Die bunten Kathedralen des Selbst
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Waren Tätowierungen früher vor allem Zeichen einer Gruppenzugehörigkeit, gehören sie heute zum Mainstream. Allerdings wohnt ihnen noch immer eine Form des Bekenntnisses inne. Ein aktuelles Buch spürt der Beziehung von Religion und Tattoos nach.
"Das ist im Prinzip ein Rasierapparat- oder Kassettenrekordermotor oder so was. Das macht dann einfach nur so ein Geräusch", erklärt Alex Weigand vom Heidelberger Tätowierladen "Absolut Tattoo". Ziemlich unspektakulär, so eine elektrische Tätowiernadel, meint er. Das, was er mit dieser Nadel macht, ist dafür oft umso spektakulärer.
Auf dem Arm: die Sieben Todsünden
"Dürers Hände hab ich schon zig Mal gemacht, irgendwelche Jesus-, Mariaportraits natürlich auch, Sacred Heart, Kreuze, Engelmotive, das sind Sachen, die kommen natürlich ständig vor. Ich hatte mal eine Kundin, der hatte ich auch die Kreuzigungsszene zuerst auf den Rücken tätowiert. Und dann wollte sie noch tatsächlich die sieben Todsünden in Bild dargestellt auf den ganzen Arm verteilt."
Religiöse Motive – das lässt sich leicht herausfinden – sind ziemlich verbreitet in der Tattoo-Szene. Ob die Frau mit den sieben Todsünden auf dem Arm oder jemand anderes mit einem Jesuskonterfei auf der Brust ein gläubiger Mensch ist, das ist allerdings nicht ganz so leicht herauszubekommen. Was also haben Tätowierungen und Religion miteinander zu tun? Der Dichter und Theologe Paul-Henri Campbell hat sich für sein Buch auf die Suche nach einer Antwort gemacht, wobei er sich zunächst auf das Christentum beschränkte.
Frühe Christen bekamen Straftätowierungen
"Was ich nicht wusste ist, dass die christliche Tätowierung sehr alt ist."
"Der schreibt diesen Brief an die Christen, die in der Westtürkei quasi angesiedelt sind. Und die bekommen römische Straftätowierungen. Die werden damit unterdrückt. Und Paulus sagt: Tragt diese Zeichen nicht als Schandmale, sondern tragt diese Zeichen stolz. Paulus codiert sozusagen dieses Zeichen der Schande in ein Zeichen der Unbeugsamkeit und der Unabhängigkeit um."
Und offenbar auch zum Zeichen der Zugehörigkeit. Das Christentum hat sich tatsächlich nie ganz streng gegen Tätowierungen ausgesprochen. Teilweise gab es zwar Verbote – unter Kaiser Konstantin beispielsweise – und zu deren Begründung wurden Bibelstellen herangezogen. Allerdings finden die sich auch für das Gegenteil. Tatsächlich scheinen Tätowierungen lange Zeit ganz selbstverständliche Merkmale der Glaubenszugehörigkeit gewesen zu sein. Unter Kreuzrittern beispielsweise, die so auf ein christliches Begräbnis hofften, wenn sie in der Ferne starben. Oder bei den koptischen Christen.
Tätowierung ist bei Kopten ein Glaubensausweis
"Jeder Kopte, jede Koptin bekommt ein kleines Kreuz eintätowiert und damit gehören sie dazu. Damit können sie, wenn sie in ihre Gotteshäuser hineingehen, sich als Teil dieser Gruppe ausweisen. Das schützt einerseits, weil man weiß, die Leute die reingehen, die tragen ein Kreuz, die gehören also dazu. Andererseits ist es etwas, das alle verbindet. Also wie so ein roter Faden, der durch alle hindurchgeht."
Und das ist bis heute so. Im christlichen Viertel in Jerusalem wohnt die Familie Razzouk, die sich seit 700 Jahren darauf spezialisiert hat, diese Kreuze auf das rechte Handgelenk zu tätowieren. Längst zählen nicht mehr nur Kopten zu deren Kunden. Es sind Christen aus aller Welt, die als Pilger in die Heilige Stadt kommen und sich das gewissermaßen dokumentieren lassen wollen. Es sind aber auch Juden und Muslime darunter, deren Religionen Tätowierungen eigentlich verbieten. Und es sind Touristen darunter, für die eine von den Razzouks gestochene Tätowierung ein ganz besonderes Souvenir ist.
