"Religion ist immer nur ein Teil der Kultur"
In den islamischen Ländern habe es "die 68er-Revolte" nicht gegeben, sagt der Professor für Arabistik Thomas Bauer. Um den Kulturkreis der Muslime verstehen zu können, genüge es aber nicht, sich nur die normativen religiösen Texte anzuschauen, so Bauer
Deutschlandradio Kultur: Mein Gesprächspartner heute ist Thomas Bauer. Er ist Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Guten Tag, Herr Prof. Bauer.
Thomas Bauer: Guten Tag, Herr Garber.
Deutschlandradio Kultur: Herr Bauer, vor 23 Jahren haben Sie über altarabische Poesie promoviert. Damals galten Arabistik und Islamwissenschaft eher als Orchideenfächer für Kenner und Liebhaber. Hätten Sie sich damals träumen lassen, dass Sie einmal zum gefragten Interviewpartner für aktuelle Entwicklungen im Nahen Osten werden würden?
Thomas Bauer: Das hätte ich mir damals in der Tat nicht träumen lassen. Mein Thema ist ja noch dazu eins, das wirklich stark für Spezialisten gedacht ist. Das ist eine Literatur, die für die Araber, die heute leben, sehr wichtig ist. Denn die lernen diese Gedichte auch in der Schule. Aber im deutschen Wissenschaftsbetrieb war das schon ein sehr, sehr marginales Thema.
Deutschlandradio Kultur: Mitte März wird Ihnen in Berlin der Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft verliehen. Der gilt als wichtigste Auszeichnung zur Forschungsförderung hierzulande, ist auch entsprechend hoch dotiert. Dabei nähern Sie sich dem Islam ja nicht so sehr über den Koran oder über theologische Schriften, sondern über die arabische Literatur, über Liebesgedichte zum Beispiel. Können Sie mir diesen Ansatz erklären?
Thomas Bauer: Dass die Menschen in islamischen Gesellschaften viel stärker von Religion geprägt sind und immer geprägt waren als anderswo auf der Welt, ist ein Vorurteil, gegen das ich beharrlich ankämpfe. Natürlich ist Religion wichtig, aber Religion ist immer nur ein Teil der Kultur. Und gerade in islamischen Kulturen spielt Dichtung eine unheimlich bedeutende Rolle. Und ein Großteil dieser Dichtung ist völlig areligiös, ist rein säkular. Was hat man gemacht? Um mystische Erlebnisse auszudrücken, hat man sich der Liebesdichtung, ja sogar der Weindichtung bedient und diese Motive religiös umgedeutet. Also, es ist auch in islamischen Kulturen die Religion nicht immer das Primäre.
Und um die Kulturen verstehen zu können, genügt es eben nicht, sich nur die normativen religiösen Texte anzuschauen. Also, die islamische Welt ist im Guten wie im Schlechten nicht deshalb so, weil das und das im Koran steht, sondern weil es ganz viele verschiedene kulturelle Faktoren gibt, die auf eine komplizierte Weise zusammenwirken.
Deutschlandradio Kultur: Also Religion als Teil der Kultur, damit auch der Kulturgeschichte. Und in der Kulturgeschichte haben Sie einen hohen Grad an Toleranz entdeckt. Sie sprechen von Ambiguitäts-Toleranz im Islam. Worum geht es dabei?
Thomas Bauer: Ambiguitäts-Toleranz ist ein Begriff aus der Psychologie, der bedeutet, dass Menschen Phänomenen der Mehrdeutigkeit, Unentschiedenheit, Widersprüchlichkeit unterschiedlich gegenüberstehen. Manche können gut damit leben, ja finden das sogar erstrebenswert und produzieren zum Beispiel Texte voller Widersprüche und voller Mehrdeutigkeiten. Andere dagegen hätten die Welt um sich herum gerne eindeutig und leicht erklärbar. Und das, was für den Einzelnen gilt, lässt sich nach Methoden der historischen Anthropologie auch auf ganze Gesellschaften übertragen.
Das heißt, es gibt meines Erachtens Gesellschaften, die einen relativ hohen Grad an Ambiguitäts-Toleranz haben. Das gilt meines Erachtens für die islamische Kultur der späteren Jahrhunderte. Und es gibt andere Kulturen, die das nicht haben.
Deutschlandradio Kultur: Das ist aber ein bisschen erstaunlich, dass Sie – zumindest in der Vergangenheit – in der islamischen Kultur so viel Toleranz entdeckt haben. Denn an Toleranz und Offenheit denken beim Stichwort Islam nur mal gerade sieben Prozent der Deutschen, 70 Prozent verbinden mit dieser Religion eher Fanatismus und Radikalität. Das hat zumindest das Meinungsforschungsinstitut Allensbach ermittelt. Da haben wir also mehrheitlich ein völlig falsches Bild vom Islam?
Thomas Bauer: Das ist zweifellos richtig. Das Islambild hat sich in Deutschland, überhaupt in Europa, aber in Deutschland sogar noch radikaler als anderswo, absolut verändert. Als ich anfing zu studieren, und Sie haben ja diese Zeit angesprochen, da hatte man Islam verbunden mit Karl May. Die Gebildeten kannten Goethes West-östlichen Divan und vielleicht die Gedichte von Friedrich Rückert. Und dann gab es noch die Ölscheichs. Aber ein irgendwie negatives Islambild gab es damals nicht.
Der Islam kam negativ zum ersten Mal in die Schlagzeilen als politischer Islam anlässlich der iranischen Revolution, dann aber immer stärker. Als der Ostblock schwächer wurde, wurde der Islam – ich glaube – ziemlich systematisch als Ersatzfeind aufgebaut.
Deutschlandradio Kultur: Aber hat das nicht auch damit was zu tun, dass wir halt in den Nachrichten fast täglich leider damit zu tun haben, dass es extreme Spielarten des Islam gibt, einen Islam, für den Menschen glauben sterben und töten zu müssen? Oder sind das nur radikale Minderheiten, die eine an sich menschenfreundliche Religion missbrauchen?
Thomas Bauer: Es handelt sich natürlich um radikale Minderheiten. Man muss ja zwei Sachen sagen. Einmal: Islamische Länder sind permanent eigentlich Ziel westlicher Aggression gewesen. Denken Sie an die Invasion in Afghanistan. Denken Sie an die völkerrechtswidrige Invasion in den Irak. Das ist das eine. Und das andere ist, dass in der Öffentlichkeit Dinge, die nicht zusammengehören, über einen Leisten geschert werden.
Vor ganz wenigen Tagen war in einer guten deutschen Tageszeitung auf einer Seite ein Bericht über die Islamisten in Mali, also diese radikalen gewalttätigen Banden, die gerade das islamische Erbe zerstören, die islamische Heiligtümer zerstören und islamische Manuskripte verbrennen, und da drunter ein Bericht über den Islamisten Mursi. Der Mursi und die malischen Terrorgruppen wurden hier unter derselben Überschrift "Islamist" geführt. Das ist ungefähr so absurd, als würde man Peer Steinbrück und Kim Jong Un, den koreanischen Staatschef unter derselben Überschrift führen, weil doch beide sich irgendwie auf den Sozialismus berufen. Und natürlich haben beide nix miteinander zu tun.
