Christian Spieß: "Zwischen Gewalt und Menschenrechten. Religion im Spannungsfeld der Moderne"
Verlag Ferdinand Schöningh 2016
203 Seiten, 24,90 Euro
Zwischen Wahrheitsanspruch und Religionsfreiheit
Wie säkular muss und kann ein Staat sein? Wie weit darf die Religionsfreiheit reichen? Diesen Fragen geht Christian Spieß in dem Buch "Zwischen Gewalt und Menschenrechten" nach und greift dabei aktuelle Themen wie Religionsunterricht oder Kopftuchverbot auf.
Wie passen Religion und Moderne zusammen? Konkreter: Wie lassen sich religiöser Wahrheitsanspruch auf der einen Seite, individuelle Freiheitsrechte und ein säkularer Staat auf der anderen verbinden? Das sind Fragen, die Christian Spieß mit seinem Buch "Zwischen Gewalt und Menschenrechten: Religion im Spannungsfeld der Moderne" zu beantworten sucht. Und zwar sowohl theoretisch als auch empirisch-historisch.
Für die empirische Herangehensweise beschränkt sich der Autor, Professor für Christliche Sozialwissenshaften an der Katholischen Privat-Universität Linz, auf die katholische Kirche. Hier zeigt er auf, wie der ausgeprägte Antimodernismus des katholischen Lehramts mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) verschwand und "die Kirche, ihre Verbände und Vereine, karitativen Organisationen und Hilfswerke zu einem bedeutenden Teil der Bewegung für die weltweite Ausbreitung der Menschenrechte geworden sind". Dabei ist der Autor kritisch genug, um zu betonen, dass die Modernisierung der Kirche nicht abgeschlossen ist und beispielsweise die Verweigerung der Priesterweihe für Frauen einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz darstellt.
Grundlegender Positionswandel mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil
Doch immerhin hat die katholische Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil die entscheidende Anerkennung der Trennung von Staat und Religion vollzogen und damit auf politische Gewalt verzichtet. Außerdem argumentiert sie – von nicht unbeträchtlichen Ausnahmen abgesehen – nicht länger mit einem absoluten Recht der Wahrheit, sondern erkennt das Recht der Person an (die subjektiv entscheiden darf, welche Wahrheit sie annimmt).
Für diesen grundlegenden Positionswandel nennt Spieß zwei Faktoren: Die – trotz großer Vereinheitlichungsbemühungen im 19. Jahrhundert – stets gegebene Pluralität des Katholizismus, in dem früh manche Strömungen und sogar Bischofskonferenzen mit säkularen Staaten zusammenarbeiteten. Diese Pluralität ermöglichte es auch, die neuen Positionen mit Rückgriff auf eine (eben bisher vernachlässigte) Tradition zu legitimieren. Damit ließ sich eine Kontinuität konstruieren, die – gerade für die unentschiedene Mehrheit der Konzilsväter - das "Neue" als akzeptabel, da nicht wesensfremd darstellte.
Ein zweiter Faktor, der die Versöhnung mit dem säkularen Staat und seinen Grundlagen ermöglichte, ist für Spieß die positive Erfahrung, die gerade Katholiken in den USA mit der ihnen vom Staat gewährten Religionsfreiheit gemacht hatten. So war es besonders der US-amerikanische Theologe John C. Murray, der das grundlegende Konzilsdokument Dignitatis humanae entscheidend mitbestimmte.
Positive versus negative Religionsfreiheit
Aus dieser historischen Erfahrung nun zieht Spieß – auch in Auseinandersetzung mit philosophischen Ansätzen zum Verhältnis von Staat und Religion bei John Locke, G.W.F. Hegel, Mark Lilla und Martha Nussbaum – Schlussfolgerungen für die Erfordernisse einer modernen Religionspolitik. Denn die Religionsgemeinschaften müssen einerseits die Unabhängigkeit des Staates anerkennen. Der Staat hat aber andererseits die Aufgabe, den Religionsgemeinschaften und besonders den religiösen Individuen die Ausübung ihrer Religionsfreiheit zu ermöglichen. So steht beispielsweise neben der negativen Religionsfreiheit im Recht von SchülerInnen, nicht mit den religiösen Überzeugungen ihrer LehrerInnen konfrontiert zu werden, die positive Religionsfreiheit einer muslimischen Lehrerin, die es für eine grundlegende religiöse Pflicht hält, in der Öffentlichkeit mit Kopftuch aufzutreten. Nicht nur in verschiedenen Ländern wird sehr unterschiedlich mit der Frage des Kopftuchs umgegangen, selbst unterschiedliche Gerichte in Deutschland haben hier völlig entgegengesetzt entschieden.
Ein Grund für Spieß, eine explizite Religionspolitik einzufordern, die solche wichtigen Entscheidungen nicht auf Gerichte abschiebt, sondern klare Regelungen für das Miteinander von Staat und Religionsgemeinschaften, religiösen und nichtreligiösen Individuen findet. Für den Autor muss es dabei um die Schaffung von Anerkennungsräumen gehen, die möglicherweise auch eine Ungleichbehandlung von Ungleichem umfassen – also beispielsweise die Erlaubnis des Schächtens als religiöser Schlachtart trotz bestehenden Verbots der Tötung eines Tieres ohne Betäubung. Unbegrenzt und beliebig darf diese Toleranz jedoch nicht sein, außerdem muss Angehörigen einer Religionsgemeinschaft der Ausstieg offen stehen, um religiösen Zwang zu vermeiden.
Der säkulare Staat als "Schule der Freiheit"?
Spieß hat Recht, dass es nicht darum gehen kann, eine angeblich gute, mit dem Wesen der Moderne vereinbare Religion (das Christentum) gegen eine vermeintlich schlechte, nicht modernekompatible Religion (den Islam) auszuspielen. Hier zeigt das Beispiel des Katholizismus, dass die Rede von einem (anti-)modernen Wesenskern durch die Geschichte schnell überholt werden kann. Gerade die noch viel größere Pluralität des Islam könnte eine Akzeptanz des säkularen Staats ermöglichen. Allerdings dürfte eine schnelle Umsetzung, für die im Katholizismus die straffe Organisation, die Instanz des Konzils und die Verbindlichkeit seiner Dokumente gesorgt haben, hier kaum möglich sein. Geduld ist also angesagt. Auch unter Muslimen wird das von Spieß vorgebrachte Argument diskutiert, der säkulare Staat könne eine "Schule der Freiheit" für die Religionsgemeinschaften sein – ein Blick auf diese Debatten hätte das Buch sicherlich bereichert. Bedenkenswerte Argumente in der oft allzu pauschalen Diskussion um die Vereinbarkeit von Religion und Moderne liefert es aber allemal