist und in Afrika, aus der afrikanischen Variante, der moderne Mensch."
Volker Liebig führt seine Besucher an den Vitrinen vorbei, hinter denen unzählige Dokumente und Knochenfunde von Tieren zu sehen sind. Dann bleibt er unvermittelt stehen, zeigt auf ein Foto. Zu sehen: Jener legendäre Unterkiefer, der im Jahr 1907 in einer Sandgrube nur wenige Kilometer weiter gefunden wurde und der den Wissenschaftler heute noch einiges an Staunen und Respekt abnötigt:
"Man hat festgestellt, dass alle Zähne vorhanden sind. Man hat ihn wissenschaftlich untersucht. Und die Fotos, die Sie jetzt sehen, das sind Röntgenfotos. Heute sagt man: ‚Klar, was sind schon Röntgenfotos?‘ Aber 1907 zur Zeit des Fundes oder 1908 zur Zeit der Untersuchungen, war die Röntgentechnik vielleicht zehn Jahre alt. Die haben brauchbare Fotos bekommen, die man verwenden kann, auf denen man etwas erkennen konnte. Das war sensationell für diese Zeit."
Videoausschnitt: "In Mauer fand der Sandarbeiter Daniel Hartmann am 21.10.1907 den Unterkiefer eines Menschen, der vor 600.000 Jahren gelebt haben muss…"
Volker Liebig hat den Videofilm, den er Besuchern gerne zeigt, schon viele hundert Male gesehen. Doch jedes Mal aufs Neue blickt er immer noch fasziniert auf die Bilder des Fundortes und des historisch so wertvollen Unterkiefers.
Videoausschnitt: "Wie kommt es aber dazu, dass ausgerechnet hier so ein wertvoller Fund gemacht werden konnte? Das ist eine spannende Geschichte. Und eine wichtige Rolle in dieser Geschichte spielt der Neckar."
Liebig: "Das Dorf Mauer liegt heute in einer trocken gefallenen Fluss-Schlinge. Der Neckar floss vor einer Million Jahre Richtung Süden wieder zurück nach Norden und hat eine heute trocken gefallene Fluss-Schlinge hinterlassen, in der er große Mengen Sand und Kies und eben auch Knochen abgelagert hat."
110. Jubiläum nächstes Jahr
Und so war es auch kein Zufall, dass die Überreste des "Homo Heidelbergensis" ausgerechnet am Ortsrand von Mauern gefunden wurden.
Erich Mick: "Volker, wie sieht es denn aus mit dem neuen Paliusheft? Das neue Heft 2017? Ja, sind wir dabei, vor allem auch mit Hinblick auf das Jubiläum 2017."
Volker Liebig bekommt Besuch. Erich Mick war von 1976 bis 2001 Bürgermeister von Mauer und schaut immer mal wieder im Dokumentationszentrum vorbei, das er seinerzeit selbst mitbegründet hatte. Immer wieder muss er interessierten Besuchern aber auch sagen: Das ‚Corpus Delicti‘ suchen sie hier vergebens. Das Fundstück befindet sich in einem sorgsam klimatisierten Raum der nahegelegenen Universität Heidelberg und ist, wegen des unschätzbaren archäologischen Wertes, nicht öffentlich zugänglich. Nur einmal war das anders: Damals, im Oktober 2007, als Bürger und Gäste von Mauer den 100. Jahrestag des Knochenfundes feierten. Seinerzeit kehrte auch der Fund an seinen Fundort zurück, wurde im Dokumentationszentrum ausgestellt. Erich Mick wird diesen Moment nie vergessen.
"Und wenn man vor ihm stand… Na ja, es ist ein Original. Es ging unter die Haut, wenn man ihn angesehen hat. Und ich glaube, die vielen Besucher, die da waren, haben das ebenso verspürt. Das kann eine Nachbildung niemals machen. Die kann noch so gut sein: Original bleibt original."
Auf dem Zeitenpfad
Zu Fuß unterwegs mit Volker Liebig entlang der Ortsdurchfahrt: Das ist kein Spaziergang wie jeder andere.
Liebig: "Wir folgen im Moment dem Zeitenpfad, der vom Infozentrum über das Rathaus bis hin zur Sandgrube von Mauer führt."
Zeitenpfad, das ist eine Besonderheit von Mauer, und führt nicht nur geografisch zum Fundort des "Homo Heidelbergensis", sondern auch gedanklich in jene Zeit, in der der Heidelbergmensch gelebt hat:
Liebig: "Man geht immer weiter in der Zeit zurück. Und zwar mit jedem großen Schritt, mit jedem Meter, etwa 500 bis 600 Jahre. Und wenn man am Infozentrum startet, hat man an der Sandgrube, am Fundort, eine Zeitreise von 600.000 Jahren erreicht. Das ist die Zeit, in der der ‚Homo Heidelbergensis‘ hier in Mauer gelebt hat."