Wie und wo hat sich die Menschheit entwickelt, wer waren unsere Vorfahren und wie haben sie gelebt? - Diesen Fragen gehen wir nach in unserer Sommerreihe "Reisen zu den Ursprüngen der Menschheit".
Die Speere von Schöningen
Es war eine Sensation, als Forscher 1994 im Tagebau Schöningen auf acht vollständig erhaltene Jagdwaffen aus Holz stießen. Die Funde und Befunde über die Speere von Schöningen haben etliche Thesen über die Entwicklung der Menschheit über den Haufen geworfen.
Wo einst Urpferde grasten und Raubkatzen auf leisen Sohlen schlichen, haben sich lärmende Bagger tief in den Boden hineingewühlt. Nur einen Speerwurf entfernt vom Abgrund des Tagebaus beugen sich Thomas Terberger und seine Forscherkollegen über eine Fundstelle. Mit Spaten und Pinsel wird das Erdreich abtragen.
"Hier sehen wir jetzt in wunderbarer Weise frisch geputzt die schräg einfallenden Schichten, die immer wieder diesen Wechsel zeigen von helleren Lagen – sprich: unter Wasser abgelagert, und dunklen, torfigen Lagen – sprich: Ufersituation. Das ist die spannende Sache in Schöningen: Wir können hier die Veränderung der Landschaft vor 300.000 Jahren nachvollziehen!"
Der wissenschaftliche Projektleiter vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege führt den Besucher über das rund 4000 Quadratmeter große Ausgrabungsgelände. Entlang eines ehemaligen Seeufers buddeln sich die Forscher durch insgesamt fünf Fundschichten, die einen Zeitraum von rund 10.000 Jahren abdecken. Diese so genannten Horizonte zeugen vom allmählichen Übergang von der Hochphase einer Warmzeit mit dichtem Urwald in ein eher kühleres Milieu mit offener Graslandschaft.
"Wir haben hier eine außergewöhnlich gute Erhaltung für alles, was uns die Umwelt hilft zu rekonstruieren. Das beginnt bei Holzresten, über kleine botanische Reste von Früchten, Samen bis hin zu den Pollen, die sich nur unter dem Mikroskop identifizieren lassen. Wir hatten erst kürzlich hier ein Team der Universität Leiden da, das sich mal um die ausgezeichnet erhaltenen Käferreste gekümmert hat. Und Sie möchten es gar nicht glauben, wenn hier frisch etwas aufgedeckt wird und die Käferflügel haben noch die schillernde Farbe wie an dem Tag als hier ein Käfer gestorben ist."
Speere waren über Jahrtausende im feuchten Boden
Auch die berühmten Schöninger Speere waren über Jahrtausende im feuchten Boden unter Luftabschluss nahezu unversehrt geblieben. Nach den ersten sensationellen Funden blieb das kleine Grabungsgelände rund um den Fundort vom weiteren Abbau verschont, es ragt nun wie eine Felsnase in den Tagebau hinein.
"Hier aus den Profilen guckten Knochen raus. Und da sagte dann der Thieme: Geht doch mal hin, guckt was da los ist!"
Wolfgang Mertens ist Vorarbeiter. Der Veteran erinnert sich noch gut an die Grabung vom 11. Oktober 1994. Damals stieß die Forschergruppe um den Archäologen Hartmut Thieme auf die erste von acht vollständig erhaltenen Jagdwaffen:
"Bei dem Wurfholz – der einzige, der sich wirklich der Tragweite bewusst war, war Dr. Thieme! Beim Speer 1, da war die Situation schon etwas anders. Da hat man gesagt: Oh, jetzt wird es aber langsam kritisch, dass wir da plötzlich in Regionen kommen, die Weltsensation sind! Und dann ging es ja richtig los!"
Seither gibt es immer wieder spektakuläre Neufunde: Im Oktober 2012 förderten Archäologen um Grabungsleiter Jordi Serangeli von der Universität Tübingen Zähne zu Tage, eine Rippe und einen Oberarmknochen. Ans Licht kamen Überreste der Säbelzahnkatze Homotherium latidens. Ein stattliches Kampfgewicht von 200 Kilo wird diesem Urviech zugeschrieben, Schulterhöhe rund ein Meter, mörderische Reißzähne. Erst wurden Spezialisten aus Großbritannien, den Niederlanden und Russland konsultiert. Dann fühlten sich Terberger und Serangeli reif, die neuerliche Sensation zu verkünden.
"Kommen Sie nah heran! Die Faszination dieser Raubkatze einmal in den eigenen Händen gezähmt! Denn tot ist uns ein solches Tier in diesem Fall lieber als lebendig!"
"Jetzt wissen wir, dass den Mensch mit seine Speere war als Jäger nicht allein – und nicht immer war der Mensch der Jäger, ab und zu war er auch der Gejagte!"
Auffällige Kratzer an der Knochenoberfläche deuten darauf hin, dass die frühen Menschen Überreste des Raubtiers als Werkzeug, womöglich als Knochenhammer, genutzt haben könnten. Auch ihr jüngster Fund hält die Forscher in Atem: Es sind Überreste eines Waldelefanten, darunter eine Rippe, die scharfkantige und parallel verlaufende Schnitt- und Schabspuren aufweist.
"Sodass wir davon ausgehen – zumindest als Arbeitshypothese – der Mensch hat seine Finger im Spiel. Und dann sind wir natürlich sehr schnell bei der Frage, was ist hier passiert? Ist hier möglicherweise sogar ein Elefant gejagt worden? Bislang kennen wir aus Schöningen ja vielfältige Nachweise für die Jagd auf Pferde – aber ein Elefant, das wäre nochmal eine Nummer größer!"
Rund 40.000 Menschen besuchen jährlich das "Paläon". In dem futuristisch anmutenden Ausstellungszentrum mit gläsernen Labors kann man den Forschern beim Pinseln und Präparieren zuschauen. Der Blick schweift über Panoramawände, Pferdeknochen, Steinwerkzeuge.
Die ältesten erhalten Jagdwaffen der Menschheit
Im theatralischen Halbdunkel der Vitrinen: Die 300.000 Jahre alten Stäbe aus Kiefern- und Fichtenholz: acht Wurfspeere, eine kräftige Lanze und ein beiderseits gespitztes Wurfholz, das so ähnlich wie ein Boomerang funktioniert haben dürfte. Diese ältesten erhalten Jagdwaffen der Menschheit lagen zwischen Knochen der so genannten Moosbach-Pferde inmitten eines Lagerplatzes des Homo heidelbergensis.
"Pferde sind normalerweise sehr scheu, sodass sie eigentlich davon ausgehen müssen, dass eine Gruppe dafür sorgt, dass die Tiere in eine ganz bestimmte Situation gebracht werden, zum Beispiel, indem sie ins Wasser gedrängt werden. Das bedeutet, hier wird eine Gruppe am Werk gewesen sein. Und das nicht nur einmal, sondern über einen langen Zeitraum."
Die Funde belegen, dass die Jagd ein selbstverständlicher Bestandteil des Alltags und der Ernährungsstrategie dieser Vorfahren der heutigen Menschen war.
"Das muss eine geübte Praxis gewesen sein. Da steckt viel Wissen, viel Planung über längerfristiges Denken drin. Solche Dinge wie Sprache müssen in dieser Zeit schon eine Selbstverständlichkeit gewesen sein. Ich sage mal, das waren nicht Anfänger, sondern Profis! Wir haben den Menschen von vor 300.000 Jahren völlig unterschätzt!"