Doris Reisinger / Christoph Röhl: Nur die Wahrheit rettet. Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger
Piper-Verlag 2021, 352 Seiten, 22 Euro
Theologin zum Münchener Missbrauchsgutachten
Im Kirchenrecht ist wenig Platz für die Belange der Opfer, kritisiert Doris Reisinger. © picture alliance/ dpa / Peter Kneffel
„Wie der emeritierte Papst sich verhält, ist sehr peinlich“
17:27 Minuten
"Unwürdig" findet die Theologin Doris Reisinger das Verhalten des emeritierten Papstes Benedikt in der Missbrauchsaffäre. Als Präfekt der Glaubenskongregation habe er mit Missbrauchsberichten zu tun gehabt, aber "die Fälle jahrelang liegen lassen".
Julia Ley: Frau Reisinger, es gab ja auf dieser Pressekonferenz am Donnerstag, auf der das Missbrauchsgutachten des Erzbistums München und Freising vorgestellt wurde, einen sehr, sehr starken Moment – nämlich den Moment, als eine Journalistin ganz zum Schluss fragte, ob es im Bistum nicht wenigstens „einen Gerechten“ gegeben habe. Auch Sie haben auf Twitter diesen Moment kommentiert. Mich würde interessieren: Warum hat gerade dieser Moment, so sagen Sie es selbst, Sie „wie der Blitz“ getroffen?
Doris Reisinger: Diese Frage hat eine große, ganz starke biblische Geschichte aus dem Alten Testament aufgerufen, nämlich die Geschichte von der Vernichtung von Sodom und Gomorra. Da taucht diese Frage auf, als Abraham mit Gott verhandelt, diese Städte bitte nicht zu vernichten. Und Abraham fragt: „Wenn da nur 50 Gerechte leben, dann kannst du die Stadt doch nicht vernichten? Du kannst doch nicht die Gerechten mit den Ungerechten hinwegraffen! Das wäre ungerecht.“
„Was, wenn es in unserer Kirche keine zehn Gerechten mehr gibt?“
Und Gott sagt: „Okay, wenn 50 Gerechte in der Stadt leben, dann vernichte ich die Stadt nicht.“ Und Abraham handelt Gott herunter bis auf zehn. Wenn zehn Gerechte in der Stadt leben, vernichtet Gott die Stadt nicht. Und wir wissen alle, wie die Geschichte ausgeht, es finden sich dort keine zehn Gerechten. Es findet sich am Ende nur einer, und Gott beschließt, Sodom und Gomorra zu vernichten.
Ich habe noch nie diese Geschichte im Blick auf die Missbrauchskrise in der katholischen Kirche gelesen. Und das hat mich so getroffen, weil ich gedacht habe: Was machen wir, wenn es in unserer Kirche, unter unseren Hirten, keine zehn Gerechten mehr gibt? Und Frau Westphal hat ja in der Pressekonferenz auch entsprechend geantwortet und gesagt: Nein, sie kann sich nicht erinnern und sie hätte sich erinnert, wenn auch nur einer von den Verantwortungsträgern, die sie konfrontiert haben, gesagt hätte, dass er Reue empfindet. Aber alle waren in dem Modus, dass sie sich rechtfertigen, dass sie sich verteidigen, dass sie Sachen abstreiten und relativieren.
„Wie der Papst sich hier verhält, ist sehr peinlich“
Ley: Einer, der sicherlich nicht als einer der Gerechten aus diesem Gutachten hervorgegangen ist, ist Joseph Ratzinger. Für viele war sicherlich die entscheidende Erkenntnis dieses Gutachtens, dass der frühere Papst zumindest mit sehr, sehr hoher Wahrscheinlichkeit über seine eigene Rolle gelogen hat. Bei einer Sitzung, in der über die Aufnahme eines bekannten Missbrauchstäters ins Erzbistum München entschieden wurde, sagte er, sei er nicht anwesend gewesen. Die Gutachter weisen ihm durch das Protokoll dann aber das Gegenteil nach. Warum tut der emeritierte Papst das? Wie kann es sein, dass er davon ausgeht, dass er damit durchkäme?