Tätowierung ist Bekenntnis
Wer sich heutzutage für ein dauerhaftes religiöses Symbol auf der Haut entscheidet, der oder die macht das also nicht unbedingt aus einem strengen Glauben heraus. Er oder sie macht es aber vielleicht unbewusst aus einem religiösen Gefühl heraus – meint Paul-Henri Campbell:
"Also wir sind daran gewöhnt, wenn wir über Religion sprechen, über Bekenntnisse zu sprechen. Inhalte, Dogmen, Werte, Normen und so weiter. Religiöses Verhalten funktioniert in der ersten Ebene aber ganz anders. Die Religiosität einer Tätowierung hängt nicht davon ab, dass es ein Kruzifix ist oder ein Fisch oder das Wasser oder ein Regenbogen oder irgendwelche anderen traditionellen religiösen Symbole, sondern dass sie etwas ist, das auf die Existenz des Menschen verweist. Also wenn sie zum Beispiel einen Pferdekopf tätowieren und der Pferdekopf dafür steht, dass Sie eine gute Kindheit hatten, oder wenn Sie den Namen eines Geliebten oder einer Geliebten tätowieren, dann stellen Sie Bezüge her, die etwas mit Ihnen selbst zu tun haben. Und das ist genuin religiöses Verhalten."
Mitteilungsbedürfnis oder Modetrend?
So die These des Autors. Wer sich tätowieren lässt, bekennt sich zu etwas und das kann man als quasi-religiösen Akt deuten. Wie sehen Tätowierer das? Für Markus Keim vom Mannheimer Studio Arts & Soul ist das erst einmal kein abwegiger Gedanke:
"Es gibt, denke ich, zwei Richtungen. Punkt eins: Es ist ein inneres Bedürfnis, Dinge zur Schau zu stellen, die eine besondere Bedeutung haben für sie. Sie wollen zutage tragen, was sie empfinden oder für was sie stehen. Es gibt aber auch die andere Seite von Menschen, die - gerade was jetzt einfache Kreuze, zweidimensionale Kreuze angeht - dem Trend folgen, weil das gerade einfach modern ist."
Tattoos sind längst im Mainstream angekommen, man macht das, was viele machen. Und dennoch steckt dahinter – so erklären es Gesellschaftswissenschaftler gerne – der Wunsch vieler Menschen nach Einzigartigkeit und Singularität. Paul Henri Campbell spricht als Theologe bei tätowierten Körpern von "den bunten Kathedralen des Selbst".
Und der Schmerz?
Stellt sich noch die Frage, welche Rolle bei dem Ganzen der Schmerz spielt. Ohne den ist nämlich noch immer kein Tattoo zu haben.
"Für das religiöse Ausüben hat das, glaube ich, eine untergeordnete Rolle."
Meint der Autor, auch wenn er einräumt, dass die Schmerzerfahrung für sehr fromme Tätowierte durchaus wichtig sein kann. Als eine "physische Ritualisierung des Leiden Christi", wie er es nennt. Wie ein Stigma gewissermaßen.
"Also diese depressive und ich finde auch vereinzelte Leidensbereitschaft des Christentums, die kommt aus dem Mittelalter. Und das Mittelalter ist voller Mönchszellen, in denen vereinzelte depressive Menschen drin hocken. Und das frühe Christentum hat das Kreuz gar nicht so oft verwendet, nur so Wellen als Zeichen der Taufe und so was."
Wenn eine Tätowierung ein religiöses Bekenntnis ausdrücken soll, dann kann möglicherweise auch der Schmerz eine religiöse Bedeutung haben. Überbetonen sollte man das allerdings nicht. Dem stimmen auch die Mannheimer Tätowierer Rick Riojas und Markus Keim zu.
"Also, ich denke der Schmerz ist schon irgendwie – also er gehört irgendwie dazu. Also, ich sage immer, man erarbeitet sich, man verdient sich das Tattoo auch irgendwie so ein bisserl." Sagt Rick Riojas. Und Markus Keim fügt hinzu:
"Weil es geht ja nicht um den Schmerz, sondern um die Entscheidung. Der Schmerz ist Teil der Entscheidung."