"Religionsfreiheit, aber nicht ganz"

Von Susanne Güsten · 25.07.2009
Seit dem Niedergang des Osmanischen Reiches hat sich die Lage der Christen in Anatolien im letzten Jahrhundert so drastisch verschlechtert, sodass ihre Gemeinden heute vor dem Aussterben stehen. Daran hat bisher auch die gemäßigt-islamische Regierung von Ministerpräsident Erdogan nichts ändern können.
Kurdischer Wärter: "Kilisemiz bu."

Das ist also die Kirche, sagt der Kurde. Die Säulen und Bögen sind intakt, viele der verblassten Fresken noch als Heiligenbilder erkennbar. Die Kuppeln im Dach sind aber eingestürzt, das Kirchenschiff ist Regen und Schnee ausgesetzt.

Lange wird sich auch diese letzte von einst sieben Kirchen im Klosterkomplex nicht mehr halten können - zumal auch die Wände an mehreren Stellen aufgestemmt und schwer beschädigt sind. An ganz bestimmten Stellen, wie der kurdische Wärter entschuldigend erklärt:

Kurdischer Wärter: "Überall dort, wo Kreuze an den Wänden waren, haben Schatzgräber die Wände aufgebrochen. Bei unserem Volk ist das leider so: Wenn die irgendwo ein Kreuz sehen, dann denken sie, dass dahinter ein Schatz versteckt ist."

Was das christliche Kreuz bedeutet und wofür es steht, wissen heute nur noch wenige Türken. So wie das Kloster Varagavank verfallen in ganz Anatolien hunderte Kirchen, andere werden als Viehställe genutzt oder als Lagerräume. Kaum ein viertel Prozent der türkischen Bevölkerung ist heute noch christlichen Glaubens, wo es vor hundert Jahren noch jeder Vierte war.

Die Vertreibung der Armenier vor 95 Jahren und der Bevölkerungsaustausch mit Griechenland vor 85 Jahren dezimierten die christliche Bevölkerung von Anatolien um Millionen. Unter dem anhaltenden Druck der türkischen Republik auf ihre nicht-moslemischen Minderheiten sind seither auch die meisten der verbliebenen Christen abgewandert. Aus dem Vielvölkerreich der Osmanen ist eine nahezu rein moslemische Republik geworden.

So selten sind Christen in der Türkei geworden, dass sie ihren moslemischen Mitbürgern oft fremd und bedrohlich vorkommen. Der protestantische Prediger Behnan Konutgan, dessen Emanuel-Kirche im Zentrum von Istanbul zwischen drei Moscheen liegt, kennt diese Berührungsangst nur zu gut:

Behnan Konutgan: "Ich bin schon oft bei der Polizei angezeigt worden, mindestens zwanzig Mal bin ich schon abgeführt worden oder musste ich auf der Wache erscheinen. Ich bin nie verurteilt worden, weil die Richter die Gesetze kennen und mich freilassen. Aber die Bevölkerung und selbst die Polizei kennen die Gesetze eben nicht."

Von Gesetzes wegen ist die Religionsausübung zwar frei in der Türkei, doch in der Praxis müssen Christen vorsichtig sein. Für eine feindliche und anti-türkische Macht halten viele Türken den christlichen Glauben - eine verbreitete Haltung, die einheimische Christen wie Konutgan zur Verzweiflung treibt.

Konutgan ist gebürtiger Aramäer aus dem sogenannten Tur Abdin in Südostanatolien, einer der ältesten christlichen Gegenden der Welt. Dass er im eigenen Land als Außenseiter betrachtet wird, wurmt ihn:

Behnan Konutgan: "Ich bin ein Anatolier, meine Vorfahren leben seit zweitausend Jahren in Anatolien. Die Türken sind erst vor tausend Jahren gekommen. Wir waren schon hier, als die noch in Zentralasien lebten, wir hatten damals schon unsere Zivilisation hier, unsere Kirchen und Klöster. Aus dem dritten, vierten und fünften Jahrhundert stammen unsere Kirchen hier und unsere Zivilisation in Anatolien. Und nun kommen die an und sagen, Du bist kein Türke."