Reisinger: Das ist eine gute Frage. Ich bin nicht im Kopf von Joseph Ratzinger. Ich kann auch nur mutmaßen, warum er das tut. Zu welchem Zweck er das tut, ist offensichtlich: Er möchte nicht schuld gewesen sein. Ich kenne ihn nicht gut genug, um sagen zu können, was er sich dabei denkt, wenn er so argumentiert. Ich halte es aber nicht für ausgeschlossen, dass er persönlich über die Jahre und Jahrzehnte hinweg ein Narrativ für sich selbst gesponnen hat, wonach er wirklich unschuldig ist; dass er mittlerweile selber fest davon überzeugt ist, nichts gewusst zu haben.
Das halte ich nicht für ausgeschlossen, aber es kann auch sein, dass er sehr wohl weiß und ihm auch noch bewusst ist, was er mitverantwortet, was er getan hat, wie er Sachen auf die Seite geschoben hat, nicht richtig gefunden hat. Ich weiß letztlich nicht wirklich, was in ihm vorgeht. Tatsache ist: Wie er sich hier verhält, ist sehr peinlich.
Unwürdig, hat gestern jemand kommentiert. Ich finde das einen sehr passenden Ausdruck, weil er einfach nur offensichtlich an sich selbst denkt in der Art, wie er sich hier verhält. Und damit auch die Ämter, die er innehatte, noch einmal in ein schlechtes Licht rückt.
In Bezug auf Moral eher maximal-ethisch unterwegs
Ley: Das Gutachten wirft dem emeritierten Papst ja selbst schweres Fehlverhalten vor. In vier Fällen insgesamt habe er zugelassen, dass Priester, die in dem Ruf standen, Kinder zu missbrauchen, teilweise sogar verurteilte Straftäter waren, weiter mit Kindern und Jugendlichen arbeiten durften. Der Papst hat sich dazu in dem Gutachten selbst auch geäußert, auf über 82 Seiten hat er Stellung genommen. Sie haben diese zumindest in Teilen auch gelesen. Welche Denke spricht für Sie aus diesen Zeilen?
Reisinger: Es fällt auf, dass die Art und Weise, in der da argumentiert wird, eigentlich nicht Joseph Ratzingers Art ist, zu argumentieren, sondern man hat den Eindruck – und das liegt ja auch nahe – dass ihn da kirchenrechtliche Fachleute unterstützt oder für ihn geschrieben haben und er sich diese Argumentationsweise dann zu eigen macht, eine sehr kasuistische. Ein rechtliches Kleinrechnen seiner Verantwortung in diesen Fällen, die auch deswegen eigentlich nicht zu Joseph Ratzinger passt, weil er, gerade wenn es um Moral geht, eher maximal-ethisch unterwegs war. Das heißt, dass ihm immer das Größte, das Reinste, das Vollkommenste als Ideal vor Augen gestanden hat.
Und hier legt er jetzt ganz andere, kleine Maßstäbe für sein eigenes Verhalten an und bezieht sich auch auf den Zeitgeist: Das sei eine andere Zeit gewesen. Das passt auch eigentlich gar nicht zu der Art und Weise, wie Joseph Ratzinger als Theologe und als Präfekt der Glaubenskongregation gedacht und argumentiert hat, wo Wahrheit und Moral und das Gute dem Zeitgeist enthoben sind. Es ist deswegen sehr befremdlich, das zu lesen.
Und wenn man dann so Fälle liest wie den einen, wo er argumentiert, na ja, da hat sich ja ein Täter nur vor Kindern selbstbefriedigt und da hat ja keine körperliche Berührung stattgefunden, dann kann man sich nur an den Kopf fassen. Also man kriegt den Eindruck, den man ja auch an anderer Stelle bei ihm immer wieder bekommen hat in den letzten Jahren: Man kriegt den Eindruck, dass er überhaupt nicht verstanden hat, was sexueller Kindesmissbrauch ist und wie er in der Gesellschaft heute gesehen wird und warum das überhaupt alles ein Problem ist.
„Sexueller Missbrauch ist kirchenrechtlich ein Zölibats-Verstoß“
Ley: Mit dieser Denke ist er vermutlich nicht allein. Sie haben schon angesprochen: Man hat den Eindruck, dass Kirchenrechtler zumindest an diesen Einlassungen mitgeschrieben haben. Das heißt, da gibt es natürlich auch strukturelle Ursachen. Sie kommen ja auch in Ihrem Buch zum System Ratzinger auf das Kirchenrecht zu sprechen. Einer Ihrer Kritikpunkte – wenn ich Sie recht verstehe – ist ja auch gerade der, dass dieses Kirchenrecht Opfer von sexuellem Missbrauch strukturell nicht wirklich in den Blick bekommt. Können Sie das genauer erklären? Woran liegt das eigentlich?
