Religionen in China
Helwig Schmidt-Glintzer stellt in seinem Buch "Wohlstand, Glück und langes Leben – Chinas Götter und die Ordnung im Reich der Mitte" die gesamte Vielfalt von Glaubensformen vor. Auch geht es um das Verhältnis von Gesellschaft, Religion und Politik.
Tatsächlich war China immer voller Religion und Frömmigkeit mit tausenderlei Göttern und Kulten. Dies hatte schon Konfuzius irritiert und war immer wieder Stein des Anstoßes gewesen. Und doch lebte China von dieser religiösen Vielfalt und ihrer Kraft. Diese kraftvolle Seite Chinas wurde von den Eliten stets bekämpft oder zumindest gefürchtet, und so ist es nicht verwunderlich, dass von Konfuzius bis Mao Zedong stets ein Bild von China ohne Götter gezeichnet wurde.
Die angebliche Religionslosigkeit Chinas wird als Wunschdenken der europäischen Aufklärung bezeichnet. Dabei sei Chinas Religion stets als anthropologisch universelles Gut akzeptiert und nicht einfach auf eine Morallehre reduziert worden. Alle Versuche von Herrschern, sich vergöttlichen zu lassen, seien erfolglos geblieben. Es gab keine theologische Auseinandersetzung über das Göttliche . Die Verbindung zu den Ahnen und Göttern gehörte zur Grundstruktur des religiösen Handelns. Es gab nicht eine Lehre und nicht einen Gott, die für alles zuständig waren.
Man könnte etwas vereinfachend die chinesische Religiosität als den Versuch beschreiben, die eigene Existenz innerhalb eines kosmischen Gleichgewichts zu sichern. Nicht anders sind all die diätetischen Praktiken, die Übungen wie das sogenannte "Schattenboxen" und andere Techniken des immer wieder aufs neue unternommenen Versuchs der Wiederherstellung einer Ordnung zu sehen.
Als eine weitere Besonderheit stellt der Autor heraus, dass in China im allgemeinen die Welt nicht als erschaffen, sondern als entstanden dargestellt wird, hervorgegangen aus einer großen Leere. Daraus folgert er:
Weil es keinen Schöpfer und daher auch keine eindeutige Bestimmung durch die Gestirne gab, war auch die Frage nach der Freiheit des Willens und damit nach der Freiheit des Einzelnen nicht mit jener Dramatik zu stellen, mit der sie dann Augustinus formuliert hatte und mit dem Konzept eines "freien Untertanenwillens" beantwortete, welcher "aufgrund von Selbstverpflichtung Gott und seinem Stellvertreter gehorcht".
Daher ist auch das Böse nicht in jener Weise in die Vorstellungswelt Chinas getreten, wie dies im Abendland der Fall ist. Aus dieser Weltvorstellung heraus erklärt sich auch der Umstand, dass es zwar Vorstellungen von Katastrophen gegeben hat, etwa auch den Mythos einer Sintflut, dass diese Vorstellung sich aber nicht in jener Weise massenwirksam verbreitet hat, dass an sie immer wieder angeknüpft werden konnte.
Über die Natur des Menschen haben die Chinesen seit früher Zeit gestritten und spekuliert. Der Autor zitiert Xunzi:
"Die menschliche Natur ist böse, und was am Menschen gut ist, ist das Ergebnis seiner Anstrengungen. Unsere menschliche Natur ist so, dass wir von klein auf an materiellem Gewinn interessiert sind. Lässt der Mensch diesem Interesse freien Lauf, dann kommen Streit und Raub auf, und vorbei ist es mit der guten Sitte des dankenden Ablehnens und des höflichen Den-Vortritt-Lassens. Von klein auf empfindet der Mensch Neid und Abneigung."
Erstaunliches weiß Helwig Schmidt-Glintzer, übrigens seit 1993 Professor für Sinologie an der Universität Göttingen, in diesem Zusammenhang über eine sogenannte Verdienstbuchhaltung zu berichten. Dabei geht es um die trotz aller Leugnung immer lebendig gebliebene Vorstellung von bestrafenden Geistern sowie von der Anhäufung von Verdiensten.
Dafür wurde im 16.Jahrhundert eine genaue Liste erarbeitet, wie man sein eigenes Schicksal selbst in die Hand nehmen könne. Sie reichte von 100 Verdienstpunkten zum Beispiel für die Errettung eines Menschen vom Tod, der Bewahrung der Jungfräulichkeit einer Frau sowie der Verhinderung des Ertränkens eines Kindes oder einer Abtreibung über 30 Verdienstpunkte für das Aufziehen eines Waisenkindes und die Beerdigung von jemanden, der keine Nachkommen hat, bis zu einem Verdienstpunkt für die lobende Erwähnung der Güte eines Menschen. Erläutert wird auch der für China so bedeutsame Begriff "Dao":
Der Dao - Begriff erlangte eine Bedeutungsbreite wie kaum ein anderer Begriff im Chinesischen. Er kennzeichnet den Ursprung und die Ursache aller Dinge, die allen Dingen und Erscheinungen immanente Ordnung, die Gesetzmäßigkeit des Kosmos.