Weniger religiöse, als vielmehr nationalistische Wurzeln hat der türkische Argwohn gegen die christlichen Staatsbürger. Von ihrem Befreiungskrieg gegen westliche Besatzungsmächte nach dem Ersten Weltkrieg ist die türkische Nation bis heute so geprägt, dass sie in den christlichen Minderheiten noch immer die Speerspitzen westlicher Mächte sieht, die es auf die Spaltung der Türkei abgesehen haben.

Das Misstrauen gegen die Christen ist dadurch zum Bestandteil der türkischen Staatsideologie geworden. Schon als Kindern wird den Türken dieses Misstrauen eingeimpft, und zwar an den staatlichen Schulen, sagt der armenische Christ Garo Paylan, der einem Schulvorstand in Istanbul angehört:

Garo Paylan: "Diese Atmosphäre wird vor allem durch die Schulen erzeugt. Das war schon so, als ich selbst zur Schule ging, dass wir mit Marschmusik, mit nationalistischen Eiden und mit Parolen wie ‚Der Türke hat nur sich selbst zum Freund’ vollgestopft wurden. Die Mentalität ist heute immer noch dieselbe.

An den Schulen dieses Landes wird den Schülern noch immer beigebracht, dass alles außer dem Türkentum nichts taugt. Wir leben leider in einem Land, in dem alles außer dem Türkentum abgewertet und als minderwertig abgestempelt wird."

Eine Atmosphäre ist das, unter der die türkischen Christen schon lange zu leiden haben – und die doch vor zwei Jahren schlagartig noch bedrohlicher wurde. Am 19. Januar 2007 wurde der armenische Journalist Hrant Dink in Istanbul auf offener Straße von einem jugendlichen Nationalisten erschossen.

Und drei Monate später, am 18. April 2007, wurden drei Protestanten im osttürkischen Malatya bei einer Bibelstunde von fünf nationalistisch gesonnenen jungen Männern mit Dutzenden Messerstichen ermordet - darunter der türkische Pastor der kleinen Gemeinde und ein deutscher Missionar. Als nächstes Opfer hatten sich die Täter bereits den deutschen Pastoren Wolfgang Häde ausgesucht, wie sich bei den polizeilichen Ermittlungen herausstellte.

Häde war mit dem ermordeten Pastoren von Malatya verschwägert und betreut selbst eine kleine Gemeinde im westtürkischen Izmit. Die wurde von der Bluttat ebenso verunsichert wie alle christliche Gemeinden im Land, sagt Häde:

Wolfgang Häde: "Die Morde von Malatya haben vielen Christen vielleicht erstmals bewusst gemacht, wie schlimme Konsequenzen das wirklich haben kann. Dass Leute um ihres Glaubens willen in der Türkei schon immer Schwierigkeiten hatten - sei es von der Familie, sei es gesellschaftlicher Druck, sei es am Arbeitsplatz - das war bekannt und das war allen bewusst, aber dass jemand so weit gehen würde, einen so schrecklichen Mord zu begehen, das war auch für manchen Christen eine neue Entdeckung. Von daher hat es in unserer Gemeinde, und ich denke auch in anderen Gemeinden, Leute gegeben, die erstmal Angst gekriegt haben und einige, die auch nicht mehr am Gemeindeleben teilnehmen."

Wie der Mörder von Hrant Dink, so brüsteten sich auch die Mörder von Malatya, sie hätten die türkische Nation vor der Unterwanderung durch feindliche und staatszersetzende Kräfte retten wollen. Und ebenso wie im Prozess um den Mord an Dink, so kommen auch beim Prozess gegen die Mörder von Malatya nun immer mehr Hinweise ans Tageslicht, dass Angehörige der türkischen Sicherheitskräfte und Mitglieder des Staatsapparates in die Bluttaten verstrickt waren.

Seit kürzlich ein ähnliches Mordkomplott gegen einen armenischen Christen im zentralanatolischen Sivas aufgedeckt wurde, prüft die Staatsanwaltschaft auch Querverbindungen zu dem ultra-nationalistischen Verschwörerkreis Ergenekon, der die Regierung von Ministerpräsident Erdogan stürzen und die Türkei mit Gewalt auf seine Linie bringen wollte. Insofern stecke in den Prozessen vielleicht auch eine Chance, hoffen die Angehörigen des ermordeten Pastoren von Malatya:

Wolfgang Häde: "Wir erwarten und hoffen, dass möglichst viel von der Wahrheit ans Licht kommt, dass nicht nur der Anschein erweckt wird, das seien nur ein paar jugendliche Fanatiker gewesen, die das aus eigenem Antrieb gemacht hätten, sondern dass auch die Leute, die dahinter stecken, aufgedeckt werden. Und dass das vielleicht dazu beitragen kann, dass man sich grundsätzlich Gedanken macht in der türkischen Gesellschaft darüber, wie geht man mit der Religionsfreiheit um, wie denkt man über Christen."

