Reiz des Mittelhochdeutschen

Rezensiert von Carolin Fischer |
Selbst wenn heutzutage kaum noch jemand das Nibelungenlied liest, so ist dieses deutsche Nationalepos doch den meisten ein Begriff. Um 1200 erstmal in der damaligen Volkssprache, dem Mittelhochdeutschen aufgeschrieben, verbindet es historische Ereignisse wie beispielsweise die germanischen Völkerwanderungen, die in dieser zeitlichen und kausalen Abfolge so aber nicht stattgefunden haben, zu einer stringenten Erzählung, in der Liebe und Kampf ebenso eine Rolle spielen wie höfisches Zeremoniell und Mythisches.
Wir erfahren viel über den Ehrencodex des Mittelalters und die große Bedeutung, die der rituellen Prunkentfaltung beigemessen wurde. So trugen nicht nur die Frauen, sondern auch die Ritter bei festlichen Gelegenheiten kostbare, mit Edelsteinen geschmückte Seidengewänder, deren Pracht und aufwändige Herstellung immer wieder ausführlich beschrieben werden.

Der große Reiz des mittelhochdeutschen Textes ist für heutige Leser kaum zugänglich, doch hat Ursula Schulze das Werk in eine hervorragend lesbare, gegenwärtige Sprache übertragen, die nicht nur eine flüssige Lektüre ermöglicht, sondern in der zweisprachigen Ausgabe auch die Chance eröffnet, einzelne Passagen im Original nachzuvollziehen. Außerdem liefert ihr Anhang Informationen über den historischen Hintergrund und die lange Geschichte der Übermittlung des Werkes.

Sechshundert Jahre sollte es dauern, bis sich das Nibelungenlied als Nationalepos etablieren konnte, nachdem es um 1800 zum ersten Mal gedruckt wurde und dank der Mittelalterbegeisterung der Romantik und des Bedarfs an heldenhaften Vorbildern während der Napoleonischen Kriege auf fruchtbaren Boden fiel. Eine Apotheose erlebte der Stoff durch Wagners Vertonung im Ring.

Der Opernstoff hat allerdings kaum noch etwas mit dem ursprünglichen Text gemeinsam. Das Nibelungenlied selbst ist zunächst der Bericht von Siegfrieds Heldentaten und seiner Ermordung durch Hagen. Den gesamten zweiten Teil nimmt die grausame Rache seiner Witwe Kriemhild ein. Faszinierend für uns ist der Text vor allem durch die ungeheure Macht, die den Frauen zugeschrieben und als große Bedrohung wahrgenommen wird. Einerseits scheinen die Frauen geradezu eingeschlossen in ihren Kemenaten zu leben: So muss Siegfried erst den Krieg gegen die Sachsen und Dänen gewinnen, bevor er Kriemhild überhaupt zu Gesicht bekommt; andererseits tritt Brünhilde als selbst bestimmte Herrscherin auf; sie verliert aber durch die Hochzeit ihre Unabhängigkeit und später durch die Entjungferung, die Gunther – wie schon die Werbung – nur mit Siegfrieds Hilfe gelingt, auch ihre übermenschliche Kraft. Als Siegfried im nächtlichen Kampf gegen Brünhilde zu unterliegen droht, fürchtet er nicht nur um sein Leben, sondern vor allem die Konsequenzen: "Wenn das geschieht, könnten künftig alle Frauen übermütig werden."

Die schreckliche Fehde schließlich, die alle Helden in den Tod führt, beruht auf dem Streit zweier Frauen, was offensichtlich von der höfischen Gesellschaft toleriert werden konnte. Als aber Kriemhild am Schluss dem Mörder ihres Mannes das Schwert abnimmt, dass dieser Siegfried geraubt hatte, und ihn damit eigenhändig enthauptet, geht sie einen Schritt zu weit: "'Wahrhaftig', sprach Meister Hildebrand, 'sie wird nicht darüber triumphieren, dass sie ihn zu erschlagen wagte'", und versetzte der Königin einen tödlichen Stoß mit dem Schwert. Durch ihre Ritter also darf die Frau sich rächen, nicht aber durch die eigene Hand.

Schulze, Ursula:
Das Nibelungenlied, Mittelhochdeutsch - Neuhochdeutsch.

Artemis und Winkler 2005,
855 Seiten, 26 Euro.