Reisinger: Ich muss vorausschicken, ich bin natürlich selbst keine Kirchenrechtlerin. Aber ich halte es für unerlässlich: Wenn wir über Missbrauch in der Kirche sprechen und die Art vor allem, wie damit umgegangen wird, dann kommen wir am Kirchenrecht nicht vorbei. Und das, was da so auffällig ist, ist, dass eine ganz andere Logik hinter den kirchenrechtlichen Bestimmungen zum Umgang mit Missbrauch steht als im weltlichen Strafrecht.
Das Kirchenrecht ist eigentlich durch die Jahrhunderte hindurch ein Klerikerrecht gewesen. Von Klerikern für Kleriker geschrieben. Dass Laien darin überhaupt vorkommen, nicht geweihte Menschen, das ist erst wirklich seit dem jüngsten Kodex, der 1983 erschienen ist, der Fall. Wir finden aber diese alte Denke des Klerikerrechts immer noch. Wir finden im Kirchenrecht an keiner Stelle Beteiligungsrechte, Mitspracherechte oder so etwas wie Abwehrrechte.
Im weltlichen Strafrecht ist sexueller Missbrauch definiert als eine Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung eines Menschen. Dieses Konzept gibt es im kirchlichen Strafrecht nicht. Im kirchlichen Strafrecht ist sexueller Missbrauch ein Zölibatsverstoß – an einem oder mit einem Minderjährigen in dem Fall. Aber der Minderjährige, das Opfer, tritt als Geschädigter überhaupt nicht auf. Er ist kein Geschädigter, ihm ist in der Logik des Kirchenrechts kein Schaden entstanden, aus dem sich dann irgendwelche Rechte ergeben würden.
Ein Betroffener hat in der Perspektive des kirchlichen Rechts keinen Schaden, der ihm entstanden ist. Er hat deswegen auch keine Beteiligungsrechte am Verfahren, er kann als Zeuge aussagen, aber er hat keine Akteneinsicht, er hat kein Recht auf einen Rechtsbeistand in diesen Verfahren. Er hat nicht mal ein Recht darauf, dass ihm das Urteil mitgeteilt wird.
Da hat sich in der Theorie in den letzten Jahren manches ein bisschen verändert. Aber in der Praxis ist das ganz oft immer noch nicht angekommen. Und vor allem haben Betroffene kein Recht auf Entschädigung oder darauf, Nebenkläger zu sein. Da steckt eine ganz andere Logik dahinter. Es ist die Logik, die wir eben hier in der Stellungnahme von Joseph Ratzinger im Münchner Gutachten auch haben: eine Logik, die Betroffene als Geschädigte überhaupt nicht in den Blick bekommt.
„Eine Logik, in der sich alles um den Kleriker dreht“
Ley: Nun ist es ja so, dass aber nicht nur auf Seiten der Kleriker und in den Kirchen, sondern offenbar auch in den Gemeinden und teilweise auch in den Familien selbst, es diese Art von Wegsehen und Vertuschung gegeben zu haben scheint. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein Fall, der auch als „Fall des Priesters X“ prominent geschildert wurde in dem Gutachten. Und da gab es eben dieses Vorkommen, dass vor einem Gemeindefest der Name des damals betroffenen Pfarrers und eines Jungen, an dem er sich wohl vergangen hat, auf eine Hauswand geschrieben wurde. Da stand dann „Pfarrer X + der Name dieses Jungens = schwul?“. Das ist ja doch ein sehr offensives Zeichen. Und trotzdem ist auch danach nichts passiert. Wie erklären Sie sich das? Wie konnte es dazu kommen?
Reisinger: Man hat dafür einen Begriff. Das wird gemeinhin „Klerikalismus“ genannt. Das beschreibt eine Atmosphäre, eine Logik, in der sich alles um den Kleriker dreht. Und Klerikalismus ist nicht nur, was Kleriker pflegen und betreiben, indem sie sich selber für die jeweils wichtigen und ausschlaggebenden Personen halten, um die sich alles zu drehen hat, sondern das ist eine Kultur. Das durchzieht die ganze katholische Kirche und nimmt Laien mit. Wie soll es auch anders sein? Wenn ich eine Struktur habe, eine kirchliche Ordnung, in der sich alles um den Pfarrer dreht, dann lädt das natürlich Laien ein oder dann ist die Gefahr groß, dass Laien miteinstimmen.
