Religion ist "zentraler Identitätsanker" in der muslimischen Welt
Viele muslimische Länder seien von Not und Armut geprägt. Dort gäbe es kaum Möglichkeiten, sich durch Leistung Anerkennung zu erwerben, sagt der Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer. An der Religion hänge nicht nur die eigene Identität, sondern die einer ganzen Gesellschaft. Hinzu komme, dass der kulturelle Überlegenheitsanspruch des Westens eine zusätzliche Verletzung darstelle.
Nana Brink: Es ist nur ein Film, aber er hat eine Welle der Gewalt in der arabischen Welt ausgelöst: "Innocence of Muslims", "Die Unschuld der Muslime" heißt dieser mysteriöse Streifen, der den Islam verunglimpft, produziert in den USA, mutmaßlich von einem koptischen Christen. Nach der Tötung des US-Botschafters Chris Stevens im libyschen Bengasi kommt es in immer mehr arabischen Ländern vor diplomatischen Konsulaten und US-Botschaften zu gewalttätigen Ausschreitungen. In Ägypten, im Gazastreifen, im Iran, Jemen, in Libyen, in Tunesien, und gestern wurde auch die deutsche und die britische Botschaft im Sudan angegriffen. Am Telefon ist jetzt Professor Wilhelm Heitmeyer. Er leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Uni Bielefeld. Schönen guten Morgen, Herr Heitmeyer!
Wilhelm Heitmeyer: Guten Morgen!
Brink: Für uns hier ist es schwer verständlich, warum ein solcher Film solche Gewalt auslösen kann. Wie beeinflussen denn diese Emotionen unsere Haltung gegenüber dem Islam?
Heitmeyer: Nun, wir können diese neue Entwicklung ja nicht prognostizieren. Die neue Entwicklung besteht ja auch darin, dass eine deutsche Botschaft angegriffen worden ist, und das hat natürlich Reaktionen. Vorher waren es ja vor allem amerikanische Einrichtungen. Also, insofern ist das noch nicht zu prognostizieren, aber klar ist auch, dass auch in Deutschland die Haltung, die Einstellung gegenüber dem Islam mit großer Aufmerksamkeit zu verfolgen ist. Vor allem deshalb auch, weil viele Menschen hier in Deutschland nicht zwischen den verschiedenen Varianten des Islam unterscheiden können. Also, die Generalisierung ist ein zusätzliches Problem.
Brink: Und viele Menschen blicken ja besorgt auf die Ausschreitungen, die sich gegen die USA und jetzt natürlich auch gegen Deutschland richten. Wo hört denn da Empörung auf und wann fängt Islamfeindlichkeit an?
Heitmeyer: Nun, das ist eine schwierige Frage. Aber wir können einfach feststellen, dass etwa 24 Prozent der Auffassung sind in Deutschland, dass Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden sollte. Also, das hängt auch mit solchen Ereignissen dann möglicherweise zusammen. Und es gibt über 70 Prozent, die meinen, dass die muslimische Kultur nicht in unsere westliche Welt passt. Also, dort prallen offensichtlich durchaus Einstellungen aufeinander und das bedeutet natürlich keine besonders gute Situation für Muslime in der Wahrnehmung auch der deutschen Gesellschaft. Und das hat natürlich etwas mit der Bedeutung der Religion bei Muslimen zu tun, im Gegensatz etwa zu den Menschen in den säkularisierten westlichen Gesellschaften.
Brink: Wobei man ja immer dazufügen muss, auch Muslime hier in Deutschland sind empört über das, was da passiert in der arabischen Welt, das sollte …
Heitmeyer: Ja, das ist ganz, ganz wichtig, das ist ganz, ganz wichtig, dass es diese klaren Stellungnahmen der deutschen muslimischen Verbände gibt, und das ist wirklich sehr erfreulich und sehr wichtig. Gleichzeitig ist die Empörung über den Film natürlich auch verständlich. Aber die Linie, das wird ja überall betont, ist die Gewaltfrage, die Grenzlinie.
Brink: Ich möchte noch mal auf etwas zu sprechen kommen, was Sie angedeutet haben, nämlich die Bedeutung der Religion: Die hat ja eine, ist ja eine andere in diesen Ländern dort. Wie entscheidend ist denn das, um eine Erklärung für diesen Gewaltausbruch jetzt zu finden?