Erst im späteren Daoismus wurde Dao wieder zu einer Gottheit. Das Spannungsverhältnis , das heißt Eigenständigkeit und Aufeinanderzugeordnet-Sein, der als "Drei Lehren" bezeichneten religiösen Gemeinschaften Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus wird eingehend beleuchtet. Dabei wird klar, dass es zwar wirklich schon früh ein hohes Maß an Toleranz gegenüber fremden Lehren gab, dass aber auch immer wieder Rivalitäten zwischen ihnen zu teils heftigen Auseinandersetzungen führten.
Erkennbar ist ebenfalls, dass China bei der Übernahme fremder Lehren bemüht war, diese zu sinisieren, das heißt ihnen einen eigenen chinesischen Ausdruck zu verleihen. Diese Adaption lässt sich sowohl beim Buddhismus als auch beim Christentum feststellen, wobei die Jesuiten im 17.Jahrhundert von sich aus diesen Weg einschlugen, das heißt der Kirche ein chinesisches Gesicht gaben. Den Marxismus-Leninismus dagegen haben die Chinesen selbst sinisiert, wie der Maoismus zeigt. Am Beispiel des Streits um einen chinesischen Gottesbegriff sowohl in den traditionellen religiösen Ausrichtungen als auch innerhalb der christlichen Kirchen wird deutlich, wie sich dieser Konflikt durch die ganze bisherige Geschichte zieht.
Viele andere Themenfelder aus dem breiten Spektrum chinesischer Tradition und Religion werden in diesem Buch anhand unzähliger Dokumente und Zitate behandelt. Dabei geht es u.a. um Toten- und Ahnenverehrung und damit auch um Endzeit- und Jenseitsvorstellungen. Die Rolle der Familie als primärer Ort sozialen Geschehens findet ebenso Erwähnung wie die Frage nach der Vorstellung einer Seele, wobei zwischen einer Körper-Seele und einer Hauch-Seele unterschieden wird. Eng damit verbunden ist die Darstellung , was Chinesen als Glück empfanden und empfinden. Ein Bedürfnis des Volkes nach Sinn und nach Heil hat es immer gegeben. Unter Glück verstanden sie früher:
Langes Leben - Wohlstand und Reichtum - Frieden und Wohlergehen - Liebe zur Tugend - Tod nach erfülltem Leben.
Später hieß es lediglich:
Gesundheit und langes Leben, Reichtum und Ansehen - das nennt man Glück.
Zur Situation heute meint der Autor:
Tatsächlich kehren in China die Götter zurück, oder die Menschen wenden sich ihren Göttern zu –mit unabsehbaren Folgen. Nicht nur die Tibeter, auch die Han und die Hui und andere Volksgruppen in China suchen nach Sinn und ahnen, dass im Boomland China die mehr und mehr in Arm und Reich zerfallende Welt am wenigsten durch Geld zusammengehalten wird.
Und doch wissen alle, dass ihnen das Streben nach Wohlstand und Glück gemeinsam ist. Diese Suche nach Identität und Hinwendung zu den Göttern ist dabei ganz und gar nichts Neues, nur hatte sie über lange Zeit keinen oder nur wenig öffentlichen Raum gefunden.
Der Autor weist aber auch darauf hin, dass heute die Gefahr einer Entsolidarisierung der Gesellschaft besteht, weil oftmals das Glück des Einzelnen losgelöst von der Verantwortlichkeit für den anderen im Vordergrund steht. Gerade dieses Beispiel zeigt, dass Helwig Schmidt-Glintzer es versteht, ständig den Bezug zwischen chinesischer Tradition und Moderne herzustellen. Er ist dabei aktuell bis zu dem Papstbrief an die Chinesen von 2007 und die Olympischen Spiele in Peking 2008. Zwar hat schon Wolfgang Bauer in seinem Standardwerk "China und die Hoffnung auf Glück" das Thema behandelt, sodass ich zunächst voller Skepsis an die Lektüre des neuen Buches ging, doch diese erwies sich als unbegründet, weil Schmidt-Glintzer ganz anders vorgeht, neue Probleme anspricht und in ungeheurer Fleißarbeit eine fast erdrückende Menge an Material verarbeitet.
Wer sich über die Rolle der Religion in China im Laufe der Geschichte informieren und wer die heutige Situation dort verstehen will, kommt an diesem Buch nicht vorbei. Eine kritische Anmerkung zum Schluss sei erlaubt: Es wirkt störend, dass die Quellenangeben in den Text eingebaut und nicht als Fußnoten präsentiert werden.
