Religion ist mehr als Privatsache

Der Verfassungsrichter Udo Di Fabio greift das Thema Religionsfreiheit aus grundsätzlicher Sicht auf. Er fragt im aktuellen multikulturellen Kontext: Wer beruft sich heute noch auf Religionsfreiheit? In fünf Reden zur Religionspolitik legt Udo Di Fabio nahe, wie man Glauben respektieren kann, ohne ihn teilen zu müssen, damit der Verfassungsstaat gestärkt wird und die Gesellschaft wieder zu sich findet.
Kehrt sich eine Gesellschaft vollkommen von Religion ab, verliert sie ihre kulturelle Dimension. Wer nur die Verfassung als alleinige Bezugsquelle für das Zusammenleben setzt, riskiert womöglich, in Bürokratie zu erstarren. Mit solchen Positionen knüpft der Autor an den Sozialphilosophen Jürgen Habermas und an die Religionswissenschaft nach Udo Tworuschka und Gustav Mensching an. Danach sind Religionen auch Hüter des kollektiven Gewissens.

Wissenschaft, Wirtschafts- und Rechtsrationalität sollten nicht allein das letzte Wort haben. Di Fabio greift auf humanistische Leitgedanken zurück, die der Idee vom modernen Verfassungsstaat zugrunde liegen: Der Mensch ist berufen, sich selbst zu entwerfen und nicht, sich in endgültige Wahrheiten einmauern zu lassen. Letzteres bringt keine Gesellschaft weiter.

Die Würde und damit auch die Freiheit des Menschen lehnt sich an die Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit an – das ist das Wunderbare an der menschlichen Natur. Dies mit Göttlichkeit zu verwechseln, wäre fatal und jene Falle, in die alle wieder tappen könnten, die sich fundamentalistisch und damit eindimensional aufstellen, so Di Fabio.

Selbst ein überzeugter Christ, belegt der Autor den Wert der Religionsfreiheit einerseits aktuell und verfolgt andererseits die historisch wichtigen Etappen dazu. Als Religion zur Privatsache wurde, in Abwehr gegen den Druck durch autoritäre Machtstrukturen, begannen sich die Menschenrechte zu entfalten. Jedoch fand der Kampf darum in einem religionsfeindlichen Klima statt. Zum neuen Dogma wurde fortan der ewige Fortschrittsglaube.

Im Kampf gegen die Religion als solche zu verharren, widerspricht jedoch dem aufklärerischen Prinzip ebenso, wie es sich verbietet, am alleinigen Wahrheitsanspruch festzuhalten, statt weltoffen zu bleiben.

Di Fabio sieht es als Herausforderung, das Grundrecht der individuellen Religionsfreiheit in einer Gesellschaft, die in Parallelwelten lebt, vernünftig einzuüben. Das hart erkämpfte Freiheitsrecht dürfe keinem höheren Zweck geopfert werden. Dieses Recht beinhalte schließlich auch die Pflicht, nicht nur Religionsgemeinschaften zu respektieren, sondern fordere von diesen, Verfassungsprinzipien anzuerkennen.

Der Autor folgt dem aufklärerischen Prinzip, wenn er die Verfassung durchaus "diskutierbar" nennt, nicht jedoch beliebig "disponierbar" - das würde sie zerstören. Gleichzeitig warnt Di Fabio: Aus Furcht vor interkulturellen Konflikten tendiert die Gesellschaft dazu, sich mit Verhaltensgeboten zu zupflastern. Das führt zu Bürokratie, ist zweckrational, widerspricht dem Gedanken der Grundrechte und beantwortet nicht, wie Menschen heute zusammenleben sollen und können.

Wohlwollend neutral solle der Verfassungsstaat sein: den Bürgern eine verlässliche Rechtsgrundlage bieten und den freien Raum für Gewissensentscheidungen lassen, solange sie Freiheiten anderer nicht bekämpfen.

So verstanden, wird das Grundrecht der Religionsfreiheit für die Kultur einer pluralen Gesellschaft wieder zum wahren Gewinn. Di Fabio macht den Wert der Religionsfreiheit bewusster und auch, dass es kein Zufall ist, dass die Aufklärung im christlichen Abendland aufblühte.

Rezensiert von Karla Sponar

Udo Di Fabio: Gewissen, Glaube, Religion: Wandelt sich die Religionsfreiheit?
Berlin University Press; Berlin 2008,
180 Seiten, 19,90 Euro