Heitmeyer: Nun, es ist völlig klar, dass die Religion der zentrale Identitätsanker in der muslimischen Welt ist. Eine Welt, die ja von größter Armut und größter Not geprägt ist. Das heißt, die Anerkennungsmöglichkeiten in solchen verarmten Regionen sind ja ganz andere als in westlichen Gesellschaften. Das heißt, es gibt viel weniger und dort kann man sich eine Beschädigung der Religion eigentlich gar nicht leisten. Also, die … An der Heiligkeit hängt vieles der eigenen Identität, der individuellen, aber vor allem auch der Identität einer ganzen Gesellschaft.
Brink: Aber wenn wir schon bei der Differenzierung sind: Man hat aber schon den Eindruck, es geht eigentlich nicht um den Film, sondern hier instrumentalisieren extremistische Gruppen das vorherrschende Gefühl, man werde in seiner Religiosität verletzt oder auch man sei dem Westen unterlegen.
Heitmeyer: Ja, da hatten, diese Frage der generellen Demütigung und des kulturellen Überlegenheitsanspruches des Westens verletzt natürlich zusätzlich. Und Sie haben völlig recht, es sind in der Regel radikalisierte Gruppen für relativ kurze Zeiträume. Denn im Grunde, muss man ja auch sagen, haben die Menschen in diesen Ländern noch andere Sorgen, nämlich die Sorgen des materiellen Überlebens. Und das bedeutet auch, dass nach allem, was wir wissen, solche Wellen sich nach kurzer Zeit dann wieder zurückbilden. Aber es sind eben Wellen, die dann in Eskalation durchaus münden können. Eskalation in dem Sinne, dass die Wahrnehmung in den westlichen Gesellschaften sich noch weiter verhärtet im Sinne von Ablehnung. Und das ist dann ein zweifelhafter Erfolg dieser radikalisierten Gruppen.
Brink: Also, Sie behaupten, die Proteste werden dann vielleicht etwas abflauen, aber dennoch werden solche Ereignisse dann auch langfristig das Zusammenleben hier, also hier in Deutschland, beeinflussen?
Heitmeyer: Ja, dies ist schlecht zu prognostizieren. Also Wissenschaftler sollte man sich mit Prognosen doch zurückhalten, denn wir kennen die ganzen Einflüsse und die Signalereignisse, um das mal so zu sagen, ja nicht. Und es ist ja auch so, dass solche gewalttätigen Auseinandersetzungen hier im Lande bisher ja Gott sei Dank ausgeblieben sind. Und ich kann mir das auch nicht vorstellen. Es gibt gerade unter den Salafisten ja durchaus gewaltbereite Akteure, die zum Teil ja auch in Ägypten aktiv sind, aber für bestimmte Eskalationen benötigt man immer auch, wie gesagt, Signalereignisse. Man braucht klare Feindbilder, man braucht auch eine kritische Masse, um solche Dinge in Gang zu setzen. Und dieses sehe ich so in Deutschland zurzeit nicht.
Brink: Professor Wilhelm Heitmeyer, er leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Uni Bielefeld. Herr Heitmeyer, herzlichen Dank für das Gespräch!
Heitmeyer: Bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wilhelm Heitmeyer: Guten Morgen!
Brink: Für uns hier ist es schwer verständlich, warum ein solcher Film solche Gewalt auslösen kann. Wie beeinflussen denn diese Emotionen unsere Haltung gegenüber dem Islam?
Heitmeyer: Nun, wir können diese neue Entwicklung ja nicht prognostizieren. Die neue Entwicklung besteht ja auch darin, dass eine deutsche Botschaft angegriffen worden ist, und das hat natürlich Reaktionen. Vorher waren es ja vor allem amerikanische Einrichtungen. Also, insofern ist das noch nicht zu prognostizieren, aber klar ist auch, dass auch in Deutschland die Haltung, die Einstellung gegenüber dem Islam mit großer Aufmerksamkeit zu verfolgen ist. Vor allem deshalb auch, weil viele Menschen hier in Deutschland nicht zwischen den verschiedenen Varianten des Islam unterscheiden können. Also, die Generalisierung ist ein zusätzliches Problem.
Brink: Und viele Menschen blicken ja besorgt auf die Ausschreitungen, die sich gegen die USA und jetzt natürlich auch gegen Deutschland richten. Wo hört denn da Empörung auf und wann fängt Islamfeindlichkeit an?