Das Gleiche gilt für die gewalttätigen Banden in Mali einerseits und für politische Strömungen, die sich auf den Islam berufen. Und selbst diese Strömungen sind ja, was den weltweiten Islam betrifft, ja auch nicht unbedingt in der Mehrheit. Also, hier sind tatsächlich die Medien gefragt, die sich überlegen müssen, warum und ob es gerechtfertigt ist, alles durcheinanderzubringen, was eigentlich getrennt werden müsste.
Deutschlandradio Kultur: Das versuchen wir unter anderem in dieser Sendung. Aber es zeigt sich ja doch, wenn Sie den weltweiten Islam ansprechen, dass ja auch in bisher liberalen islamischen Ländern, wie Indonesien, teilweise die Zügel etwas straffer angezogen werden, die Gebote etwas rigoroser ausgelegt werden. Ich habe gerade gelesen, dass in der indonesischen Provinz Aceh die Behörden Frauen kürzlich sogar das Moped-Fahren verboten haben – das sei unislamisch. Wie erklären Sie sich diesen Trend zum Rigorosen, selbst an den Rändern der islamischen Welt, wo man es bisher doch teilweise etwas liberaler gehandhabt hat?
Thomas Bauer: Ja, Aceh ist natürlich auch innerhalb Indonesiens ein Sonderfall. Wir sollten nicht immer von Sonderfällen generalisieren. Es wird ja sehr oft gerade von Saudi-Arabien als sozusagen Musterfall eines islamischen Landes gesprochen und nicht dazu gesagt, dass in Saudi-Arabien eine Spielart des Islams, nämlich der Wahabismus, eine Staatsreligion ist, die nach Meinung sehr, sehr vieler Muslime gar nicht mehr auf dem Boden des Islams steht. Wir haben also hier mit einer extremen Sekte zu tun.
Und wenn wir uns die paar Regionen anschauen, in denen es zu solchen Radikalisierungen kommt, dann werden Sie auch feststellen, dass es immer zunächst einen politischen Hintergrund gibt, eine politische Motivation, die sich dann der Religion bedient. Also, zuerst kommt immer die Politik und dann die Religion.
Wenn wir nun in den letzten Jahrzehnten tatsächlich vereinzelt eine Radikalisierung oder eine Tendenz zu einer moralischen Aufrüstung im Islam begegnen, dann sollten wir auch zuerst auf die Politik gucken und vor allem auch zuerst auf die Wirtschaft. Gerade jetzt auch in Ägypten sieht man das ja sehr deutlich. Es ist die sich verschärfende wirtschaftliche Situation, die tatsächlich auch zu einer geringeren Ambiguitäts-Toleranz führt. Das heißt, die Leute fühlen sich unwohl, sind arm, kommen mit sich selber nicht klar, sehen ihre Chancen in der Welt beengt und hätten deshalb gerne eine möglichst klare, eindeutige Welt um sich herum. Ich glaube, das ist ein Mechanismus, den wir hier tatsächlich beobachten können.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, die Menschen kommen nicht mit sich klar. Der pakistanische Nuklearphysiker Pervez Hoodbhoy, selbst ein Muslim, hat es noch etwas schärfer formuliert. Der hat gesagt: "Die muslimischen Gesellschaften seien kollektiv gescheitert." In einem Spiegel-Gespräch hat er gesagt, Muslime hätten in den letzten tausend Jahren keine bedeutenden Erfindungen mehr gemacht. Alles, was sie wirklich gut könnten, sei Fasten und Beten. – Das ist vielleicht ein bisschen zugespitzt formuliert, aber ist es so völlig abwegig?
Thomas Bauer: Also, wenn er hier von tausend Jahren spricht, ist es tatsächlich völlig abwegig. Nur weil jemand Muslim ist, muss er noch nicht sehr viel vom Islam verstehen. Und hier von tausend Jahren zu reden, ist völliger Unsinn. In der Zeit, von der er spricht, haben islamische Geographen die besten Landkarten, die es jemals gab von der Welt, gezeichnet, ohne die Kolumbus Amerika nicht entdeckt hätte, haben Astronomen den Himmel beobachtet, Sternkarten gemacht, astronomische Apparate konstruiert, Philosophen gedacht, Mystiker Weltmodelle entworfen, Sprachwissenschaftler die wahrscheinlich beste sprachwissenschaftliche Theorie, die es vor dem 20. Jahrhundert überhaupt gab, entwickelt. Also, die Leistungen, die Muslime – nicht unbedingt als Muslime, aber überhaupt – gemacht haben in den Gebieten der Wissenschaften und der Kultur, ist immens gewesen.
Inzwischen gibt es auch Globalhistoriker, die sagen, dass diese alten Modelle zu einem sehr frühen Niedergang der islamischen Welt falsch sind. Der Niedergang setzte ein, als das große Kraftwerk des Indienhandels, des Handels auf dem Indischen Ozean durch das große Kraftwerk des Handels auf dem Atlantischen Ozean ersetzt wurde. Wir haben dann den Aufstieg europäischer Länder, die bislang völlig am toten Ende Eurasiens lagen, nacheinander – Portugal, Spanien, Frankreich, die Niederlande und schließlich England -, die auf einmal immer reicher und immer mächtiger wurden durch diesen Transatlantikhandel. Und dadurch geriet die islamische Welt in den Windschatten der Geschichte.
Es ist wieder die Wirtschaft, die das Entscheidende war. Also, der wirtschaftliche Niedergang, drastisch fühlbar wohl ab dem 18. Jahrhundert, führte natürlich auch nach und nach zu einem Versiegen intellektueller Kräfte. Und dann kam die große Konfrontation mit dem Westen, die auch eine militärische Konfrontation war und im Kolonialismus endete, auf die dann die Zeit der Militärdiktaturen, der auch westlich unterstützten Militärdiktaturen folgte. Das war eigentlich die große Zeit, die bleierne Zeit, in der tatsächlich die Zustände immer schlechter wurden – in jeder Hinsicht.
Deutschlandradio Kultur: Herr Prof. Bauer, nach der "bleiernen Zeit", wie Sie sie gerade eben genannt haben, gab es ja den Arabischen Frühling kürzlich. Manche Beobachter sagen allerdings, der hätte sich inzwischen zum arabischen Winter entwickelt oder sei zumindest auf dem Wege dorthin. Sehen Sie das auch so pessimistisch?
Thomas Bauer: Ich sehe es nicht ganz so pessimistisch. Was man natürlich sagen muss, ist, dass solche Umstürze eine wahnsinnig große Hoffnung auslösen – jetzt wird alles besser. Das ist natürlich nicht geschehen. Das konnte man auch leicht vorhersehen, dass es nicht geschieht, und zwar – und jetzt muss ich zum dritten Mal sagen – weil die wirtschaftlichen Verhältnisse sich nicht gebessert haben. Ganz im Gegenteil, in Ägypten bleiben Touristen weg, was auch nicht unbedingt zu rechtfertigen ist. Es ist nach wie vor ein sicheres Land.
Und dann ist es so, dass einzelne Kräfte sich Ägypten anders vorgestellt haben. Das sind vor allem säkulare, stark an westlichen Utopien orientierte Kräfte, die meinten, es wird dann so wie im Westen, was es natürlich erstens aus wirtschaftlichen Gründen schon nicht werden kann und zweitens deshalb nicht werden kann, weil die Mehrzahl der Bevölkerung das so eigentlich gar nicht will.
