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Den Geist ansprechen
Auch wenn Igor Strawinsky zu den berühmtesten Komponisten des 20. Jahrhunderts zählt, sind viele seiner Werke nicht sonderlich bekannt. Darunter seine religiöse Musik, die ihm selbst viel bedeutete. Eine diskographische Erkundung zum 50. Todestag.
Mit farbenprächtigen und skandalträchtigen Ballettmusiken erlangte Igor Strawinsky den Status eines Jahrhundertkünstlers, weithin berühmt wie sein Zeitgenosse Pablo Picasso. Seine religiöse Musik fristet dagegen ein Schattendasein, obwohl sie besonders vielseitig ist.
Igor Strawinsky, vor 50 Jahren gestorben, war in verschiedenen Weltgegenden, Kulturen und Sprachen zuhause. Er war anpassungsfähig und lernwillig – und grenzenlos offen bis an sein Lebensende. Im russischen Zarenreich wuchs er auf, in Frankreich wurde er berühmt, in der Schweiz verbrachte er die Jahre des Ersten Weltkriegs und orientierte sich künstlerisch neu.
Heimatsuche
An eine Rückkehr in die Heimat war nach der Oktoberrevolution nicht zu denken, also ging Strawinsky abermals nach Frankreich und nahm die französische Staatsbürgerschaft an – Paris war seit langem ein Ort, an dem sich emigrierte Russen in großer Zahl begegneten. Und noch einmal kam er durch eine Übersiedlung einer Flucht zuvor, die später vielleicht nötig geworden wäre: Nachdem er 1939 von der Harvard University eingeladen worden war, kehrte er Europa den Rücken und wurde amerikanischer Staatsbürger.
Zu diesen Ortswechseln kam eine rastlose Reisetätigkeit hinzu, die Strawinsky den Anschein eines heimatlosen Künstlers gab. Doch baute er sich im Laufe seines langen Lebens eine geistige Heimat auf, die sich paradoxerweise in einer Stadt materialisierte, in der Strawinsky niemals lebte, aber in der er seine letzte Ruhe fand: Venedig. Hier hatte er in den 1920er Jahren ein religiöses Erweckungserlebnis, hier fand er nach dem Zweiten Weltkrieg mannigfaltige Inspirationen, etwa in der Architektur des Markusdoms oder in der italienischen Musik der Spätrenaissance.
Offene Orthodoxie
Kurze Chorwerke im Geist der russisch-orthodoxen Liturgie waren um 1930 Strawinskys erste kompositorische Auseinandersetzungen mit der Religion, ergänzt um die außergewöhnliche Mischform der halb konzertanten, halb geistlichen "Psalmensinfonie" nach der lateinischen Vulgata-Übersetzung der Bibel. In den späten 1940er Jahren kam eine lateinische Messe für Chor und zehn Blasinstrumente hinzu, die seine Faszination für die katholische Liturgie ebenso dokumentiert wie seine Beschäftigung mit früher mehrstimmiger Musik des Mittelalters.
Musik-Pole
Igor Strawinsky wurde oft als Antipode Arnold Schönbergs betrachtet. Das (Klischee-) Bild wurde einerseits besetzt mit dem Zwölftöner Schönberg, der das Erbe der deutsch-österreichischen Musik in unerbittlicher Strenge fortführte, andererseits mit dem musikalischen Spieler Strawinsky, der sich alles ohne Mühe, aber auch ohne Respekt anzueignen schien.
Auch wenn sich die beiden Großmeister, die zuletzt in Hollywood in unmittelbarer Nachbarschaft wohnten, aus dem Weg gingen, gab es doch etliche Werke Schönbergs und seiner Schüler, die Strawinsky zutiefst bewunderte.
Sperrige Spiritualität
Zum Erstaunen – und teils auch Entsetzen – vieler seiner Anhänger wandte Strawinsky ab den 1950er Jahren Elemente von Schönbergs Methode der "Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen" selbst an und schuf sich damit einen neuen Ausgangspunkt für Werke, in denen religiöse Themen zunehmend hervortraten. "Geistliche Musik" wird man das schwerlich nennen können, zu sehr verwischte Strawinsky die Grenzen von Oper und Oratorium. Zudem schuf er eine Reihe von instrumentalen Requiem-Kompositionen, die geistliche Inhalte in weltliche Formen bringen.
Keineswegs zeigen diese Werke den mitreißenden Strawinsky der frühen Jahre, und doch kommen sie, bei aller fast widersprüchlich anmutender Vielseitigkeit, unverkennbar aus seiner Feder. Es sind oft sperrige, aber hoch inspirierte und unverwechselbare Werke, in denen es aus mitteleuropäischer Sicht befremdlich erscheinen kann, dass sie keine persönliche Bekenntnismusik sind, dass sie kühl wirken und das Geistige in absoluter Reinheit darstellen wollen.
Die Welt ist mit diesen zumeist selten gespielten Kompositionen noch lange nicht fertig, und während man sich auf dem Plattenmarkt vor Einspielungen des "Sacre du printemps" kaum retten kann, muss man schon geduldig suchen, um von späten Hauptwerken wie den "Threni" oder den "Requiem Canticles" eine Handvoll Einspielungen zu finden. Ganz zu schweigen von Strawinskys letztem Beitrag zum Musiktheater – "The Flood", einem kleinen Stück über die Sintflut.
In der ersten Stunde dieser Sendung steht die noch vergleichsweise populäre "Psalmensinfonie" im Mittelpunkt, während sich der zweite Teil vornehmlich der Messe und dem Spätwerk widmet. Strawinskys Assistent Robert Craft und Pierre Boulez haben hier im Studio und im Konzertsaal Pionierarbeit geleistet, während dieses Repertoire zuletzt in Philippe Herreweghe einen besonders engagierten Dirigenten gefunden hat.