Michael Blume: Warum der Antisemitismus uns alle bedroht. Wie neue Medien alte Verschwörungsmythen befeuern
Patmos Verlag, Ostfildern 2019
208 Seiten, 19 Euro
Antisemitismus steckt in allen Verschwörungsmythen
15:51 Minuten
Negative Stereotype gegen Juden erwähnt die Bibel schon bei Moses‘ Gegenspieler, dem Pharao. Der Religionswissenschaftler Michael Blume erklärt, woher dieser Hass kommt. Und er sagt: Antisemitismus bedroht die gesamte Gesellschaft.
Anne Françoise Weber: Antisemitismus, so meinen viele, sei doch vor allem ein Problem für Jüdinnen und Juden – schließlich handele es sich ja um den Hass gegen ihre Religionsgemeinschaft, die sich schlimmstenfalls in Gewalt gegen jüdische Menschen oder Einrichtungen äußert. Aber das stimmt nicht. Antisemitismus geht uns alle an, weil er ein menschenverachtendes Denkmuster ist, das ganz vielen Verschwörungsmythen auch zugrunde liegt.
Darüber hat der Religionswissenschaftler Michael Blume ein Buch geschrieben. Es heißt "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht", und Blume weiß genau, worüber er schreibt – schließlich ist er seit einem Jahr der Antisemitismusbeauftragte der Landesregierung von Baden-Württemberg.
Das Christentum wendet sich gegen die eigenen Wurzeln
Herr Blume, heute beginnt für die westliche Christenheit mit dem Palmsonntag ja die Karwoche. Da geht es um Jesu Leiden und schließlich seinen Tod am Kreuz. Jahrhundertelang zumindest war da ganz klar: die Juden waren pauschal die Christusmörder. Heutzutage ist man da etwas vorsichtiger. Aber trotzdem: Ist dieser christliche Antijudaismus eine Vorstufe des rassistischen Antisemitismus?
Michael Blume: Ja, also der Antisemitismus hat ganz, ganz alte Wurzeln, schon in der Antike. Wir haben schon den ägyptischen Pharao oder den Ahasveros im Buch Esther, da wird das schon beschrieben, wie Antisemitismus funktioniert. Im Christentum und dann auch im Islam - das sind ja Religionen, die entstanden sind aus jüdischen, aus semitischen Wurzeln - und in beiden Fällen haben wir dann Auslegungen, die sich ganz massiv gegen das Judentum wenden. Da wird zum Beispiel im Christentum dann verdrängt, dass Jesus, seine Jünger, seine Mutter und seine ganze Umgebung selbstverständlich Jüdinnen und Juden waren, sondern da wird dann gesagt, die Juden haben den Sohn Gottes ermordet, und dann dreht sich gewissermaßen die Religion gegen die eigenen Wurzeln.
Noahs Sohn Sem: eine Gründungsfigur der Schriftkultur
Weber: Also Sie setzen sozusagen die Wurzeln des Antisemitismus mit dem Beginn des Judentums eigentlich an, und Sie schauen ja auch, warum es überhaupt diesen Hass auf Juden und Jüdinnen gibt. Da ist für Sie ganz entscheidend die Erfindung der alphabetischen hebräischen Schrift. Warum denn, was ist da der Zusammenhang?
Blume: Es ist wirklich erstaunlich, dass immer noch ganz viele Menschen glauben, Semiten wären eine Rasse. Dann kriege ich dann so einen Quatsch zu hören, dass Menschen sagen, die Araber könnten keine Antisemiten sein, weil sie ja selber Semiten wären und so weiter. Tatsächlich ist Sem ein mythologischer Vorfahre. Es ist ein Vorfahre von Abraham, und in der jüdischen Tradition, im Talmud und so weiter, wird auch genau gesagt, warum dieser Sohn Noahs so besonders ist: Er ist der erste, der ein Lehrhaus gründete. Er ist der erste, der in Alphabetschrift Religion und Recht lehrte, und zwar an alle Menschen, die bei ihm lernen wollten.
Das Ideal einer Schriftkultur, in der jeder Mensch, jede Frau, jeder Mann, in der alle Menschen lesen und schreiben können sollen, das entsteht da auch, in der auch Recht verschriftet wird, und zwar in Alphabetschrift zugänglich allen Menschen. Dagegen wendet sich der Antisemitismus immer wieder. Deswegen greift der immer auch das Judentum an, aber niemals nur, sondern zum Beispiel auch die Medien – Lügenpresse, die Demokratie, den Rechtsstaat. Antisemiten glauben, dass eigentlich die gesamte Welt durch eine böse Verschwörung bestimmt wird, und da stecken Juden und Nichtjuden dahinter. Juden und Freimaurer sagte man früher, heute sagt man Zionisten und Illuminaten, und das ist immer wieder der gleiche Hass.