Jetzt kommt ein Problem zum Tragen, das eigentlich diese Länder seit dem 19. Jahrhundert haben. Als im 19. Jahrhundert diese Konfrontation mit dem Westen erstmals ganz heftig und stark wurde, waren es gar nicht mal so sehr die Kolonialherren selbst, die versuchten, westliche Werte in den islamischen Ländern einzupflanzen, sondern es waren eigene Eliten, die sich ganz massiv am Westen orientierten und zum Beispiel dafür verantwortlich waren, dass alte Muster, zum Beispiel mit Sex umzugehen – also, es war tatsächlich so, dass in Sachen Sex relativ lockere Moralvorstellungen herrschten, also nicht diese ganzen Schuldgefühle, auch kein großes Problem mit homoerotischen Gedichten etc.. Und das waren dann die einheimischen Eliten, die sich an westlichen Vorbildern, damals natürlich der viktorianischen Moral, orientierten und das versuchten, ihrer Bevölkerung aufzudrücken.
Diese westlichen Eliten gibt es immer noch. Die stehen hinter einigen dieser säkularen Kräfte, die jetzt sich weigern, eigentlich mitzumachen, die sich weigerten, in der Verfassungsgebenden Versammlung mitzumachen, die mit Wahlboykott drohen, die sich weigern, mit Mursi zu reden. Da sehen Sie immer noch eigentlich die Verachtung gewisser Eliten dem eigenen Volk gegenüber. Das scheint mir jetzt schon eine gewisse Gefahr für die ägyptische Demokratie zu sein. Denn wenn ein wichtiger Teil der Elite, nämlich die westlich orientierten, westlich gebildeten Teile der Elite, ihr eigenes Volk verachten, ist das eigentlich eine schlechte Voraussetzung für Demokratie. Während die Muslimbrüder ja ihrerseits in der Verfassung, die dann ja zustande gekommen ist und die eine durch und durch demokratische Verfassung ist, eigentlich gezeigt haben, dass sie eher damit umgehen können.
Deutschlandradio Kultur: Also, Sie sehen das Problem nicht so sehr bei den Muslimbrüdern, sondern mehr bei den säkularen Kräften? Die säkularen Kräfte befürchten ja, dass Mursi und die Muslimbrüder eine theokratische Diktatur errichten wollen. Die Gefahr sehen Sie nicht?
Thomas Bauer: Nein, die Gefahr sehe ich nicht, weil man sich nur die Verfassung anschauen muss. Nachdem die säkularen Kräfte sich ja zurückgezogen haben aus der Verfassungsgebenden Versammlung, waren eigentlich ja nur noch zwei übrig, nämlich die Muslimbrüder und die Salafisten.
Nun hat sich in der Verfassungsgebenden Versammlung eindeutig die Richtung der Muslimbrüder durchgesetzt, die eine immerhin relativ liberale Ausrichtung des Islams da vertreten. Und die Zumutungen der Salafisten, zum Beispiel wollten die ja, dass nicht die Prinzipien der Scharia wie seit Sadat in der ägyptischen Verfassung stehen, sondern die einzelnen Bestimmungen der Scharia, so wie die Salafisten sie halt selber auslegen, in die Verfassung geschrieben werden. Das ist alles nicht passiert.
Was passiert ist, ist aber: Die Macht des Präsidenten ist begrenzt worden. Er darf nur zweimal kandidieren. Er darf das Parlament nicht auflösen ohne Volksabstimmung. Der Ministerpräsident ist dem Parlament verantwortlich etc. Das heißt also, all das, was eine Demokratie ausmacht, Gewaltenteilung, freie Wahlen, Machtbegrenzung, all das steht ja in der Verfassung. Also, wenn man eine Diktatur errichten wollte, hätte man etwas anderes machen müssen. Das ist davon zu trennen, was die ja nun mal gewählten Vertreter der Muslimbrüder an konkreter Politik machen, das kann man durchaus ablehnen. Da ist auch sicher einiges, was einem auf die Nerven geht oder wo man sagt, das riecht nach zunehmender Islamisierung. Aber solange die demokratischen Institutionen als demokratische Institutionen umgesetzt werden, besteht ja auch immer die Möglichkeit, dass das alles wieder rückgängig gemacht wird. Also, von der Verfassung her spricht zunächst mal überhaupt gar nichts in Richtung einer islamistischen Diktatur.
Deutschlandradio Kultur: Wir sehen in den letzten Tagen ja auch in Tunesien – in Tunesien hat man immer gedacht, das läuft einigermaßen, die dort regierenden Islamisten sind einigermaßen gemäßigt – jetzt ist ein Oppositionspolitiker ermordet worden und es gibt Auseinandersetzungen, es gibt Proteste auf den Straßen. Wiederholt sich jetzt in Tunesien, was wir ja schon für Ägypten besprochen haben, also, so eine Konfrontation zwischen der säkular westlich orientierten Opposition und den mehr auf den Islam orientierten Regierungskräften?
Thomas Bauer: Es sind ganz klar hier Konflikte, die einfach ausgetragen werden müssen. Das sind Konflikte, die seit dem 19. Jahrhundert da sind und schwelen, ohne dass man jemals die Möglichkeit gehabt hat, das auszudiskutieren. Also, es fehlt in all diesen Ländern ja eine politische Diskussionskultur. Deshalb habe ich auch immer gesagt, ich glaube, das ist von allen Sätzen, die ich je sagte, der, der am meisten Aufregung hervorgerufen hat: Den islamischen Ländern fehlt nicht so sehr die Aufklärung, sondern die 68er-Revolte.
Damit wollte ich aber sagen, es fehlt diese Infragestellung von Autorität. Bislang konnte man nicht anders als einfach entweder den staatlichen Autoritäten zu folgen oder einer Gegenautorität, und diese Gegenautorität waren immer islamische Kräfte. Etwas anderes gab es ja nicht. Und eine Diskussion, eine Auseinandersetzung zwischen beiden Richtungen gab es auch nicht. Natürlich gibt es politische Richtungen, die dazwischen stehen. Gerade die haben sich bei den Wahlen nicht besonders durchsetzen können. So ist das Problem, dass doch eine große Spaltung in der Gesellschaft ist, an der aber – das muss man aber nachdrücklich sagen – wirklich beide Lager ihre Schuld haben.
Wir im Westen sagen immer, die Prowestlichen sind die, mit denen wir Sympathie haben. Mit denen haben wir auch Sympathie, die verstehen wir aber natürlich auch besser als die anderen. Aber deshalb sind die oft genauso Schuld an der Sache.
Das ist auch wieder ein Problem der Medien. Mit wem sprechen sie denn? Mit wem spreche ich denn, wenn ich nach Ägypten gehe? Mal von Taxifahrern abgesehen, spreche ich auch mit Leuten, von denen fast alle Hochschulabschluss haben. Aber wer spricht mit dem Metzger in Damanhur? Wer spricht mit dem Arbeitslosen in Tanta? Und dann wundert man sich, dass die Wahlen ganz anders ausgehen als wir das wollen, weil die Universitätsprofessoren, die Journalisten etc., mit denen wir reden in Ägypten, natürlich nicht die Muslimbrüder wählen. Da geschieht durch die Medien auch eine gewisse Verzerrung.