Ausgerechnet die Sicherheitskräfte des Landes sind offenbar tief in die Christenmorde verstrickt: Offiziere und hochrangige Polizeibeamte waren zumindest vorab informiert von den Mordkomplotten, wenn sie nicht sogar selbst beteiligt waren. Die Enthüllungen lassen tief blicken, meint auch Holger Nollmann, der Pfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde in Istanbul, deren Kreuzkirche seit der Bluttat von Malatya erhöhten Polizeischutz genießt.

Holger Nollmann: "Soweit ich das beurteilen kann, sind die Verbindungen, die da offenbar werden, nicht von der Hand zu weisen. Es gibt sicher keine Veranlassung zu sagen, es sind irgendwelche singulären Randgruppen. Und auch von Einzelfällen und Einzeltaten kann man sicher nicht sprechen. Insofern bin ich sehr froh, dass wir eine Kontinuität in den Kontaktbeamten haben. Mein Vertrauen in die türkische Polizei insgesamt und die türkischen Sicherheitsbehörden insgesamt ist natürlich durch diese Erkenntnisse über die Verbindungen nicht ganz so stabil. Die Beamten, die ich kenne, sind aber besorgt um unsere Sicherheit."

Eine Sicherheitskamera überwacht den Eingang der Kreuzkirche in der Innenstadt von Istanbul, aus Sicherheitsgründen bleiben die Türen während des Gottesdienstes geschlossen - wer zu spät kommt, muss draußen bleiben. Pfarrer Nollmann betreut nicht nur die deutsche Auslandsgemeinde in der Kreuzkirche, er ist auch Vertreter der Evangelischen Kirche Deutschlands bei den Patriarchaten der orthodoxen Kirchen in der Türkei. Die Stimmung ist auch bei diesen Kirchen verzweifelt, sagt er – nicht zuletzt aus enttäuschter Hoffnung in die gemäßigt-islamische Regierung von Ministerpräsident Erdogan.

Holger Nollmann: "Die christlichen Minderheiten in der Türkei befinden sich in einer miserablen rechtlichen Situation. Als die AKP vor sechs, sieben Jahren an die Regierung kam, haben die führenden Persönlichkeiten dieser Partei sofort bekannt gegeben, dass sie gerne diese rechtliche Situation der christlichen Minderheiten verbessern wollen. Und es gab in den Jahren 2003 und 2004 auch erste Ansätze in diese Richtung, sodass es zu einer fast euphorischen Stimmung bei den christlichen Minderheiten kam, endlich zu den Rechten zu kommen, auf die man schon so viele Jahrezehnte wartete. Diese Stimmung sackte dann im Jahr 2005 etwa ziemlich durch, als sichtbar wurde, dass das doch nicht so geht, wie man sich das erhofft hatte, zumindest nicht so schnell geht. Und die Stimmung ist dann auf ein Maß zurückgegangen, das vielleicht noch schlechter war als vorher, weil eben es aus einer Euphorie herauskam. Es ist eine Lage, die man etwas beschönigend Ernüchterung nennt, wenn sie nicht hier und da sogar resignative Züge trägt."

Rechtlich gesehen gibt es die christlichen Kirchen in der Türkei überhaupt nicht – das Gesetz billigt ihnen keine Rechtspersönlichkeit zu. Dadurch sind die Kirchen rechtlich handlungsunfähig – sie dürfen sich nicht selbst verwalten, kein Eigentum besitzen und keine Geistlichen ausbilden. Hunderte christliche Krankenhäuser, Waisenhäuser und Schulen sind in den letzten Jahrzehnten vom Staat beschlagnahmt und enteignet worden. Trotz mehrerer Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes wurden sie bisher nicht zurückerstattet.