Das ist eine Kultur, die aber nicht in einem luftleeren Raum entstanden ist, sondern vor dem Hintergrund der kirchlichen Ordnung, die problematisch ist dadurch, dass sie Kleriker so stark bevorteilt und ihnen so viel Macht gibt. Und das ist ein Problem, das in der katholischen Kirche jedem wohlvertraut ist. Im Extremfall geht es bis dahin, dass auch Laien, um Kleriker zu stützen, lieber nicht nachfragen, Betroffene lieber nicht hören, bis dahin, dass Betroffene auch von Gemeindemitgliedern verleumdet, zum Schweigen gebracht, eingeschüchtert werden. Das ist ein Problem, das Betroffenen immer wieder begegnet und das Menschen, die Betroffene begleiten, sehr gut kennen.
„Er hat Fälle jahrelang liegen lassen“
Ley: Nun ist ja der emeritierte Papst, der ehemalige Papst, auch durchaus jemand, der von einigen zumindest auch als jemand beschrieben wird, der genau dieses System der Vertuschung ein Stück weit auch angegangen hat. Denn er war ja nicht nur Erzbischof von München und Freising, er war ja danach auch lange Jahre Chef der Glaubenskongregation in Rom und später eben Papst. Teilen Sie diese Einschätzung?
Reisinger: Ich teile diese Einschätzung nicht. Ich habe, als ich an dem Buch „Nur die Wahrheit rettet“ gearbeitet habe, als ich mit der Arbeit begonnen habe, lange Zeit gedacht: Joseph Ratzinger ist von seinem Charakter her einfach ein sehr, ja, man könnte sagen, naiver Mensch, der sich die Abgründe menschlichen Handelns gar nicht vorstellen kann. Und er hat das einfach sehr, sehr lange nicht gewusst.
Und als mir klar geworden ist, dass er seit Anfang der 80er nicht nur in leitender Verantwortung als Präfekt der Glaubenskongregation das oberste Kirchengericht, das für Missbrauchsfälle zuständig war, geleitet hat, sondern dass dort auch schon Anfang der 80er, als er dort angefangen hat, zu arbeiten, Fälle gelegen sind und Fälle angekommen sind, dass er also vom ersten Tag als Präfekt der Glaubenskongregation Missbrauchsfälle auf dem Schreibtisch hatte und mit denen nicht gut umgegangen ist. Das heißt, er hat Fälle jahrelang liegen lassen.
Es gibt einen berühmten Fall, der öffentlich geworden ist, von einem Straftäter namens Stephen Kiesle, der in den USA schon als Sexualstraftäter verurteilt war. Ratzinger hat den Fall noch jahrelang in der Glaubenskongregation liegen lassen und diesen Täter nicht laisieren wollen. Er hat ihn dann irgendwann doch laisiert, aber das hat sich viel zu lange hingezogen und es wird ganz deutlich aus dem Schriftverkehr, dass Joseph Ratzinger nicht verstanden hat, was Missbrauch ist und warum das ein Problem ist.
Ganz, ganz viele andere Fälle kennen wir nicht. Und ich gehe davon aus, dass es viele solcher Fälle vor der CDF, also der Glaubenskongregation, gegeben hat. Es wäre höchste Zeit, dass das, was Joseph Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation in Missbrauchsfällen getan hat – oder nicht getan hat –, öffentlich wird. Denn das ist eine viel längere Zeit. Er war 25 Jahre Präfekt der Glaubenskongregation und er war ja nur vier Jahre Bischof in München.
„Recht muss ohne Ansehen der Person gesprochen werden“
Ley: Jetzt kamen ja in den letzten Tagen nach Veröffentlichung dieses Gutachtens allerlei Forderungen auf von vielen verschiedenen Seiten, unter anderem auch die Forderung, es bräuchte jetzt auch eine Aufarbeitung der Rolle der deutschen Justiz, die sich oft eben auch nicht so kritisch dahinter geklemmt hat oder nicht so engagiert Fälle verfolgt hat, wie sie es durchaus hätte tun können. Andere fordern zum Beispiel einen Untersuchungsausschuss im Parlament. Wie sehen Sie das? Welche Rolle müsste die Justiz jetzt einnehmen? Welche Rolle vielleicht auch der Staat bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle, zumindest in Deutschland?