Deutschlandradio Kultur: Durch die Medien ist das dann ja auch rübergeschwappt in die innenpolitische Diskussion – Stichwort Islamkritik. Die ist ziemlich verbreitet, gesellschaftlich zumindest nicht verpönt, denn man kritisiert ja nicht Menschen wegen ihrer Rasse oder Herkunft, sondern bloß eine Religion. Oder ist diese Islamkritik, wie sie manchmal in unserer Öffentlichkeit zu hören ist, doch eine verkappte Form von Fremdenfeindlichkeit? Was meinen Sie?
Thomas Bauer: Ich glaube, dass es keine verkappte Form von Fremdenfeindlichkeit ist. Denn wenn man sich manche Islamhasser-Blogs anschaut, ich bin auch mal Opfer eines solchen Blogs geworden, und das ist dann nicht schön, wenn man so einen – wie man heute modisch sagt – Shitstorm über sich ergehen lassen muss. Da ist keine verkappte Fremdenfeindlichkeit. Wir haben es hier wirklich mit einer fremdenfeindlichen Gruppierung zu tun, die teilweise offen rassistisch ist, die leider in der Öffentlichkeit gehört wird, mehr gehört wird, als es ihr zukommt.
Das heißt aber natürlich nicht, dass an Muslimen nicht Kritik geübt werden kann. Also, ich habe immer ein bisschen ein Problem mit der Kritik am Islam. Ja, was kritisiert man denn da? Irgendwelche normativen Texte, die man so oder so auslegen kann, oder irgendwelche islamischen Strömungen? Islamische Strömungen kann man natürlich kritisieren, muss man sogar kritisieren. Ich trete immer dafür ein, dass man den Wahabismus, also diese Staatssekte Saudi-Arabiens, viel stärker kritisiert als man das tut. Das wird bei uns ganz stark vernachlässigt, weil wir die politischen Beziehungen zu Saudi-Arabien haben, weil wir diesem Land Panzer liefern und in allerbesten Beziehungen ausgerechnet mit diesem Land stehen, das die radikalsten islamischen Strömungen in der ganzen Welt mit Millionen und Abermillionen Petrodollars unterstützt. – Da muss man ganz stark kritisieren. Natürlich, einzelne Muslime muss man kritisieren.
Aber was kritisiert man denn, wenn man den Islam kritisiert? Das ist ja ein vielfältiges, nicht fassbares Phänomen, dass das – finde ich – nicht die richtige Ebene ist, wo Kritik ansetzen kann.
Deutschlandradio Kultur: Es fällt ja auf, dass bei der ganzen Integrationsdebatte hier in Deutschland häufig muslimische Migranten als besonders schwierig gelten. 20 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime will sich gar nicht integrieren. Das sagt zumindest eine Studie des Bundesinnenministeriums. Was sagen Sie dazu? Gibt es eine Verbindung zwischen Religionszugehörigkeit und der Schwierigkeit, in dieser Gesellschaft sich zu akklimatisieren oder eben auch angenommen zu werden von der Gesellschaft?
Thomas Bauer: Man muss aufpassen, dass man mit dieser so genannten Integrationsdebatte nicht ein Ablenkungsmanöver hat, das eine Sozialdebatte verhindert.
Das Problem ist, und das zeigen – glaube ich – so ziemlich alle Studien, dass wir ein Unterschichtsproblem haben, dass unser Schulsystem weniger durchlässig ist als früher, weniger durchlässig ist als das anderer Staaten, wie Schweden, alles Staaten, die haben ja alle genau die gleiche Migrationsgeschichte oder sehr ähnliche Migrationsgeschichte wie Deutschland.
Diese Dinge sind in allererster Linie nicht religiös bedingt, sondern sozial. Das heißt, wir brauchen eine Debatte über Sozialstrukturen. Wir brauchen eine Debatte über Ganztagsschulen und ähnliche Dinge. Das wäre viel wichtiger als eine Debatte über Integration zu machen, die Probleme anspricht, die eigentlich nur in Großstädten, in bestimmten Stadtteilen von Großstädten überhaupt relevant sind. Und auch dort stellt man fest, dass – wenn Sie sich die Aufsteigerzahlen anschauen – Kinder, die in der zweiten, dritten Generation von Migranten abstammen, auch Muslime, gerade Muslime, enorme Bildungsaufsteiger sind. Es gab natürlich enorm viel aufzuholen, das sehen Sie, wenn Sie vergleichen. Das ist ja ganz einfach, bei Kindern mit türkischem Hintergrund ist das in der Regel weniger der Fall als bei Kindern mit iranischem Hintergrund. Iranische Kinder haben als Vater einen Zahnarzt oder einen Kinderarzt und türkische Kinder einen Hilfsarbeiter. Also, es geht hier um sozialen Aufstieg. Und bisher hat niemand nachweisen können, dass Religion hier wirklich ein entscheidender Faktor ist.
Deutschlandradio Kultur: Herr Prof. Bauer, es gibt Leute, die sagen, der Koran lasse sich gar nicht adäquat in andere Sprachen übersetzen. Darum Frage an Sie als Arabisten, das ist ja Ihr anderes Fach: Kann ich den Koran in deutscher Übersetzung eigentlich begreifen oder soll ich dazu erstmal Arabisch lernen?
Thomas Bauer: Da fragen Sie jetzt fast schon den letzten Arabisten, der noch keine eigene Koranübersetzung verfasst hat. Koranübersetzungen boomen ja. Es kommt ja jetzt eine nach der anderen auf den Markt. Die meisten davon sind sogar ziemlich gut.
Das Problem liegt anderswo. Man kann jedes Buch erstmal übersetzen. Aber jede Übersetzung ersetzt nicht das Original. Beim Koran ist das in zweifacher Hinsicht der Fall. Zum einen ist der Koran – nicht überall, aber in doch weiten Strecken – ein in höchstem Maße ästhetischer Text. Das heißt, der Koran wird ja heute immer so auf irgendwelche rechtliche Vorschriften reduziert, aber diese rechtlichen Vorschriften machen den allerkleinsten Teil aus, das andere sind Texte, die man eigentlich als rein literarische Texte betrachten muss, also Texte, die auf Schönheit aus sind und die überwältigend sind.
Und es gibt ein Zweites, dass der Koran zu rituellen Zwecken und vor allem eben auch als juristische Quelle, als Text für Rechtsauslegungen immer im Original konsultiert werden muss. Das liegt darin, dass ja jede Übersetzung eindeutiger ist als das Original. Wenn im Original ein Satz auf vier, fünf verschiedene Bedeutungen aufgefasst werden könnte, muss sich der Übersetzer ja zwangsläufig für eine entscheiden. Deshalb hat man gesagt: Wenn wir den Koran auslegen und es irgendwelche praktischen Konsequenzen hat aus dieser Auslegung, dann müssen wir einfach zum Originaltext zurück – das Umgekehrte als das, was gerne behauptet wird.