Nicht einmal ihre Patriarchen und Synoden dürfen die Kirchen ohne die Intervention des türkischen Staates bestimmen. Der Klerus des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel steht vor dem Aussterben, weil sein Priesterseminar auf der Insel Halki vor Istanbul keinen Nachwuchs ausbilden darf. Dositheos Anagnostopoulos, der Sprecher des Ökumenischen Patriarchats, bringt das Problem der Kirchen auf den Punkt:

Dositheos Anagnostopoulos: "Wenn es eine Institution nicht als Institution gibt, dann gibt es sie überhaupt nicht. Wenn es sie nicht gibt, dann kann diese Institution weder jemanden einstellen noch Vermögen verwalten noch Vermögen besitzen und das wichtigste: Die gehen davon aus, dass die Halki-Schule nicht geöffnet werden kann, weil es das Patriarchat als juristische Existenz gar nicht gibt."

Die Stimmung an dem 1700 Jahre alten Patriarchat ist entsprechend gedrückt. Einzig und allein im Streit um den Titel des Patriarchen gebe es etwas Bewegung, berichtet Anagnostopoulos - denn selbst den machte der türkische Staat der Kirche bisher streitig.

Dositheos Anagnostopoulos: "Ich berichte sehr gerne über positive Dinge, aber leider gibt es die nicht. Es gibt nur folgende gute Entwicklung und zwar: Im Januar 2008 hat das erste Mal ein türkischer Premier im Parlament cora publikum das Patriarchat als ‚Ökumenisches Patriarchat’ bezeichnet. Er hat das Wort benutzt und dazu gesagt, das ist eine Angelegenheit der Kirche und geht uns nichts an. Punkt. Das ist für uns sehr wichtig, denn wir haben nie von der Türkei verlangt, dass sie uns als Ökumenisches Patriarchat anerkennt; wir haben nur darum gebeten, dass wir diesen Titel, der 1700 Jahre alt ist, benutzen dürfen, ohne dass es Probleme gibt.

Dieser letzte Punkt ist noch nicht verwirklicht, das heißt niemand hat uns gesagt, ihr könnt diesen Titel benutzen. Aber zumindest hat ein Ministerpräsident davon gesprochen, und das ist etwas Positives. Darüberhinaus gibt es aber keine Veränderung im juristischen Status des Patriarchats. Nach wie vor existieren wir juristisch nicht."

Woran liegt es aber, dass die Regierung ihre Ankündigungen nicht wahr gemacht hat, dass die Reformen für die christlichen Minderheiten versandet und stecken geblieben sind? An der AKP-Regierung liegt es nicht, meint der Beobachter Nollmann:

Holger Nollmann: "Ganz nüchtern analysiert liegt es daran, dass in diesen Jahren viele weitergehende Verbesserungen der rechtlichen Situation von der Opposition verhindert und behindert worden sind. Zum Beispiel ein schon lange angekündigtes und erwartetes neues Stiftungsgesetz, das zu einer Verbesserung dieser Situation führen dürfte, ist endlich nach vielen Jahren durchs Parlament, aber die Oppositionsparteien haben Verfassungsbeschwerde eingelegt, und wir müssen abwarten, wie das Verfassungsgericht entscheidet.

Es gibt sicher einiges zu beklagen, was die Reformfreudigkeit der Regierung angeht, aber zumindest mit Blick auf die Rechte religiöser Minderheiten ist von den Oppositionsparteien deutlich weniger zu erwarten als von der jetzigen Regierungspartei."

Viel Zeit bleibt nicht mehr, wenn die Reformen auch etwas nützen sollen. Die meisten Metropoliten des Ökumenischen Patriarchats sind schon über 70 Jahre alt, den armenischen Kirchen und der syrisch-orthodoxen Kirche geht es nicht viel besser. Zur Religionsfreiheit gehört eben mehr als ein Satz in der Verfassung, wie Dositheos Anagnostopoulos vom Ökumenischen Patriarchat sagt:

Dositheos Anagnostopoulos: "Wir haben eine Liturgiefreiheit. Das ist Religionsfreiheit, aber nicht ganz. Weil wenn eine Kirche nicht funktionstüchtig ist, nicht funktionieren kann, aber die Menschen beten gehen können, dann ist zwar die Kirche auf, aber sie funktioniert nicht. Die Kirche, wenn sie keinen Nachwuchs hat, wenn der türkische Staat ausländische Priester nicht in der Türkei arbeiten lässt, dann sehe ich die Zukunft sehr nebulös - um nicht schwarz zu sagen."