Religion bei Geflüchteten

Warum Migration nicht automatisch frömmer macht

11:54 Minuten
Eine Frau platziert im Zentrum einer engen Wohnung einen gemusterten Gebetsteppich.
Flucht- und Migrationserfahrungen verändern das Verhältnis der Menschen zum Glauben. Viele verlegen etwa die Ausübung ihrer Religion ins Private. © picture alliance / NurPhoto / Artur Widak
Alexander-Kenneth Nagel im Gespräch mit Kirsten Dietrich |
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Religion bei Geflüchteten: Da heißt es oft, ein starker Glaube werde durch die Flucht noch intensiver. Aber das greift zu kurz, so der Religionswissenschaftler Alexander-Kenneth Nagel. Ebenso häufig sei Verlagerung ins Private oder Bedeutungsverlust.
Kirsten Dietrich: Wie beeinflusst Migration die religiösen Überzeugungen, wie leben Menschen ihre Religion unter neuen Bedingungen? Ich freue mich, dazu im Gespräch mit einem Forscher zu sein, der sich genau mit dieser Frage beschäftigt. Alexander-Kenneth Nagel lehrt Religionswissenschaft an der Universität Göttingen. Er hat geflüchtete Menschen danach befragt, wie sich ihre Religiosität am Ankunftsort, also in Deutschland, verändert hat.
Wenn man über den Zusammenhang von Religion und Migration nachdenkt, dann hat man meist eine Vorannahme, nämlich die, dass, wenn jemand eine religiöse Prägung hat, diese dann durch Flucht und Migration stärker wird. Sie sagen, so einfach ist das nicht.

Glaube reagiert auf Veränderung

Bevor wir darüber reden, wie sich der Glaube durch Migration denn verändert, würde ich gerne einen kleinen Schritt zurückgehen und eine Frage vorher stellen, nämlich ob sich Glaube durch Migration überhaupt verändern muss – oder ist es vorstellbar, dass man einen Glauben, eine religiöse Orientierung verlustfrei von Land A nach Land B umtopfen kann?
Alexander-Kenneth Nagel: In ihrem Selbstverständnis sind religiöse Traditionen ja häufig statisch, wenn nicht gar ewig, auf Dauer gedacht. Trotzdem zeigt der religionswissenschaftliche Blick, dass religiöse Traditionen eine sehr starke Kontextabhängigkeit aufweisen – und was könnte da stärker als Veränderungsimpuls wirken als der komplette Wechsel der Umgebung, wie es bei Migration eben passiert?
Da lassen sich unterschiedliche Konstellationen vorstellen. Die eine Konstellation ist, dass man aus einer vorherigen religiösen Mehrheitssituation in eine religiöse Minderheitensituation kommt. Und da muss bis dahin Unhinterfragtes plötzlich hinterfragt werden.
Der Religionswissenschaftler Alexander-Kenneth Nagel steht lächelnd vor einem Bücherregal.
Verstärkt, versteckt, vernachlässigt? Wie sich Migration auf den Umgang der Menschen mit Religion auswirkt, fällt sehr verschieden aus, sagt Alexander-Kenneth Nagel.© Daniel Teetz
Ein anderer Fall wäre, wenn ich schon vorher Mitglied einer religiösen Minderheit gewesen bin, deren Religionsausübung vielleicht im Herkunftsland unterdrückt wurde, und jetzt mich frei entfalten kann. Auch da liegt es ja nah, dass das religiöse Leben sich verändert.

Veränderung geschieht auf vielen Ebenen

Dietrich: Sie wollten genau wissen, wie sich das verändert mit der religiösen Orientierung in einer Migrationssituation und haben deswegen mit geflüchteten Menschen in einer Einrichtung der Flüchtlingshilfe lange Interviews geführt. Religiöse Orientierungen verändern sich, das ist die Ausgangshypothese gewesen, aber sie werden in einer Flucht- oder Migrationssituation nicht einfach nur intensiver Sie haben drei generelle Möglichkeiten gefunden, wie sich Religion in einer Migrationssituation verändern kann. Die würde ich gerne genauer verstehen.
Nagel: Ich würde gern eine Klärung vorwegschicken, welchen Aspekt von Religion man eigentlich meint, wenn man von der Veränderung der Religion in der Migrationssituation spricht. Da finde ich es ganz hilfreich, mit der Religionssoziologie unterschiedliche Dimensionen von Religion zu unterscheiden, zum Beispiel: die Praxisdimension Gebet und Ritual, die Gemeinschaftsdimension – also die Mitwirkung und Zugehörigkeit zu religiösen Gemeinschaften –, die Glaubensdimension – also die Stärke des Glaubens an bestimmte Inhalte der religiösen Tradition – und schließlich die Wissensdimension: das Wissen um bestimmte Inhalte der Tradition.
Das ist deswegen wichtig, weil die verschiedenen Ausprägungen des Wandels auch durchaus in einer dieser Dimensionen stattfinden können. Und die Ausprägungen, die ich unterscheiden möchte, sind: Intensivierung, Privatisierung und Relativierung.
Ich würde mit der Intensivierung einmal anfangen, das meint ganz allgemein die Zunahme von religiöser Betätigung in einer dieser unterschiedlichen Dimensionen, also Praxis, Gemeinschaft, Glaube und Wissen.