Es geht gerade darum, die Vieldeutigkeit des Korans, auf die islamische Gelehrte immer großen Wert legen, zu erhalten. Das kann die Übersetzung nicht. Deshalb ist das Original wichtig. Aber man kann den Leuten getrost empfehlen, den Koran auch in einer guten Übersetzung zu lesen. Dann bekommt man schon auch einen Eindruck.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Thomas Bauer: Guten Tag, Herr Garber.
Deutschlandradio Kultur: Herr Bauer, vor 23 Jahren haben Sie über altarabische Poesie promoviert. Damals galten Arabistik und Islamwissenschaft eher als Orchideenfächer für Kenner und Liebhaber. Hätten Sie sich damals träumen lassen, dass Sie einmal zum gefragten Interviewpartner für aktuelle Entwicklungen im Nahen Osten werden würden?
Thomas Bauer: Das hätte ich mir damals in der Tat nicht träumen lassen. Mein Thema ist ja noch dazu eins, das wirklich stark für Spezialisten gedacht ist. Das ist eine Literatur, die für die Araber, die heute leben, sehr wichtig ist. Denn die lernen diese Gedichte auch in der Schule. Aber im deutschen Wissenschaftsbetrieb war das schon ein sehr, sehr marginales Thema.
Deutschlandradio Kultur: Mitte März wird Ihnen in Berlin der Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft verliehen. Der gilt als wichtigste Auszeichnung zur Forschungsförderung hierzulande, ist auch entsprechend hoch dotiert. Dabei nähern Sie sich dem Islam ja nicht so sehr über den Koran oder über theologische Schriften, sondern über die arabische Literatur, über Liebesgedichte zum Beispiel. Können Sie mir diesen Ansatz erklären?
Thomas Bauer: Dass die Menschen in islamischen Gesellschaften viel stärker von Religion geprägt sind und immer geprägt waren als anderswo auf der Welt, ist ein Vorurteil, gegen das ich beharrlich ankämpfe. Natürlich ist Religion wichtig, aber Religion ist immer nur ein Teil der Kultur. Und gerade in islamischen Kulturen spielt Dichtung eine unheimlich bedeutende Rolle. Und ein Großteil dieser Dichtung ist völlig areligiös, ist rein säkular. Was hat man gemacht? Um mystische Erlebnisse auszudrücken, hat man sich der Liebesdichtung, ja sogar der Weindichtung bedient und diese Motive religiös umgedeutet. Also, es ist auch in islamischen Kulturen die Religion nicht immer das Primäre.
Und um die Kulturen verstehen zu können, genügt es eben nicht, sich nur die normativen religiösen Texte anzuschauen. Also, die islamische Welt ist im Guten wie im Schlechten nicht deshalb so, weil das und das im Koran steht, sondern weil es ganz viele verschiedene kulturelle Faktoren gibt, die auf eine komplizierte Weise zusammenwirken.
Deutschlandradio Kultur: Also Religion als Teil der Kultur, damit auch der Kulturgeschichte. Und in der Kulturgeschichte haben Sie einen hohen Grad an Toleranz entdeckt. Sie sprechen von Ambiguitäts-Toleranz im Islam. Worum geht es dabei?
Thomas Bauer: Ambiguitäts-Toleranz ist ein Begriff aus der Psychologie, der bedeutet, dass Menschen Phänomenen der Mehrdeutigkeit, Unentschiedenheit, Widersprüchlichkeit unterschiedlich gegenüberstehen. Manche können gut damit leben, ja finden das sogar erstrebenswert und produzieren zum Beispiel Texte voller Widersprüche und voller Mehrdeutigkeiten. Andere dagegen hätten die Welt um sich herum gerne eindeutig und leicht erklärbar. Und das, was für den Einzelnen gilt, lässt sich nach Methoden der historischen Anthropologie auch auf ganze Gesellschaften übertragen.
Das heißt, es gibt meines Erachtens Gesellschaften, die einen relativ hohen Grad an Ambiguitäts-Toleranz haben. Das gilt meines Erachtens für die islamische Kultur der späteren Jahrhunderte. Und es gibt andere Kulturen, die das nicht haben.
Deutschlandradio Kultur: Das ist aber ein bisschen erstaunlich, dass Sie – zumindest in der Vergangenheit – in der islamischen Kultur so viel Toleranz entdeckt haben. Denn an Toleranz und Offenheit denken beim Stichwort Islam nur mal gerade sieben Prozent der Deutschen, 70 Prozent verbinden mit dieser Religion eher Fanatismus und Radikalität. Das hat zumindest das Meinungsforschungsinstitut Allensbach ermittelt. Da haben wir also mehrheitlich ein völlig falsches Bild vom Islam?
Thomas Bauer: Das ist zweifellos richtig. Das Islambild hat sich in Deutschland, überhaupt in Europa, aber in Deutschland sogar noch radikaler als anderswo, absolut verändert. Als ich anfing zu studieren, und Sie haben ja diese Zeit angesprochen, da hatte man Islam verbunden mit Karl May. Die Gebildeten kannten Goethes West-östlichen Divan und vielleicht die Gedichte von Friedrich Rückert. Und dann gab es noch die Ölscheichs. Aber ein irgendwie negatives Islambild gab es damals nicht.
Der Islam kam negativ zum ersten Mal in die Schlagzeilen als politischer Islam anlässlich der iranischen Revolution, dann aber immer stärker. Als der Ostblock schwächer wurde, wurde der Islam – ich glaube – ziemlich systematisch als Ersatzfeind aufgebaut.
Deutschlandradio Kultur: Aber hat das nicht auch damit was zu tun, dass wir halt in den Nachrichten fast täglich leider damit zu tun haben, dass es extreme Spielarten des Islam gibt, einen Islam, für den Menschen glauben sterben und töten zu müssen? Oder sind das nur radikale Minderheiten, die eine an sich menschenfreundliche Religion missbrauchen?
Thomas Bauer: Es handelt sich natürlich um radikale Minderheiten. Man muss ja zwei Sachen sagen. Einmal: Islamische Länder sind permanent eigentlich Ziel westlicher Aggression gewesen. Denken Sie an die Invasion in Afghanistan. Denken Sie an die völkerrechtswidrige Invasion in den Irak. Das ist das eine. Und das andere ist, dass in der Öffentlichkeit Dinge, die nicht zusammengehören, über einen Leisten geschert werden.
Vor ganz wenigen Tagen war in einer guten deutschen Tageszeitung auf einer Seite ein Bericht über die Islamisten in Mali, also diese radikalen gewalttätigen Banden, die gerade das islamische Erbe zerstören, die islamische Heiligtümer zerstören und islamische Manuskripte verbrennen, und da drunter ein Bericht über den Islamisten Mursi. Der Mursi und die malischen Terrorgruppen wurden hier unter derselben Überschrift "Islamist" geführt. Das ist ungefähr so absurd, als würde man Peer Steinbrück und Kim Jong Un, den koreanischen Staatschef unter derselben Überschrift führen, weil doch beide sich irgendwie auf den Sozialismus berufen. Und natürlich haben beide nix miteinander zu tun.
Das Gleiche gilt für die gewalttätigen Banden in Mali einerseits und für politische Strömungen, die sich auf den Islam berufen. Und selbst diese Strömungen sind ja, was den weltweiten Islam betrifft, ja auch nicht unbedingt in der Mehrheit. Also, hier sind tatsächlich die Medien gefragt, die sich überlegen müssen, warum und ob es gerechtfertigt ist, alles durcheinanderzubringen, was eigentlich getrennt werden müsste.
