Simone Rosa Miller studierte Philosophie und Politikwissenschaft in Berlin, Buenos Aires und London. Sie ist Redakteurin und Moderatorin der Philosophiesendung "Sein und Streit" im Deutschlandfunk Kultur. Daneben publiziert sie als freie Autorin zu geisteswissenschaftlichen Themen und veröffentlicht Beiträge in der akademischen Philosophie.
Schluss mit der Scheinheiligkeit
04:34 Minuten
Am Amazonas wurde in nur einem Jahr eine Fläche größer als Jamaika entwaldet. Trotz vielfach geäußerter Besorgnis bleibt eine ernsthafte Verantwortungspolitik des Westens aus. Das hat tiefere Gründe, kommentiert Simone Miller.
Drei Fußballfelder Wald fallen pro Sekunde, allein im brasilianischen Regenwald. Unter der Bolsonaro-Regierung haben die Amazonas-Rodungen einen neuen Rekord erreicht, so verkünden es die Nachrichten. Ich bin ganz sicher nicht die Einzige, der bei diesen Meldungen ein Kloß im Hals entsteht.
Alarmiert durch fernes Sägen
Ungezählte Deutsche spenden jährlich für den Erhalt des Regenwaldes, adoptieren Gorillas und werden Baumpaten. So als wäre das Geheul der tollwütigen Kettensägen selbst für uns noch hörbar. So als frästen sich die fernen Sägen in deutsche Familienstammbäume, die noch in die Zukunft wachsen wollen.
Und trotzdem steht diese persönliche Betroffenheit in einem seltsamen Kontrast zu unserer politischen Haltung. Auf der Ebene der Politik fühlen wir uns der Verantwortung für das grüne Gemetzel enthoben. Denn es ist ja klar, wer hier verfügt: die rechtsradikale Bolsonaro-Regierung. Und Staaten sind nun mal souverän. Auch Diplomatie kann hier nicht viel ausrichten. Und so bleibt offenbar nur entsetztes Zusehen oder betretenes Wegschauen.
Gemeinsames Handeln für globale Probleme
Auf diese Weise blenden wir aus, was wir eigentlich wissen: Globale Probleme – wie die Erhaltung der Regenwälder – lassen sich nur global lösen. Vor allem dann, wenn sie in einen ehemals kolonialen Kontext eingebettet sind. Es war der ecuadorianische Präsident Correa, der sich vor über zehn Jahren an die Weltgemeinschaft wandte: Ecuador wolle auf die Ausbeutung eines Ölfeldes verzichten und so an die fünf Millionen Hektar Regenwald vor dem Untergang bewahren.
Das könne sich das kleine und arme Ecuador aber nur leisten, wenn die Staatengemeinschaft für rund die Hälfte der zu erwartenden Öleinnahmen aufkomme, die Hälfte der Verluste also kompensiere. Deutschland sagte seine Unterstützung zu. Und dann wieder ab. Zur Begründung hieß es: Man wolle nicht für Unterlassung zahlen. Inzwischen fließt klebriges Öl im Yasuní-Nationalpark und bedroht die Abertausenden Pflanzen- und Tierarten.
Billiges Rindfleisch für den reichen Norden
Natürlich kann der Amazonas gerettet werden, aber eben nur, wenn der globale Norden die verlustigen Einnahmen aus Holz, Ackerflächen und Bodenschätzen ausgleicht, zumindest teilweise. Das wäre keine noble Tat: Schließlich ist die wirtschaftliche Prekarität Lateinamerikas bis heute zu einem Gutteil Produkt des kolonialen Erbes – und das Niederreißen des Urwalds auch Raubbau am guten Leben unserer Kinder.
Wir als Norden verhalten uns wohlfeil, wenn wir Länder des globalen Südens moralisch darauf verpflichten, auf wichtige Einnahmequellen zu verzichten, sie aber gleichzeitig in sich ewig weiterschraubenden Schuldenspiralen gefangen halten und unsere Kühlschränke derweil mit billigem Amazonas-Rindfleisch füllen.
Und es ist vor allem verantwortungslos, anzunehmen, in dieser Situation könnten Lösungen für ein menschheitswichtiges Problem wie den Schutz der verbleibenden Regenwälder gefunden werden. Es liegt auf der Hand, dass Lösungen nur dort möglich werden, wo akzeptable Bedingungen für alle Beteiligten geschaffen werden. Gelingende Zusammenarbeit setzt ein Mindestmaß an Gerechtigkeit voraus.
Tief verstrickt in traurige Tropen
Was zeigt all das? Dass eine ernst gemeinte Verantwortungspolitik immer damit beginnen muss, die zugrundeliegenden Beziehungsgeflechte sichtbar zu machen. Wir müssen die Geschichten erzählen, die von deutschen Mahagoni-Möbeln tief hinein in traurige Tropen reichen, die ökonomischen Pfadabhängigkeiten benennen, die Südamerika bis heute an Europa ketten, die Linien zeichnen, die unsere koloniale Vergangenheit mit einer sich immer weiter verdunkelnden Zukunft verbinden.
Erst wenn wir diese Beziehungsgewebe aufdecken, können wir funktionierende Lösungen finden: für den Regenwald, für die Klimawende, für eine gemeinsame Zukunft.