Ist der Glaube Heimat oder Fessel?
Die Berlinale geht zu Ende und auch die Sendung "Religionen" zieht eine Bilanz: Wie hat sich das Filmfest mit Religionen, mit ihrem Personal und ihren Anhängern auseinandergesetzt? Ein Gespräch mit der Theologin und Filmkritikerin Kirsten Dietrich.
Anne Françoise Weber: Die Berlinale geht heute zu Ende, Bären und Preise sind vergeben, wir haben in unserem Programm ausführlich berichtet – und hier in "Religionen" wollen wir jetzt noch eine eigene Bilanz ziehen und uns anschauen, wie sich das Filmfest denn in diesem Jahr mit Religionen, mit ihrem Personal und ihren Anhängern auseinandergesetzt hat. Dafür habe ich vor der Sendung mit meiner Kollegin Kirsten Dietrich gesprochen. Die Journalistin und Moderatorin auch dieser Sendung ist evangelische Theologin und Filmkritikerin. Im vergangenen Jahr war ihre Bilanz, dass die Religionen bei der Berlinale eher schlecht weggekommen sind; mit Ausnahme des Buddhismus wurden sie eigentlich ziemlich negativ dargestellt. Deswegen habe ich Kirsten Dietrich gefragt, ob das bei der Berlinale 2016 denn wieder so war?
Positive Kräfte von Religion
Kirsten Dietrich: Nein, da war das Bild in diesem Jahr doch deutlich differenzierter. Es gab natürlich diese Filme, die sozusagen fast klassisch den Zwang zeigen, den eine enge Religiosität auf einen Einzelnen ausübt. Ein Beispiel im Wettbewerb war zum Beispiel "Midnight Express" - da wird ein kleiner Junge mit übersinnlichen Kräften von einer religiösen Sekte quasi gefangen gehalten. Aber in den Filmen - und das fand ich wirklich ganz auffällig - dieses Jahr wurde wirklich in erstaunlichem Ausmaß eben auch über die positiven Kräfte von Religion gesprochen, also über Bindung, über Heimat, über Geborgenheit, über Halt innerhalb der verschiedenen Möglichkeiten der Moderne, und das da noch mal, das fand ich auch ganz auffällig, doch recht unterschiedlich in den Akzenten über Judentum, Christentum und den Islam. Der Buddhismus hat dieses Jahr eigentlich keine Rolle gespielt.
Weber: Na, dann wollen wir doch mal die drei großen monotheistischen Religionen durchgehen, fangen wir mal mit dem Judentum an. Bei der letzten Berlinale gab es Kritik, es gebe zu wenige Filme aus Israel, zu wenig Filme mit jüdischen Themen, in diesem Jahr gab es ein reichhaltiges Angebot. Was waren denn da die besonderen Akzente?
Zugewandtes und sinnhaftes Leben
Dietrich: Na ja, vorher bei der Berlinale, da waren das oft Filme, die sich eben damit auseinandergesetzt haben, wie ein Einzelner an den strengen Grenzen der Religion scheitert - also ich erinnere mich an eine ganz eindrückliche Dokumentation über orthodoxe homosexuelle Juden und Jüdinnen. In diesem Jahr lag der Schwerpunkt durchaus eher auf dem Thema der Versöhnung, zum Beispiel in der Dokumentation "Who's Gonna Love Me Now?". Das ist ein ganz wundervoller Film, der von Saar erzählt. Er ist homosexuell, HIV-positiv und vor Jahren aus einem ganz streng religiösen Kibbuz rausgeworfen worden, in dem seine Familie lebt, und er lebt jetzt fern der Religion in London. Und der Film begleitet dann einen Versöhnungsprozess von Saar mit seiner Familie, mit Israel, vielleicht auch mit der Religion, das vielleicht noch am allerwenigsten. Aber trotzdem merkt man, wie sehr eben auch der Glaube, vor allen Dingen bei Saars Mutter, so ein Versöhnungspotenzial entfalten kann, sodass die Familie hinterher das Unmögliche annimmt, dass nämlich sie einen Sohn haben, den sie sehr lieben und von dem sie ganz klare Erwartungen haben, was dieser Sohn machen soll, der aber - der Sohn - diese Erwartungen nicht erfüllt und einen ganz anderes eigenes, aber eben doch auch zugewandtes und sinnhaftes Leben führt. Das fand ich ganz beeindruckend zu sehen. Oder ein anderes Beispiel, aus Argentinien der Film, "The Tenth Man", also "Der zehnte Mann", der spielt darauf an, dass eben eine jüdische Gemeinde zehn Männer umfassen muss zum Gebet. Der Vater der Hauptfigur Ariel in diesem Film, der war oft dieser zehnte Mann und hat dafür keine Zeit für seinen Sohn gehabt. Und dieser Sohn kommt jetzt heim aus New York ins jüdische Viertel Once in Buenos Aires, und der Vater hat irgendwie immer noch keine Zeit. Aber was jetzt eben kommt, ist nicht eine wütende Abrechnung mit diesem abwesenden Vater, sondern der Sohn fällt in die Rolle des Vaters hinein. Er übernimmt immer mehr Aufgaben in der jüdischen Gemeinde, er findet seinen Glauben wieder, und in ganz zarten Bildern richtig sehen wir, wie der Film dann eben diese neuen Bindungen feiert und zeigt, also ein ganz zarter, persönlicher Shabbat mit einer Frau, in die er sich verliebt hat - das sind ganz zärtliche, sehnsuchtsvolle Bilder, die die Kraft dieser religiösen Bindung zeigen.