Besprochen von Norbert Sommer
Helwig Schmidt-Glintzer: Wohlstand, Glück und langes Leben, Chinas Götter und die Ordnung im Reich der Mitte
Verlag der Weltreligionen, Frankfurt a. M. und Leipzig, 2009, 451 Seiten, 24,80 Euro
Die angebliche Religionslosigkeit Chinas wird als Wunschdenken der europäischen Aufklärung bezeichnet. Dabei sei Chinas Religion stets als anthropologisch universelles Gut akzeptiert und nicht einfach auf eine Morallehre reduziert worden. Alle Versuche von Herrschern, sich vergöttlichen zu lassen, seien erfolglos geblieben. Es gab keine theologische Auseinandersetzung über das Göttliche . Die Verbindung zu den Ahnen und Göttern gehörte zur Grundstruktur des religiösen Handelns. Es gab nicht eine Lehre und nicht einen Gott, die für alles zuständig waren.
Man könnte etwas vereinfachend die chinesische Religiosität als den Versuch beschreiben, die eigene Existenz innerhalb eines kosmischen Gleichgewichts zu sichern. Nicht anders sind all die diätetischen Praktiken, die Übungen wie das sogenannte "Schattenboxen" und andere Techniken des immer wieder aufs neue unternommenen Versuchs der Wiederherstellung einer Ordnung zu sehen.
Als eine weitere Besonderheit stellt der Autor heraus, dass in China im allgemeinen die Welt nicht als erschaffen, sondern als entstanden dargestellt wird, hervorgegangen aus einer großen Leere. Daraus folgert er:
Weil es keinen Schöpfer und daher auch keine eindeutige Bestimmung durch die Gestirne gab, war auch die Frage nach der Freiheit des Willens und damit nach der Freiheit des Einzelnen nicht mit jener Dramatik zu stellen, mit der sie dann Augustinus formuliert hatte und mit dem Konzept eines "freien Untertanenwillens" beantwortete, welcher "aufgrund von Selbstverpflichtung Gott und seinem Stellvertreter gehorcht".
Daher ist auch das Böse nicht in jener Weise in die Vorstellungswelt Chinas getreten, wie dies im Abendland der Fall ist. Aus dieser Weltvorstellung heraus erklärt sich auch der Umstand, dass es zwar Vorstellungen von Katastrophen gegeben hat, etwa auch den Mythos einer Sintflut, dass diese Vorstellung sich aber nicht in jener Weise massenwirksam verbreitet hat, dass an sie immer wieder angeknüpft werden konnte.
Über die Natur des Menschen haben die Chinesen seit früher Zeit gestritten und spekuliert. Der Autor zitiert Xunzi:
"Die menschliche Natur ist böse, und was am Menschen gut ist, ist das Ergebnis seiner Anstrengungen. Unsere menschliche Natur ist so, dass wir von klein auf an materiellem Gewinn interessiert sind. Lässt der Mensch diesem Interesse freien Lauf, dann kommen Streit und Raub auf, und vorbei ist es mit der guten Sitte des dankenden Ablehnens und des höflichen Den-Vortritt-Lassens. Von klein auf empfindet der Mensch Neid und Abneigung."
Erstaunliches weiß Helwig Schmidt-Glintzer, übrigens seit 1993 Professor für Sinologie an der Universität Göttingen, in diesem Zusammenhang über eine sogenannte Verdienstbuchhaltung zu berichten. Dabei geht es um die trotz aller Leugnung immer lebendig gebliebene Vorstellung von bestrafenden Geistern sowie von der Anhäufung von Verdiensten.
Dafür wurde im 16.Jahrhundert eine genaue Liste erarbeitet, wie man sein eigenes Schicksal selbst in die Hand nehmen könne. Sie reichte von 100 Verdienstpunkten zum Beispiel für die Errettung eines Menschen vom Tod, der Bewahrung der Jungfräulichkeit einer Frau sowie der Verhinderung des Ertränkens eines Kindes oder einer Abtreibung über 30 Verdienstpunkte für das Aufziehen eines Waisenkindes und die Beerdigung von jemanden, der keine Nachkommen hat, bis zu einem Verdienstpunkt für die lobende Erwähnung der Güte eines Menschen. Erläutert wird auch der für China so bedeutsame Begriff "Dao":
Der Dao - Begriff erlangte eine Bedeutungsbreite wie kaum ein anderer Begriff im Chinesischen. Er kennzeichnet den Ursprung und die Ursache aller Dinge, die allen Dingen und Erscheinungen immanente Ordnung, die Gesetzmäßigkeit des Kosmos.