Deutschlandradio Kultur: Das versuchen wir unter anderem in dieser Sendung. Aber es zeigt sich ja doch, wenn Sie den weltweiten Islam ansprechen, dass ja auch in bisher liberalen islamischen Ländern, wie Indonesien, teilweise die Zügel etwas straffer angezogen werden, die Gebote etwas rigoroser ausgelegt werden. Ich habe gerade gelesen, dass in der indonesischen Provinz Aceh die Behörden Frauen kürzlich sogar das Moped-Fahren verboten haben – das sei unislamisch. Wie erklären Sie sich diesen Trend zum Rigorosen, selbst an den Rändern der islamischen Welt, wo man es bisher doch teilweise etwas liberaler gehandhabt hat?
Thomas Bauer: Ja, Aceh ist natürlich auch innerhalb Indonesiens ein Sonderfall. Wir sollten nicht immer von Sonderfällen generalisieren. Es wird ja sehr oft gerade von Saudi-Arabien als sozusagen Musterfall eines islamischen Landes gesprochen und nicht dazu gesagt, dass in Saudi-Arabien eine Spielart des Islams, nämlich der Wahabismus, eine Staatsreligion ist, die nach Meinung sehr, sehr vieler Muslime gar nicht mehr auf dem Boden des Islams steht. Wir haben also hier mit einer extremen Sekte zu tun.
Und wenn wir uns die paar Regionen anschauen, in denen es zu solchen Radikalisierungen kommt, dann werden Sie auch feststellen, dass es immer zunächst einen politischen Hintergrund gibt, eine politische Motivation, die sich dann der Religion bedient. Also, zuerst kommt immer die Politik und dann die Religion.
Wenn wir nun in den letzten Jahrzehnten tatsächlich vereinzelt eine Radikalisierung oder eine Tendenz zu einer moralischen Aufrüstung im Islam begegnen, dann sollten wir auch zuerst auf die Politik gucken und vor allem auch zuerst auf die Wirtschaft. Gerade jetzt auch in Ägypten sieht man das ja sehr deutlich. Es ist die sich verschärfende wirtschaftliche Situation, die tatsächlich auch zu einer geringeren Ambiguitäts-Toleranz führt. Das heißt, die Leute fühlen sich unwohl, sind arm, kommen mit sich selber nicht klar, sehen ihre Chancen in der Welt beengt und hätten deshalb gerne eine möglichst klare, eindeutige Welt um sich herum. Ich glaube, das ist ein Mechanismus, den wir hier tatsächlich beobachten können.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, die Menschen kommen nicht mit sich klar. Der pakistanische Nuklearphysiker Pervez Hoodbhoy, selbst ein Muslim, hat es noch etwas schärfer formuliert. Der hat gesagt: "Die muslimischen Gesellschaften seien kollektiv gescheitert." In einem Spiegel-Gespräch hat er gesagt, Muslime hätten in den letzten tausend Jahren keine bedeutenden Erfindungen mehr gemacht. Alles, was sie wirklich gut könnten, sei Fasten und Beten. – Das ist vielleicht ein bisschen zugespitzt formuliert, aber ist es so völlig abwegig?
Thomas Bauer: Also, wenn er hier von tausend Jahren spricht, ist es tatsächlich völlig abwegig. Nur weil jemand Muslim ist, muss er noch nicht sehr viel vom Islam verstehen. Und hier von tausend Jahren zu reden, ist völliger Unsinn. In der Zeit, von der er spricht, haben islamische Geographen die besten Landkarten, die es jemals gab von der Welt, gezeichnet, ohne die Kolumbus Amerika nicht entdeckt hätte, haben Astronomen den Himmel beobachtet, Sternkarten gemacht, astronomische Apparate konstruiert, Philosophen gedacht, Mystiker Weltmodelle entworfen, Sprachwissenschaftler die wahrscheinlich beste sprachwissenschaftliche Theorie, die es vor dem 20. Jahrhundert überhaupt gab, entwickelt. Also, die Leistungen, die Muslime – nicht unbedingt als Muslime, aber überhaupt – gemacht haben in den Gebieten der Wissenschaften und der Kultur, ist immens gewesen.
Inzwischen gibt es auch Globalhistoriker, die sagen, dass diese alten Modelle zu einem sehr frühen Niedergang der islamischen Welt falsch sind. Der Niedergang setzte ein, als das große Kraftwerk des Indienhandels, des Handels auf dem Indischen Ozean durch das große Kraftwerk des Handels auf dem Atlantischen Ozean ersetzt wurde. Wir haben dann den Aufstieg europäischer Länder, die bislang völlig am toten Ende Eurasiens lagen, nacheinander – Portugal, Spanien, Frankreich, die Niederlande und schließlich England -, die auf einmal immer reicher und immer mächtiger wurden durch diesen Transatlantikhandel. Und dadurch geriet die islamische Welt in den Windschatten der Geschichte.
Es ist wieder die Wirtschaft, die das Entscheidende war. Also, der wirtschaftliche Niedergang, drastisch fühlbar wohl ab dem 18. Jahrhundert, führte natürlich auch nach und nach zu einem Versiegen intellektueller Kräfte. Und dann kam die große Konfrontation mit dem Westen, die auch eine militärische Konfrontation war und im Kolonialismus endete, auf die dann die Zeit der Militärdiktaturen, der auch westlich unterstützten Militärdiktaturen folgte. Das war eigentlich die große Zeit, die bleierne Zeit, in der tatsächlich die Zustände immer schlechter wurden – in jeder Hinsicht.
Deutschlandradio Kultur: Herr Prof. Bauer, nach der "bleiernen Zeit", wie Sie sie gerade eben genannt haben, gab es ja den Arabischen Frühling kürzlich. Manche Beobachter sagen allerdings, der hätte sich inzwischen zum arabischen Winter entwickelt oder sei zumindest auf dem Wege dorthin. Sehen Sie das auch so pessimistisch?
Thomas Bauer: Ich sehe es nicht ganz so pessimistisch. Was man natürlich sagen muss, ist, dass solche Umstürze eine wahnsinnig große Hoffnung auslösen – jetzt wird alles besser. Das ist natürlich nicht geschehen. Das konnte man auch leicht vorhersehen, dass es nicht geschieht, und zwar – und jetzt muss ich zum dritten Mal sagen – weil die wirtschaftlichen Verhältnisse sich nicht gebessert haben. Ganz im Gegenteil, in Ägypten bleiben Touristen weg, was auch nicht unbedingt zu rechtfertigen ist. Es ist nach wie vor ein sicheres Land.
Und dann ist es so, dass einzelne Kräfte sich Ägypten anders vorgestellt haben. Das sind vor allem säkulare, stark an westlichen Utopien orientierte Kräfte, die meinten, es wird dann so wie im Westen, was es natürlich erstens aus wirtschaftlichen Gründen schon nicht werden kann und zweitens deshalb nicht werden kann, weil die Mehrzahl der Bevölkerung das so eigentlich gar nicht will.