Reisinger: Ich denke, das Mindeste ist, wenn es so ein Wohlwollen in der Vergangenheit gegeben hat, wie wir das jetzt aus dem Gutachten auch herauslesen, wie wir das im Übrigen auch aus anderen Ländern, aus Irland, aus den USA, kennen, dass dieses Wohlwollen gegenüber kirchlichen Amtsträgern ein Ende hat, denn das ist ja völlig unangemessen. Das Recht muss ohne Ansehen der Person gesprochen werden. Und das muss in diesen Fällen auch gelten, das wäre das Allermindeste.
Darüber hinaus würde ich mir wünschen: Die Münchner Gutachter haben ja geprüft, inwiefern auch Verantwortliche sich strafbar gemacht haben. Ich würde mir wünschen, dass in die Richtung noch deutlicher nachgefragt wird, inwiefern war das Beihilfe, was da geleistet worden ist von Seiten der Bischöfe, die Bescheid wussten und trotzdem Täter weiter im Dienst belassen haben. Da wünsche ich mir einfach mehr – auch im Rahmen dessen, was jetzt schon durchaus möglich ist – einfach mehr Mut, hinzugucken und die entscheidenden Fragen zu stellen und zu ermitteln.
Viele Betroffene wünschen sich diese Schuldeingeständnisse
Ley: Eine andere, ganz grundlegende Beobachtung, die die Gutachter ja am Ende noch angesprochen haben, ist auch die, dass die Verantwortlichen jenseits ihrer reinen Strafbarkeit oft anscheinend gar nicht in der Lage zu einem Schuldeingeständnis sind. Dass sie sich einfach darauf beziehen: Nach geltendem Kirchenrecht damals haben wir getan, was wir konnten. Oder: Das war eben gängige Moralvorstellung zu der Zeit. Also: Sie scheinen gar nicht in der Lage zu sein, selbstkritisch zu reflektieren, inwiefern sie sich schuldig gemacht haben. Sie haben ja selbst auch Erfahrungen mit sexuellem und spirituellen Missbrauch in der Kirche gemacht. Sind es denn solche individuellen Schuldeingeständnisse, die Betroffene wie Sie sich heute wünschen würden? Oder was bräuchte es stattdessen?
Reisinger: Das ist eine gute Frage. Ich glaube, viele Betroffene wünschen sich diese Schuldeingeständnisse, weil, solange die Gegenseite die Behauptung aufrechterhält, da war eigentlich nichts – oder ganz oft bleibt es ja auch nicht dabei, sondern man hat so eine Form des Victim-Blaming erlebt: „Du bildest dir da was ein, du willst Rache üben, du bauscht das auf, du hast das provoziert oder du hast das alles gewollt“ – das quält die Betroffenen. Das ist ein Stachel im Fleisch. Das tut weh. Und deswegen wünschen sich viele Betroffene, dass die Täter, die Verantwortlichen, sagen, was war, was sie getan haben.
Das geschieht aber ganz, ganz, ganz selten. Deswegen sind die Betroffenen am glücklichsten, die diesen Wunsch irgendwie ablegen, die das für sich nicht mehr brauchen. Aber es wäre natürlich trotzdem wünschenswert, gerade von verantwortlicher Seite, dass einfach klargestellt wird, was war. Aber das ist nicht alles, was Betroffene brauchen. Was Betroffene brauchen, ist, dass sie das zumindest von staatlicher Seite, von dritter Seite, von übergeordneter kirchlicher Seite irgendwo hören; dass jemand anders ihnen das sagt: Das war so und das war nicht in Ordnung, was Dir geschehen ist.
Und das muss damit einhergehen, dass sich das auch in Handlungen ausdrückt, dass es Entschädigungszahlungen gibt, die angemessen sind, dass es Verurteilungen gibt, dass Täter aus dem Dienst genommen werden. Es gibt immer noch viele Priester in Deutschland, die Kinder oder junge Erwachsene missbraucht haben und nach wie vor seelsorglich tätig sind. Und das ist natürlich für Betroffene das Allerschlimmste.
Das heißt, das Schuldanerkenntnis muss sich konkret ausdrücken in Maßnahmen, die ergriffen werden, die auch deutlich machen: Das ist wirklich verstanden worden, dass das nicht in Ordnung war, was geschehen ist – und das hat Konsequenzen.
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