Weber: Sehnsucht nach religiöser Bindung, zarte Bilder, gab's das auch bei den Filmen, die vom Islam handeln?
Differenzierter Blick
Dietrich: Na ja, da war das Bild gemischter, vielleicht weil da einfach doch auch deutlicher im Vordergrund die Auseinandersetzung mit eben auch bestehenden tatsächlichen Zwängen steht. Diese religiöse Bindung war vor allen Dingen in einem Film Thema, der eine eher westliche Sicht auf dieses Thema zeigt, nämlich "Road to Istanbul". In dem flieht eine junge Frau, eine junge belgische Frau als Konvertitin vor der kühlen belgischen Moderne und vor auch der kühlen Mutter eben in eine warme Gemeinschaft der Glaubensbrüder und Glaubensschwestern, der neuen. Der Film erzählt die Geschichte der Mutter, die ihre Tochter zurückholen will. Man erfährt nicht genau, ob die Tochter ihre Sehnsüchte wirklich erfüllt bekommt, aber man erfährt, dass sie trotz aller persönlichen Opfer, die sie bezahlen muss, trotzdem eben bei diesen neuen Glaubensgeschwistern, in dieser neuen Familie bleiben will. Die Filme, die direkt aus islamisch geprägten Ländern kommen, sind da ein bisschen differenzierter in ihrem Blick. Ich fand besonders beeindruckend einen Film aus Saudi-Arabien - "Barakah Meets Barakah" heißt er -, der erzählt eine lustige Liebesgeschichte und erzählt vor allen Dingen auch von den Versuchen, um die strikten Regeln herum so etwas wie einen öffentlichen Raum zurückzugewinnen. Religion spielt in ihrer offiziellen Version in diesem Film eigentlich fast keine Rolle, oder wenn ...
Weber: Erstaunlich bei Saudi-Arabien.
Dietrich: Erstaunlich bei Saudi-Arabien ... Auch dieser Film konzentriert sich eher auf die individuellen Aspekte. Also wenn Religion gezeigt wird, dann in dem Fall des saudi-arabischen Films in Gestalt einer, ja, man weiß nicht, irgendwie wundertätigen Hebamme, die fähig ist, im Namen Allahs Heilungsrituale durchzuführen und damit auch sehr erfolgreich ist. Und dieser Aspekt der Heilung, der taucht auch in anderen Filmen immer wieder auf, das finde ich ganz erstaunlich: In einem Film aus Kasachstan zum Beispiel, in dem diese Heilung eigentlich der einzige Versuch ist, einer ganz grundsätzlichen religiösen Entfremdung Herr zu werden, oder auch in einem Film, der israelische Regie hat, ein israelisch-palästinensisches Drehbuch, "Junction 48" heißt der. Der erzählt von Rappern in einer palästinensischen Gemeinde innerhalb einer israelischen Stadt, und auch dort hat die Mutter der Hauptfigur dann diese heilenden Kräfte und führt da Rituale durch, führt dort Heilungen und so was wie Geisteraustreibungen durch - für Juden wie für Muslime übrigens.
Weber: Also Heilung durch Glauben, das ist ja was, wo man hier doch ziemlich skeptisch ist. Und wenn wir jetzt dann auch noch zum Christentum kommen - bei der Berlinale gab's doch da immer einen recht kritischen Blick. Vor zehn Jahren gab's diesen Exorzismusfilm "Requiem", vor zwei Jahren den Film "Kreuzweg", da ging's auch so um falsche Aufopferung, beide waren damals im Berlinale-Wettbewerb. Wie war das dieses Jahr - ein positiver Blick auch auf Heilung durch Glauben im Christentum?