Die hebräische Schrift schafft ein Alphabet für alle
Weber: Aber nun ist ja nicht die hebräische Schrift die allererste Schrift überhaupt. Es gibt Hieroglyphen davor, es gibt die Keilschrift davor. Warum ist diese Alphabetschrift so entscheidend für Sie?
Blume: Das Faszinierende ist eben, dass Alphabetschriften mit bis zu 30 Buchstaben, das war sozusagen der Durchbruch, um zu sagen, alle sollen diese Schriften lernen können. Also wenn Sie sich vorstellen, Hieroglyphen, Keilschriften, auch chinesische Schriftzeichen, das sind dann oft hunderte, tausende Schriftzeichen gewesen, und das hat sehr lange gedauert, bis überhaupt größere Teile der Bevölkerung dazu Zugang gefunden haben. Jetzt entstehen Schriftsysteme, die allen zugänglich sind.
All unsere Menschenrechtserklärungen, unser Grundgesetz, all unsere Texte, die ganze Kultur, die Wissenschaft wäre nicht in der gleichen Weise möglich gewesen, wäre nicht diese geniale Erfindung einer einfachen Schrift entstanden, und die hat natürlich die gesamte Kultur erst ermöglicht. Das geht dann bis zu den Nationalsozialisten, zum Beispiel Hitler, der dann die "Tintenritter" verhöhnt und sagt, Schrift sei ein schlechtes Medium, und das eigentliche sei die politische Rede. Er hat dann zum Beispiel Radio und Film genutzt, die damaligen neuen Medien, um die Schriftkultur anzugreifen und Demokraten, Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti und andere anzugreifen und zu vernichten.
Schriften ohne Vokale und Religionen ohne Bilder
Weber: Jetzt ist aber ja die hebräische Schrift eine andere als die Schriften, auf die wir uns hier heutzutage beziehen. Es ist nämlich eine nichtvokalisierte Schrift, die von rechts nach links geschrieben wird, so wie das Arabische auch. Da sehen Sie dann irgendwie noch mal eine besondere Beziehung zwischen Schrift und Inhalt?
Blume: Ja, meine Doktorarbeit war ja über Religion und Hirnforschung, und ich bin immer wieder traurig, dass es noch nicht richtig gelingt, die spannenden Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften auch in die Geistes- und Kulturwissenschaften zu übertragen, denn tatsächlich ist es so, es macht einen riesigen Unterschied, ob wir ein vokalisiertes Alphabet lesen oder ein nichtvokalisiertes Alphabet oder vokalarmes Alphabet. Hebräisch und Arabisch werden von rechts nach links gelesen. Die Vokale werden eingefügt beim Denken. Das erzeugt einen intensiven Flow, die Leute wollen dann auch keine Bilder dabei haben, keine Musik dabei haben. Deswegen entstehen schriftlose Religionskulturen sehr intensiv.
Weber: Moment, Sie haben gesagt: schriftlose Religionskulturen. Das muss bildlose Religionskulturen heißen, oder?
Blume: Bildlose Religionskulturen – wunderbar, vielen Dank! Genau so ist es. Dann in den vokalisierten Alphabeten, also Griechisch, Latein und so weiter, als man dann die Bibel auch übersetzt, dann entsteht natürlich eine ganz andere Kultur. Die vokalisierten Schriften lassen sich sehr schnell lesen, von links nach rechts, aber sie müssen ergänzt werden durch Bilder, durch Musik. Es entsteht das Christentum zum Beispiel als Religion mit einer ganz anderen Theologie. Wenn man das versteht, dass Schrift nicht einfach Schrift ist, sondern dass Medien unser gesamtes Leben formen und durchdringen, dann versteht man die menschliche Geschichte, auch die Geistesgeschichte sehr viel besser.
Gute oder böse Mächte: Wer regiert die Welt?
Weber: Es wäre jetzt aber falsch, zu sagen, nur weil Arabisch auch von rechts nach links geschrieben wird, es da irgendwie eine Nähe gibt… Also das wäre dann sozusagen die Argumentation, Araber sind Semiten und können keine Antisemiten sein. Auch von der Schrift her funktioniert das nicht. Schon im Koran gibt es antisemitische Stereotype, und bis heute finden wir in der arabischen Welt viele antisemitische Gedanken oder Mythen verbreitet. Worauf ist denn das zurückzuführen? Liegt das an der, wie viele sagen, heutigen Konstellation mit Israel und so weiter, oder ist das eine Anlage auch in der islamischen Religion? Wie erklären Sie das?