Jetzt kommt ein Problem zum Tragen, das eigentlich diese Länder seit dem 19. Jahrhundert haben. Als im 19. Jahrhundert diese Konfrontation mit dem Westen erstmals ganz heftig und stark wurde, waren es gar nicht mal so sehr die Kolonialherren selbst, die versuchten, westliche Werte in den islamischen Ländern einzupflanzen, sondern es waren eigene Eliten, die sich ganz massiv am Westen orientierten und zum Beispiel dafür verantwortlich waren, dass alte Muster, zum Beispiel mit Sex umzugehen – also, es war tatsächlich so, dass in Sachen Sex relativ lockere Moralvorstellungen herrschten, also nicht diese ganzen Schuldgefühle, auch kein großes Problem mit homoerotischen Gedichten etc.. Und das waren dann die einheimischen Eliten, die sich an westlichen Vorbildern, damals natürlich der viktorianischen Moral, orientierten und das versuchten, ihrer Bevölkerung aufzudrücken.
Diese westlichen Eliten gibt es immer noch. Die stehen hinter einigen dieser säkularen Kräfte, die jetzt sich weigern, eigentlich mitzumachen, die sich weigerten, in der Verfassungsgebenden Versammlung mitzumachen, die mit Wahlboykott drohen, die sich weigern, mit Mursi zu reden. Da sehen Sie immer noch eigentlich die Verachtung gewisser Eliten dem eigenen Volk gegenüber. Das scheint mir jetzt schon eine gewisse Gefahr für die ägyptische Demokratie zu sein. Denn wenn ein wichtiger Teil der Elite, nämlich die westlich orientierten, westlich gebildeten Teile der Elite, ihr eigenes Volk verachten, ist das eigentlich eine schlechte Voraussetzung für Demokratie. Während die Muslimbrüder ja ihrerseits in der Verfassung, die dann ja zustande gekommen ist und die eine durch und durch demokratische Verfassung ist, eigentlich gezeigt haben, dass sie eher damit umgehen können.
Deutschlandradio Kultur: Also, Sie sehen das Problem nicht so sehr bei den Muslimbrüdern, sondern mehr bei den säkularen Kräften? Die säkularen Kräfte befürchten ja, dass Mursi und die Muslimbrüder eine theokratische Diktatur errichten wollen. Die Gefahr sehen Sie nicht?
Thomas Bauer: Nein, die Gefahr sehe ich nicht, weil man sich nur die Verfassung anschauen muss. Nachdem die säkularen Kräfte sich ja zurückgezogen haben aus der Verfassungsgebenden Versammlung, waren eigentlich ja nur noch zwei übrig, nämlich die Muslimbrüder und die Salafisten.
Nun hat sich in der Verfassungsgebenden Versammlung eindeutig die Richtung der Muslimbrüder durchgesetzt, die eine immerhin relativ liberale Ausrichtung des Islams da vertreten. Und die Zumutungen der Salafisten, zum Beispiel wollten die ja, dass nicht die Prinzipien der Scharia wie seit Sadat in der ägyptischen Verfassung stehen, sondern die einzelnen Bestimmungen der Scharia, so wie die Salafisten sie halt selber auslegen, in die Verfassung geschrieben werden. Das ist alles nicht passiert.
Was passiert ist, ist aber: Die Macht des Präsidenten ist begrenzt worden. Er darf nur zweimal kandidieren. Er darf das Parlament nicht auflösen ohne Volksabstimmung. Der Ministerpräsident ist dem Parlament verantwortlich etc. Das heißt also, all das, was eine Demokratie ausmacht, Gewaltenteilung, freie Wahlen, Machtbegrenzung, all das steht ja in der Verfassung. Also, wenn man eine Diktatur errichten wollte, hätte man etwas anderes machen müssen. Das ist davon zu trennen, was die ja nun mal gewählten Vertreter der Muslimbrüder an konkreter Politik machen, das kann man durchaus ablehnen. Da ist auch sicher einiges, was einem auf die Nerven geht oder wo man sagt, das riecht nach zunehmender Islamisierung. Aber solange die demokratischen Institutionen als demokratische Institutionen umgesetzt werden, besteht ja auch immer die Möglichkeit, dass das alles wieder rückgängig gemacht wird. Also, von der Verfassung her spricht zunächst mal überhaupt gar nichts in Richtung einer islamistischen Diktatur.
Deutschlandradio Kultur: Wir sehen in den letzten Tagen ja auch in Tunesien – in Tunesien hat man immer gedacht, das läuft einigermaßen, die dort regierenden Islamisten sind einigermaßen gemäßigt – jetzt ist ein Oppositionspolitiker ermordet worden und es gibt Auseinandersetzungen, es gibt Proteste auf den Straßen. Wiederholt sich jetzt in Tunesien, was wir ja schon für Ägypten besprochen haben, also, so eine Konfrontation zwischen der säkular westlich orientierten Opposition und den mehr auf den Islam orientierten Regierungskräften?
Thomas Bauer: Es sind ganz klar hier Konflikte, die einfach ausgetragen werden müssen. Das sind Konflikte, die seit dem 19. Jahrhundert da sind und schwelen, ohne dass man jemals die Möglichkeit gehabt hat, das auszudiskutieren. Also, es fehlt in all diesen Ländern ja eine politische Diskussionskultur. Deshalb habe ich auch immer gesagt, ich glaube, das ist von allen Sätzen, die ich je sagte, der, der am meisten Aufregung hervorgerufen hat: Den islamischen Ländern fehlt nicht so sehr die Aufklärung, sondern die 68er-Revolte.
Damit wollte ich aber sagen, es fehlt diese Infragestellung von Autorität. Bislang konnte man nicht anders als einfach entweder den staatlichen Autoritäten zu folgen oder einer Gegenautorität, und diese Gegenautorität waren immer islamische Kräfte. Etwas anderes gab es ja nicht. Und eine Diskussion, eine Auseinandersetzung zwischen beiden Richtungen gab es auch nicht. Natürlich gibt es politische Richtungen, die dazwischen stehen. Gerade die haben sich bei den Wahlen nicht besonders durchsetzen können. So ist das Problem, dass doch eine große Spaltung in der Gesellschaft ist, an der aber – das muss man aber nachdrücklich sagen – wirklich beide Lager ihre Schuld haben.
Wir im Westen sagen immer, die Prowestlichen sind die, mit denen wir Sympathie haben. Mit denen haben wir auch Sympathie, die verstehen wir aber natürlich auch besser als die anderen. Aber deshalb sind die oft genauso Schuld an der Sache.
Das ist auch wieder ein Problem der Medien. Mit wem sprechen sie denn? Mit wem spreche ich denn, wenn ich nach Ägypten gehe? Mal von Taxifahrern abgesehen, spreche ich auch mit Leuten, von denen fast alle Hochschulabschluss haben. Aber wer spricht mit dem Metzger in Damanhur? Wer spricht mit dem Arbeitslosen in Tanta? Und dann wundert man sich, dass die Wahlen ganz anders ausgehen als wir das wollen, weil die Universitätsprofessoren, die Journalisten etc., mit denen wir reden in Ägypten, natürlich nicht die Muslimbrüder wählen. Da geschieht durch die Medien auch eine gewisse Verzerrung.