Heitmeyer: Nun, das ist eine schwierige Frage. Aber wir können einfach feststellen, dass etwa 24 Prozent der Auffassung sind in Deutschland, dass Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden sollte. Also, das hängt auch mit solchen Ereignissen dann möglicherweise zusammen. Und es gibt über 70 Prozent, die meinen, dass die muslimische Kultur nicht in unsere westliche Welt passt. Also, dort prallen offensichtlich durchaus Einstellungen aufeinander und das bedeutet natürlich keine besonders gute Situation für Muslime in der Wahrnehmung auch der deutschen Gesellschaft. Und das hat natürlich etwas mit der Bedeutung der Religion bei Muslimen zu tun, im Gegensatz etwa zu den Menschen in den säkularisierten westlichen Gesellschaften.
Brink: Wobei man ja immer dazufügen muss, auch Muslime hier in Deutschland sind empört über das, was da passiert in der arabischen Welt, das sollte …
Heitmeyer: Ja, das ist ganz, ganz wichtig, das ist ganz, ganz wichtig, dass es diese klaren Stellungnahmen der deutschen muslimischen Verbände gibt, und das ist wirklich sehr erfreulich und sehr wichtig. Gleichzeitig ist die Empörung über den Film natürlich auch verständlich. Aber die Linie, das wird ja überall betont, ist die Gewaltfrage, die Grenzlinie.
Brink: Ich möchte noch mal auf etwas zu sprechen kommen, was Sie angedeutet haben, nämlich die Bedeutung der Religion: Die hat ja eine, ist ja eine andere in diesen Ländern dort. Wie entscheidend ist denn das, um eine Erklärung für diesen Gewaltausbruch jetzt zu finden?
Heitmeyer: Nun, es ist völlig klar, dass die Religion der zentrale Identitätsanker in der muslimischen Welt ist. Eine Welt, die ja von größter Armut und größter Not geprägt ist. Das heißt, die Anerkennungsmöglichkeiten in solchen verarmten Regionen sind ja ganz andere als in westlichen Gesellschaften. Das heißt, es gibt viel weniger und dort kann man sich eine Beschädigung der Religion eigentlich gar nicht leisten. Also, die … An der Heiligkeit hängt vieles der eigenen Identität, der individuellen, aber vor allem auch der Identität einer ganzen Gesellschaft.
Brink: Aber wenn wir schon bei der Differenzierung sind: Man hat aber schon den Eindruck, es geht eigentlich nicht um den Film, sondern hier instrumentalisieren extremistische Gruppen das vorherrschende Gefühl, man werde in seiner Religiosität verletzt oder auch man sei dem Westen unterlegen.
Heitmeyer: Ja, da hatten, diese Frage der generellen Demütigung und des kulturellen Überlegenheitsanspruches des Westens verletzt natürlich zusätzlich. Und Sie haben völlig recht, es sind in der Regel radikalisierte Gruppen für relativ kurze Zeiträume. Denn im Grunde, muss man ja auch sagen, haben die Menschen in diesen Ländern noch andere Sorgen, nämlich die Sorgen des materiellen Überlebens. Und das bedeutet auch, dass nach allem, was wir wissen, solche Wellen sich nach kurzer Zeit dann wieder zurückbilden. Aber es sind eben Wellen, die dann in Eskalation durchaus münden können. Eskalation in dem Sinne, dass die Wahrnehmung in den westlichen Gesellschaften sich noch weiter verhärtet im Sinne von Ablehnung. Und das ist dann ein zweifelhafter Erfolg dieser radikalisierten Gruppen.
Brink: Also, Sie behaupten, die Proteste werden dann vielleicht etwas abflauen, aber dennoch werden solche Ereignisse dann auch langfristig das Zusammenleben hier, also hier in Deutschland, beeinflussen?
Heitmeyer: Ja, dies ist schlecht zu prognostizieren. Also Wissenschaftler sollte man sich mit Prognosen doch zurückhalten, denn wir kennen die ganzen Einflüsse und die Signalereignisse, um das mal so zu sagen, ja nicht. Und es ist ja auch so, dass solche gewalttätigen Auseinandersetzungen hier im Lande bisher ja Gott sei Dank ausgeblieben sind. Und ich kann mir das auch nicht vorstellen. Es gibt gerade unter den Salafisten ja durchaus gewaltbereite Akteure, die zum Teil ja auch in Ägypten aktiv sind, aber für bestimmte Eskalationen benötigt man immer auch, wie gesagt, Signalereignisse. Man braucht klare Feindbilder, man braucht auch eine kritische Masse, um solche Dinge in Gang zu setzen. Und dieses sehe ich so in Deutschland zurzeit nicht.
Brink: Professor Wilhelm Heitmeyer, er leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Uni Bielefeld. Herr Heitmeyer, herzlichen Dank für das Gespräch!
Heitmeyer: Bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.