Aufleben des Glaubens in Religionsfreiheit

Dietrich: Das wird ja oft als eine Schreckensvision betrachtet, so nach dem Motto: Da radikalisieren sich jetzt alle. – Das ist es aber nicht?
Nagel: Genau, das ist auch der Startpunkt meiner Untersuchung gewesen, dass auch in der Debatte über Religion und Migration alles im Bann dieser Intensivierungsoption steht. Man geht immer davon aus, im Kontext von Migration muss das religiöse Leben intensiver werden – bis hin zu einer möglichen Radikalisierung der Migrant*innen. Und da war es mir wichtig, eben auch andere Varianten in Betracht zu ziehen.
Dietrich: Und wie äußert sich Intensivierung stattdessen? In welcher Glaubenspraxis kann sich das zum Beispiel ausdrücken?
Nagel: Intensivierung kann eben Ausdruck einer nachholenden Religionsausübung sein. Wenn man im Herkunftsland einer religiösen Minderheit angehört, die sich im Aufnahmekontext erstmals in einer Situation der formalen Religionsfreiheit wiederfindet, ist davon auszugehen, dass sich das religiöse Leben intensiviert, weil man nun endlich mal seine Religion frei leben kann. Das wäre eine nachholende Intensivierung.
Was man in der Debatte über Religion und Migration häufig findet, ist religiöse Intensivierung als eine Art Coping-Strategie: Da gibt es die Idee, dass Migrant*innen in der Migrationssituation einer starken Desorientierung ausgesetzt sind oder mit Nachteilen konfrontiert sind und sich sozusagen kompensatorisch der Religion zuwenden. Eine andere Ausprägung, die wir in unseren Daten gefunden haben, ist, dass man sich religiös intensiviert, um Aufklärungsarbeit zu leisten zum Beispiel gegen anti-muslimische Ressentiments.

Verlagerung der Religion ins Private

Dietrich: Neben der Intensivierung steht aber noch ein ganz anderer Umgang mit Religion, nämlich der, sie einfach ins Private zu verlegen, was Sie unter dem Begriff Privatisierung fassen.
Nagel: Das ist übrigens nichts, was nur für Migrant*innen gilt. Auch für etablierte religiöse Traditionen lässt sich seit mehreren Jahrzehnten eine Tendenz der Privatisierung erkennen. Gemeint ist eine Verlagerung des religiösen Lebens ins Private im Sinne einer Verlagerung in den häuslichen oder familiären Rahmen.

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Das ist insbesondere dann der Fall, wenn geeignete Gebetshäuser oder sakrale Stätten nicht zur Verfügung stehen. Man versucht, die Rituale so gut es geht eben im familiären oder häuslichen Raum durchzuführen. Ein anderer Ausdruck von Privatisierung – eher auf einer qualitativen Ebene – ist die Stärkung der persönlichen Gottesbeziehung.
Es geht dann also weniger um gemeinschaftliche religiöse Praxis oder überhaupt die religiöse Praxis, sondern um die persönliche Beziehung zu Gott oder zum Sakralen.

Relativierung religiöser Überzeugungen

Dietrich: Das ist dann aber immer noch eine religiöse Praxis, daneben steht dann als dritte Möglichkeit die Relativierung, bei der religiöses Leben ganz generell zurückgeschraubt wird beziehungsweise an Bedeutung verliert.
Nagel: Genau. In der Praxis sind Relativierung und Privatisierung teilweise gar nicht so genau voneinander abzugrenzen. Die Relativierung zeichnet sich dadurch aus, dass Religion insgesamt für die Lebensführung an Bedeutung verliert in einer oder mehrerer dieser Dimensionen: Praxis, Gemeinschaft, Glaube oder Wissen. Und da lassen sich in unserem Sample unterschiedliche Ausprägungen erkennen.
Das eine ist eine emanzipatorische Relativierung, die sich vor allem bei jungen und weiblichen Befragten zeigt, wo man Religion zurückfährt, um damit verbundene Emanzipationsgewinne von patriarchalischen Vorstellungen zu realisieren. Eine andere Ausprägung ist, was man als Kulturreligiosität bezeichnen könnte. Einige Befragte sagen: Ich bin Jesidin, ich bin Muslima, aber es ist mir egal. Hier wird durchaus noch in Anspruch genommen, einer Religionsgemeinschaft zuzugehören, die spielt aber für die alltägliche Lebenspraxis keine bedeutsame Rolle.
Und eine dritte Ausprägung der Relativierung ist das Zurückfahren eigener religiöser Prägungen aufgrund von Gefährdungsdiskursen. Das lässt sich vor allen Dingen für die Musliminnen im Sample zeigen, vor allem auch für Frauen mit Kopftuch, die im Alltagsleben sich Anfeindungen ausgesetzt sehen – die dann sagen: Dann nehme ich das Kopftuch eben ab. Es kommt also zu einer Relativierung des religiösen Lebens als Antwort auf gesellschaftliche Gefährdungsdiskurse.