Deutschlandradio Kultur: Durch die Medien ist das dann ja auch rübergeschwappt in die innenpolitische Diskussion – Stichwort Islamkritik. Die ist ziemlich verbreitet, gesellschaftlich zumindest nicht verpönt, denn man kritisiert ja nicht Menschen wegen ihrer Rasse oder Herkunft, sondern bloß eine Religion. Oder ist diese Islamkritik, wie sie manchmal in unserer Öffentlichkeit zu hören ist, doch eine verkappte Form von Fremdenfeindlichkeit? Was meinen Sie?
Thomas Bauer: Ich glaube, dass es keine verkappte Form von Fremdenfeindlichkeit ist. Denn wenn man sich manche Islamhasser-Blogs anschaut, ich bin auch mal Opfer eines solchen Blogs geworden, und das ist dann nicht schön, wenn man so einen – wie man heute modisch sagt – Shitstorm über sich ergehen lassen muss. Da ist keine verkappte Fremdenfeindlichkeit. Wir haben es hier wirklich mit einer fremdenfeindlichen Gruppierung zu tun, die teilweise offen rassistisch ist, die leider in der Öffentlichkeit gehört wird, mehr gehört wird, als es ihr zukommt.
Das heißt aber natürlich nicht, dass an Muslimen nicht Kritik geübt werden kann. Also, ich habe immer ein bisschen ein Problem mit der Kritik am Islam. Ja, was kritisiert man denn da? Irgendwelche normativen Texte, die man so oder so auslegen kann, oder irgendwelche islamischen Strömungen? Islamische Strömungen kann man natürlich kritisieren, muss man sogar kritisieren. Ich trete immer dafür ein, dass man den Wahabismus, also diese Staatssekte Saudi-Arabiens, viel stärker kritisiert als man das tut. Das wird bei uns ganz stark vernachlässigt, weil wir die politischen Beziehungen zu Saudi-Arabien haben, weil wir diesem Land Panzer liefern und in allerbesten Beziehungen ausgerechnet mit diesem Land stehen, das die radikalsten islamischen Strömungen in der ganzen Welt mit Millionen und Abermillionen Petrodollars unterstützt. – Da muss man ganz stark kritisieren. Natürlich, einzelne Muslime muss man kritisieren.
Aber was kritisiert man denn, wenn man den Islam kritisiert? Das ist ja ein vielfältiges, nicht fassbares Phänomen, dass das – finde ich – nicht die richtige Ebene ist, wo Kritik ansetzen kann.
Deutschlandradio Kultur: Es fällt ja auf, dass bei der ganzen Integrationsdebatte hier in Deutschland häufig muslimische Migranten als besonders schwierig gelten. 20 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime will sich gar nicht integrieren. Das sagt zumindest eine Studie des Bundesinnenministeriums. Was sagen Sie dazu? Gibt es eine Verbindung zwischen Religionszugehörigkeit und der Schwierigkeit, in dieser Gesellschaft sich zu akklimatisieren oder eben auch angenommen zu werden von der Gesellschaft?
Thomas Bauer: Man muss aufpassen, dass man mit dieser so genannten Integrationsdebatte nicht ein Ablenkungsmanöver hat, das eine Sozialdebatte verhindert.
Das Problem ist, und das zeigen – glaube ich – so ziemlich alle Studien, dass wir ein Unterschichtsproblem haben, dass unser Schulsystem weniger durchlässig ist als früher, weniger durchlässig ist als das anderer Staaten, wie Schweden, alles Staaten, die haben ja alle genau die gleiche Migrationsgeschichte oder sehr ähnliche Migrationsgeschichte wie Deutschland.
Diese Dinge sind in allererster Linie nicht religiös bedingt, sondern sozial. Das heißt, wir brauchen eine Debatte über Sozialstrukturen. Wir brauchen eine Debatte über Ganztagsschulen und ähnliche Dinge. Das wäre viel wichtiger als eine Debatte über Integration zu machen, die Probleme anspricht, die eigentlich nur in Großstädten, in bestimmten Stadtteilen von Großstädten überhaupt relevant sind. Und auch dort stellt man fest, dass – wenn Sie sich die Aufsteigerzahlen anschauen – Kinder, die in der zweiten, dritten Generation von Migranten abstammen, auch Muslime, gerade Muslime, enorme Bildungsaufsteiger sind. Es gab natürlich enorm viel aufzuholen, das sehen Sie, wenn Sie vergleichen. Das ist ja ganz einfach, bei Kindern mit türkischem Hintergrund ist das in der Regel weniger der Fall als bei Kindern mit iranischem Hintergrund. Iranische Kinder haben als Vater einen Zahnarzt oder einen Kinderarzt und türkische Kinder einen Hilfsarbeiter. Also, es geht hier um sozialen Aufstieg. Und bisher hat niemand nachweisen können, dass Religion hier wirklich ein entscheidender Faktor ist.
Deutschlandradio Kultur: Herr Prof. Bauer, es gibt Leute, die sagen, der Koran lasse sich gar nicht adäquat in andere Sprachen übersetzen. Darum Frage an Sie als Arabisten, das ist ja Ihr anderes Fach: Kann ich den Koran in deutscher Übersetzung eigentlich begreifen oder soll ich dazu erstmal Arabisch lernen?
Thomas Bauer: Da fragen Sie jetzt fast schon den letzten Arabisten, der noch keine eigene Koranübersetzung verfasst hat. Koranübersetzungen boomen ja. Es kommt ja jetzt eine nach der anderen auf den Markt. Die meisten davon sind sogar ziemlich gut.
Das Problem liegt anderswo. Man kann jedes Buch erstmal übersetzen. Aber jede Übersetzung ersetzt nicht das Original. Beim Koran ist das in zweifacher Hinsicht der Fall. Zum einen ist der Koran – nicht überall, aber in doch weiten Strecken – ein in höchstem Maße ästhetischer Text. Das heißt, der Koran wird ja heute immer so auf irgendwelche rechtliche Vorschriften reduziert, aber diese rechtlichen Vorschriften machen den allerkleinsten Teil aus, das andere sind Texte, die man eigentlich als rein literarische Texte betrachten muss, also Texte, die auf Schönheit aus sind und die überwältigend sind.
Und es gibt ein Zweites, dass der Koran zu rituellen Zwecken und vor allem eben auch als juristische Quelle, als Text für Rechtsauslegungen immer im Original konsultiert werden muss. Das liegt darin, dass ja jede Übersetzung eindeutiger ist als das Original. Wenn im Original ein Satz auf vier, fünf verschiedene Bedeutungen aufgefasst werden könnte, muss sich der Übersetzer ja zwangsläufig für eine entscheiden. Deshalb hat man gesagt: Wenn wir den Koran auslegen und es irgendwelche praktischen Konsequenzen hat aus dieser Auslegung, dann müssen wir einfach zum Originaltext zurück – das Umgekehrte als das, was gerne behauptet wird.
Es geht gerade darum, die Vieldeutigkeit des Korans, auf die islamische Gelehrte immer großen Wert legen, zu erhalten. Das kann die Übersetzung nicht. Deshalb ist das Original wichtig. Aber man kann den Leuten getrost empfehlen, den Koran auch in einer guten Übersetzung zu lesen. Dann bekommt man schon auch einen Eindruck.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.