Sehnsucht nach Religion
Dietrich: Na ja, mit der Heilung durch Glauben, da tun sich die Filme, die sich vor christlichem Hintergrund abspielen, ein bisschen schwerer. Da ist vielleicht eher noch deutlicher diese kritische Haltung zu spüren, die wir am Anfang angesprochen hatten. Zum Beispiel in dem Film "Zhaleika", der erzählt von einem Mädchen in einem bulgarischen Dorf, dessen Vater gestorben ist, und dieses Mädchen weigert sich, sich von dieser kollektiven Trauer vereinnahmen zu lassen. Sie will einfach kein Schwarz tragen, sie will sich nicht beweinen lassen von den Großmütterchen am Wegesrand, sie geht ihren eigenen Weg und geht letztendlich dann aus dem Dorf raus. Aber auch da ist spürbar eher so was wie ein großer Respekt und fast auch eine Sehnsucht nach Religion. Wenn die Regisseurin dann zum Beispiel sagt - ich hab mit ihr gesprochen -, dass sie diese Trauerrituale für die Einzelnen oft schwierig und unzumutbar findet, aber sie möchte sie eigentlich nicht abschaffen, sie würde sich nur wünschen, dass die Einzelnen doch mehr Möglichkeiten hätten, auch eigene Wege zu gehen.
Und ich fand es dann faszinierend, wie in einem anderen Film versucht wird, diese religiöse Bindung und die Kraft des Religiösen sozusagen ins Kulturelle zu übersetzen - in dem französischen Film "Le fils de Joseph" nämlich. Der erzählt von einem Jungen - Vincent -, der seinen Vater sucht. Er ist mit seiner Mutter alleine groß geworden, die Mutter hat ihm lange verschwiegen, wer sein Vater ist, jetzt hat er herausgefunden, der Vater ist ein absolut unsympathischer Egomane. Den Vater lernt er kennen, er lernt auch den Bruder des Vaters kennen - Joseph -, und diesen, eigentlich Onkel, wählt er dann als seinen eigenen eigentlichen neuen Vater.
Weber: Sozialen Vater.
Biblische Traditionen
Dietrich: Als seinen sozialen Vater sozusagen, den Ersatzvater. Der Film erzählt das aber mithilfe biblischer Traditionen. Er nimmt zwei Geschichten, nämlich die Opferung Isaaks durch Abraham - dieser Junge hat ein Riesenposter mit dem berühmten Bild von Caravaggio in seinem Zimmer hängen -, und die andere Geschichte, die andere Folie ist die Geschichte von Josef und Maria. Und der Film zeigt nun ganz spielerisch, wie dieser Vincent sich auf der Suche nach seinem Vater diese biblischen Geschichten zu eigen macht. Er kehrt die Rollen um und droht erst fast, seinen biologischen Vater umzubringen - das ist die Opferung Isaaks durch Abraham -, und dann flieht er sozusagen mit seinem neuen Vater und seiner Mutter und einem Esel vor der Polizei wegen dieses missglückten Anschlags dann ...
Weber: Bis nach Ägypten?
Dietrich: Nein, nicht bis nach Ägypten, über einen französischen Strand. Und die Geschichte geht dann auch ganz freundlich und ganz gut und glücklich aus. Das finde ich eine ganz faszinierende Art, wie da mit diesen kulturellen biblischen Traditionen, die auch gar nicht weiter erklärt werden, gespielt wird und dadurch eine Familie zusammengebracht wird.
Weber: Es ist ja nun wahnsinnig schwierig, aus 400 Filmen bei der Berlinale irgendein Fazit zu ziehen - haben Sie trotzdem eins, zumindest auf diese Herangehensweise an Religionen, in diesem Jahr?
Dietrich: Ich finde, man sieht auf jeden Fall so einen neuen Blick dafür, welche Potenziale vielleicht auch in Religionen stecken, also ein Blick, der nicht nur von Abgrenzung geprägt ist und auch nicht nur auf das Exotische guckt und da schaut, wie es die anderen irgendwo ganz, ganz weit weg mit Religionen halten, sondern eine Frage danach, was vielleicht von religiöser Kraft, von religiösen Potenzialen auch für Menschen im Westen oder für Menschen in sich entwickelnden Ländern auf der Suche nach neuen Orientierungen fruchtbar gemacht werden können. Und das finde ich ganz spannend, und da sind auch wunderschöne Filme dabei rausgekommen.
Weber: Vielen Dank, Kirsten Dietrich, für dieses Religionen-Resümee der Berlinale 2016.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.