Unterschiede je nach Glaubensorientierung

Dietrich: Spielt es eigentlich eine Rolle, welche Religion die geflüchteten oder die migrierten Menschen haben? Also, wandelt sich die Religion bei Musliminnen und Muslimen anders als bei Christinnen und Christen oder bei anderen?
Nagel: Erste quantitative Daten zur Religiosität von Geflüchteten, zum Beispiel aus dem sozioökonomischen Panel, deuten darauf hin, dass zum Beispiel erfahrene Minderheiten – also Gruppen, die schon im Herkunftsland einer Minderheitengruppe angehörten – ein deutlich vitaleres religiöses Leben entfalten. Es ist dann demzufolge auch erst mal weniger wahrscheinlich, dass sie ihre religiöse Prägung wechseln oder aufgeben.
Wenn man zum Beispiel Christen und Muslime miteinander vergleicht, dann ist es natürlich für christliche Migrant*innen in Deutschland erst mal leichter, ihre Religion auszuleben, weil es eine Nähe zur Dominanzreligion, wenn man es so nennen will, gibt, während Muslime zahlreichen Gefährdungsdiskursen ausgesetzt sind.
Von daher wäre zu erwarten, dass Muslim*innen vielleicht eher zur Privatisierung oder Relativierung ihrer Religion neigen – einfach, weil es für sie tendenziell schwieriger ist, ihre Religion in Deutschland auszuleben als für Christ*innen. Zugleich muss man aber auch sagen, dass die Bewirtschaftung der Identitätskategorie, ich bin Moslem in einem überwiegend christlichen Land, natürlich auch Identität stiften kann.

Der Migrationsalltag lässt wenig Zeit für Religion

Dietrich: Wie erleben denn die Menschen, mit denen Sie gesprochen haben, diese Veränderung ihrer Religion, die Veränderung von etwas, was ja eben den Anspruch erhebt, eigentlich ewig zu sein? Macht das Angst, macht das traurig oder lässt das kalt? Ist man vielleicht so mit dem Alltag beschäftigt, dass man dafür gar keine Zeit hat?
Nagel: Ich glaube, vor allem die letzte Option ist ganz wichtig. Wir haben ja Geflüchtete befragt, die noch in der unmittelbaren Aufnahmesituation sind, das heißt, die sich in verschiedenen Maßnahmen, Integrationskursen, Ausbildung, Schule, Sprachlernklasse befinden, die also unglaublich eingespannt sind. Und was da immer wieder deutlich wurde, war diese Aussage: Mir ist meine Religion im Grunde noch bedeutsam, aber zurzeit habe ich einfach anderes zu tun, und das nimmt mich völlig in Anspruch.
Ob dann nach dieser Phase des Ankommens wieder angeknüpft werden kann an das religiöse Leben, das müsste weitere Forschung erst mal zeigen.
Dietrich: Sie zitieren den Kulturwissenschaftler Robin Cohen, der die Diaspora als Stätte der Kreativität, in diesem Fall als Stätte der religiösen Kreativität bezeichnet hat. Welche Chancen stecken in dieser Kreativität? Und nehmen wir die hier in Deutschland eigentlich ausreichend wahr?
Nagel: Cohen bezieht sich in seiner Aussage ja auf die babylonische Gefangenschaft der Israeliten – und das war der Zusammenhang, in dem letztlich der babylonische Talmud, also eine bedeutende Auslegungsschrift des Judentums, entstanden ist. Daran macht er eben diese kreative, innovative Leistung fest.

Kreatives Potenzial der Diaspora

Wenn man das auf die Situation in Deutschland bezieht, dann sieht man, dass religiöse Migrant*innen jede Menge Kompromisse machen müssen, sich auf Neuerungen einlassen müssen – und dass diese Neuerungen dann auch Innovationen darstellen, die teilweise auch in die Herkunftsländer zurückgespielt werden können und so auch zur Veränderung ganzer religiöser Traditionen führen können.
Ich denke, in Deutschland nehmen wir die Chancen der Diaspora als Stätte religiöser Kreativität noch nicht genügend wahr. Wir sehen Religionsgemeinschaften tendenziell als Horte der Konservativität und übernehmen damit sozusagen das Narrativ der Religion selbst, die sich selbst immer als dauerhaft darstellen muss. Wir übersehen dabei die unglaublich vielen Anpassungsleistungen und -prozesse, die in Religionsgemeinschaften von Migrant*innen in Deutschland passieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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