Erst im späteren Daoismus wurde Dao wieder zu einer Gottheit. Das Spannungsverhältnis , das heißt Eigenständigkeit und Aufeinanderzugeordnet-Sein, der als "Drei Lehren" bezeichneten religiösen Gemeinschaften Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus wird eingehend beleuchtet. Dabei wird klar, dass es zwar wirklich schon früh ein hohes Maß an Toleranz gegenüber fremden Lehren gab, dass aber auch immer wieder Rivalitäten zwischen ihnen zu teils heftigen Auseinandersetzungen führten.
Erkennbar ist ebenfalls, dass China bei der Übernahme fremder Lehren bemüht war, diese zu sinisieren, das heißt ihnen einen eigenen chinesischen Ausdruck zu verleihen. Diese Adaption lässt sich sowohl beim Buddhismus als auch beim Christentum feststellen, wobei die Jesuiten im 17.Jahrhundert von sich aus diesen Weg einschlugen, das heißt der Kirche ein chinesisches Gesicht gaben. Den Marxismus-Leninismus dagegen haben die Chinesen selbst sinisiert, wie der Maoismus zeigt. Am Beispiel des Streits um einen chinesischen Gottesbegriff sowohl in den traditionellen religiösen Ausrichtungen als auch innerhalb der christlichen Kirchen wird deutlich, wie sich dieser Konflikt durch die ganze bisherige Geschichte zieht.
Viele andere Themenfelder aus dem breiten Spektrum chinesischer Tradition und Religion werden in diesem Buch anhand unzähliger Dokumente und Zitate behandelt. Dabei geht es u.a. um Toten- und Ahnenverehrung und damit auch um Endzeit- und Jenseitsvorstellungen. Die Rolle der Familie als primärer Ort sozialen Geschehens findet ebenso Erwähnung wie die Frage nach der Vorstellung einer Seele, wobei zwischen einer Körper-Seele und einer Hauch-Seele unterschieden wird. Eng damit verbunden ist die Darstellung , was Chinesen als Glück empfanden und empfinden. Ein Bedürfnis des Volkes nach Sinn und nach Heil hat es immer gegeben. Unter Glück verstanden sie früher:
Langes Leben - Wohlstand und Reichtum - Frieden und Wohlergehen - Liebe zur Tugend - Tod nach erfülltem Leben.
Später hieß es lediglich:
Gesundheit und langes Leben, Reichtum und Ansehen - das nennt man Glück.
Zur Situation heute meint der Autor:
Tatsächlich kehren in China die Götter zurück, oder die Menschen wenden sich ihren Göttern zu –mit unabsehbaren Folgen. Nicht nur die Tibeter, auch die Han und die Hui und andere Volksgruppen in China suchen nach Sinn und ahnen, dass im Boomland China die mehr und mehr in Arm und Reich zerfallende Welt am wenigsten durch Geld zusammengehalten wird.
Und doch wissen alle, dass ihnen das Streben nach Wohlstand und Glück gemeinsam ist. Diese Suche nach Identität und Hinwendung zu den Göttern ist dabei ganz und gar nichts Neues, nur hatte sie über lange Zeit keinen oder nur wenig öffentlichen Raum gefunden.
Der Autor weist aber auch darauf hin, dass heute die Gefahr einer Entsolidarisierung der Gesellschaft besteht, weil oftmals das Glück des Einzelnen losgelöst von der Verantwortlichkeit für den anderen im Vordergrund steht. Gerade dieses Beispiel zeigt, dass Helwig Schmidt-Glintzer es versteht, ständig den Bezug zwischen chinesischer Tradition und Moderne herzustellen. Er ist dabei aktuell bis zu dem Papstbrief an die Chinesen von 2007 und die Olympischen Spiele in Peking 2008. Zwar hat schon Wolfgang Bauer in seinem Standardwerk "China und die Hoffnung auf Glück" das Thema behandelt, sodass ich zunächst voller Skepsis an die Lektüre des neuen Buches ging, doch diese erwies sich als unbegründet, weil Schmidt-Glintzer ganz anders vorgeht, neue Probleme anspricht und in ungeheurer Fleißarbeit eine fast erdrückende Menge an Material verarbeitet.
Wer sich über die Rolle der Religion in China im Laufe der Geschichte informieren und wer die heutige Situation dort verstehen will, kommt an diesem Buch nicht vorbei. Eine kritische Anmerkung zum Schluss sei erlaubt: Es wirkt störend, dass die Quellenangeben in den Text eingebaut und nicht als Fußnoten präsentiert werden.
Besprochen von Norbert Sommer
Helwig Schmidt-Glintzer: Wohlstand, Glück und langes Leben, Chinas Götter und die Ordnung im Reich der Mitte
Verlag der Weltreligionen, Frankfurt a. M. und Leipzig, 2009, 451 Seiten, 24,80 Euro