Filme an den Rändern des Glaubens
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Im Publikumsteil der Berlinale sind einige Filme zu sehen, die sich mit Extremformen von Religion beschäftigen. Da geht es um starre Regeln und um komplexe Persönlichkeiten, die ihren ganz eigenen Umgang damit finden.
Immer wieder fährt die Hand mit der Haarschneidemaschine über Egons Kopf, bis nur noch millimeterkurze braune Stoppeln übrig bleiben – das Scheren der Haare als universelles Zeichen für den Eintritt in eine besondere, klosterähnliche Gemeinschaft. In Egons Fall ist das eine Lebens- und Therapiegemeinschaft, in der ein frommer Pfarrer heroinabhängige Menschen durch den Entzug begleiten und zu einem drogenfreien Leben führen will.
"Ihr habt kalte kranke Herzen", sagt der Pastor. "Ihr seid gottlose Würmer. Ihr seid so krank, dass es mich krank macht, euch so krank zu sehen."
Jesus als Drogenersatz
"Kurz- oder mittelfristig wird da ein Substitut angeboten", sagt David Vajda, Regisseur des Films "Jesus Egon Christus". "Das ist zum Beispiel ein Jesus, der dich liebt, egal wer du bist oder was du gemacht hast." Vajdas Bruder Saša, mit dem er den Film gemeinsam realisiert hat, ergänzt:
"Auf jeden Fall hatten wir den Eindruck in den Einrichtungen, wo wir waren, dass das Konfliktpotenzial sehr hoch ist, weil – zu glauben, dass man jemanden mit einer so komplexen Lebens- und Suchtgeschichte mit diesen archaischen Mitteln einer Tagesstruktur und Gottes Wort zur Genesung bringen kann, das wage ich zu bezweifeln, längerfristig."
David und Saša Vajda erforschen mit ihrem Film ein System, das Heilung verspricht, und mit Egon die Figur, die dieses System sprengt. Egon tickt auch nach dem Entzug in seinem ganz eigenen Rhythmus. Das muss zu Konflikten führen in einer Lebensgemeinschaft, die Glaubensgrundsätze in klare Anweisungen fürs Leben und für die Hausordnung übersetzt, wie sich in diesem kurzen Filmdialog zeigt:
"'Was ist los, Egon?' – 'Egon will nicht duschen.' – 'Du musst aber duschen. Duschen ist Pflicht.' – 'Jesus sagt, Egon muss nicht duschen.'"
Das Heilsversprechen zu wörtlich genommen
"Er identifiziert sich", sagt Saša Vajda über den Protagonisten des Films, "vielleicht überidentifiziert er sich mit diesem Versprechen der Heilung. Ich glaube, er macht einfach etwas sehr Naheliegendes: Er nimmt die Sachen wörtlich. Das bringt ihn ein bisschen um den Verstand."
"Jesus Egon Christus" ist durchaus anstrengend anzusehen. Vielleicht predigt der Pastor auch ein bisschen zu holzschnittartig in seinem Wunsch, seine Gemeinde auf einen Weg jenseits der Sucht zu bringen. Aber die Porträts der Abhängigen sind eindrücklich, zart und bilden Grenzerfahrungen hautnah ab.
In die Hölle, weil sie zu viel zeigt
Religion inspiriert Filme offenkundig vor allem in ihrer extremen Form. Aber solch fundamentalisierte Religion darf trotzdem nicht als vorschnelle Erklärung für Konflikte dienen, auch darauf weisen die Filme dieser Berlinale hin. So auch der Dokumentarfilm "As I Want". Die Filmemacherin Samaher Alqadi setzt sich mit der allgegenwärtigen Gewalt gegen Frauen in Ägypten auseinander.
Zum Beispiel beim Gespräch mit jungen Frauen auf einem Spielplatz, irgendwo in Kairo: "Frauen wie du kommen in die Hölle", erzählt ein Mädchen freundlich und erklärt auf Nachfrage: "Weil deine Kleidung zu offenherzig ist."
Samaher Alqadi recherchiert Übergriffe und Vergewaltigungen bei Demonstrationen gegen die Regierung Mursi im Jahr 2013. Sie konfrontiert Männer mit laufender Kamera, die sie im Alltag übergriffig angehen. Sie zeigt Frauen, die zum ersten Mal die Stimme gegen diese Gewalt erheben und erforscht ihre eigene schmerzhafte Familiengeschichte.
Kultur, Tradition und Politik sind mitverantwortlich
Die Überzeugung von der Unterlegenheit der Frau steckt tief in Männern wie Frauen, sagt Alqadi. Aber dafür nur religiöse Ursachen anzunehmen, greife viel zu kurz:
"Im Entwurf für den Filmkommentar hatte ich viel aus dem Koran zitiert, aber das habe ich dann doch nicht benutzt. Das alles auf den Islam zurückzuführen, ist nicht fair. Dass überall auf der Welt Frauen schlecht behandelt werden, liegt nicht an der Religion: Es ist Kultur, Tradition, Politik. Vielleicht ist es auch eine Reaktion auf die Stärke von uns Frauen."
"Kindergottesdienst – heute darf jedes Kind vortragen, was es gut kann", ruft Ulja Funk, die Protagonistin eines Films im Kinder- und Jugendprogramm "Generation" der Berlinale. Doch kurz darauf sagt sie enttäuscht: "Mein Vortrag wurde als einziger abgebrochen. Sogar meine Brüder durften weitermachen. Nur für die Wissenschaft ist hier kein Platz."
Zu Hause nur bei Gott
Ulja lebt in einer russlanddeutschen Familie. Ihre große Sehnsucht sind die Sterne – aber Ulja will sie erforschen, nicht etwa als göttliches Wunder bestaunen. Das führt zu Schwierigkeiten, denn ihre Familie gehört zu einer strengen Freikirche, angetrieben von Großmutter Olga. Barbara Kronenberg, Regisseurin des Films "Mission Ulja Funk", erläutert:
"Gerade in einer Familie, die eng zusammenlebt, die eine Migrationsgeschichte hat, ist die Frage: Wo ist mein Platz? Oma Olga sagt ja, in Russland war sie immer die Deutsche, in Deutschland immer die Russin, eigentlich fühlt sie sich nur bei Gott richtig zuhause."
Kronenberg kennt das fromme freikirchliche Milieu der Russlanddeutschen aus familiären Zusammenhängen, auch wenn sie selber katholisch aufwuchs. Der Gegensatz habe sie fasziniert: Gemeinden, die unauffällig nur in ihrer eigenen Welt leben wollten und gerade deswegen in der Mehrheitsgesellschaft herausstechen.
So wie Ulja: Sie ist klug, geschäftstüchtig und auf eine Weise fromm, die dem Gemeindepastor nicht gefällt. Er greift zu drastischen Maßnahmen und kassiert Uljas Computer. Kronenberg erklärt aber:
"Es war mir wichtig, auch nicht nur ein Bild von den bösen religiösen Leuten zu zeichnen, die den Kindern die Dinge wegnehmen, weil sie es nicht aushalten, sondern zu sagen: Das sind auch Leute, die geben anderem und dem Anderssein auch Platz."
Roadmovie mit Kleinstasteroid
Ein Mädchen begehrt auf gegen die strengen Regeln der frommen Gemeinschaft, in der sie lebt: Daraus hätte man ein düsteres Drama machen können. Barbara Kronenberg hat ein Roadmovie gedreht, liebevoll, komisch und voller aberwitziger Situationen. Sie schickt Ulja, ihre Oma, den Pastor und schließlich die ganze Gemeinde von irgendwo in Westdeutschland ins weißrussische Patzschurk, weil dort in vier Tagen ein Kleinstasteroid einschlagen wird. Sie weiß:
"Das hat natürlich auch mit meiner eigenen Sicht auf die Welt zu tun, daraus eine Komödie und kein Drama zu machen, die Hauptfigur in dieser Geschichte nicht zu zerstören, sondern ihr zu ermöglichen, einen friedvollen Umgang mit sich und ihrem Umfeld zu finden."
Nicht nur dieser Film bei der Berlinale zeigt, dass auch eine Gemeinschaft, die von außen betrachtet nach strengen, fast extremen Regeln lebt, besteht eben immer noch aus Individuen. Und die leben ihre je eigene Form des Glaubens, auch wenn dafür manchmal ein Asteroid einschlagen muss.