Blume: Ja, das ist natürlich der gleiche Effekt. Ob jemand semitisch oder antisemitisch drauf ist, hat nichts mit Herkunft, Religionszugehörigkeit oder sogar Genetik zu tun, sondern da geht es im Kern um die Frage: Glaube ich, dass diese Welt von guten Mächten regiert wird - die semitische Einstellung, der Regenbogen als Zeichen von Gott, der eine Welt sozusagen sichert, der sagt, es wird nie wieder eine Sintflut kommen, als eine Zusage des Vertrauens - oder glaube ich, dass böse Mächte, dass Verschwörer diese Welt regieren? Das ist der große Bruchpunkt.
Antisemitismus nutzt immer die jeweils neuen Medien
Und wir haben immer wieder ein Aufbrechen des Antisemitismus, wenn neue Medien hinzugetreten sind. Der Buchdruck in Europa, da haben wir den Hexenhammer, die Hexenverfolgung, Frauen wird vorgeworfen, den Hexensabbat begangen zu haben. Wir haben bei Luther nicht nur die Luther-Bibel, sondern auch "Wider die Juden und ihre Lügen". Wir haben das Täuferreich von Münster, den Dreißigjährigen Krieg. In der islamischen Welt wird der Buchdruck arabischer Lettern verboten, und die islamische Kultur, die bis dahin sehr weit entwickelt war, weiter zum Teil als in Europa, bleibt stehen, und bis heute ist dieser riesige Bildungsabstand nicht mehr aufgeholt worden.
Im 20. Jahrhundert haben wir die elektronischen Medien, Radio und Film, und die Nazis und die Rassisten nutzen genau das, um wiederum die liberalen Demokratien anzugreifen, zu vernichten und das NS-Regime in Deutschland zu errichten. Jetzt haben wir die digitalen Medien, und wieder: auf der einen Seite positive, großartige Effekte. Ich liebe das Internet, ich bin praktisch überall dort auch zu finden, aber auf der anderen Seite: auch wieder Hass, Verschwörungsmythen, germanische neue Medizin. Das macht den Antisemitismus so gefährlich. Er nutzt immer wieder die neuen Medien, um die bestehende Ordnung anzugreifen und um Juden und Nichtjuden einer Verschwörung zu bezichtigen.
Den Semitismus als positiven Mythos entgegensetzen
Weber: Interessanterweise habe ich den Eindruck, dass Sie im Grunde nicht auf Aufklärung setzen, um dem Antisemitismus entgegenzutreten, sondern dass Sie den Semitismus als positiven Mythos da stark machen. Das finde ich erstaunlich, dass Sie in diesen rationalen und digitalen Zeiten da im Grunde genommen einen positiven Mythos kreieren und nicht sagen: Wir müssen einfach vor allem erklären, dass Antisemitismus und diese ganzen Verschwörungsmythen nichts mit der Realität zu tun haben.
Blume: Ja, es ist tatsächlich zu einfach, zu sagen, na ja, dann sollen die Leute halt gar nichts mehr glauben. Das ist auch eine beliebte Variante, zum Beispiel im linken Antisemitismus, dass man sagt, Juden sollen einfach aufhören, Juden zu sein, und dann gibt es auch keinen Antisemitismus mehr. Das ist tatsächlich zu einfach. Also auch die Aufklärer Voltaire, Schopenhauer, selbst Kant - wenn man sich da anschaut, was dort teilweise über Juden, über Menschen dunkler Hautfarbe, über Frauen geschrieben wurde, dann ist die Aufklärung nicht einfach eine aufwärtsgerichtete Entwicklung, und alles wird gut, sondern sie hat auch dort eine dunkle Unterseite, wo man dann zum Beispiel sagt: Ja, die Juden haben mit der Religion angefangen, und das war von Anfang an alles nur Betrug. Das haben wir selbst im sogenannten neuen Atheismus Anfang des 20. Jahrhunderts wieder ganz, ganz stark.
Antisemiten behaupten stets, aus Notwehr zu handeln
Also das heißt, wir können es uns nicht so einfach machen. Menschen brauchen wissenschaftliche Theorien – ich bin selber Wissenschaftler, ich liebe sie, und gerade auch die Evolutionstheorie –, wir brauchen aber auch Mythen, die unserem Leben Sinn geben, die sagen, es gibt Menschenrechte, es gibt Liebe, es gibt Vernunft. Letztlich kommt es darauf an zu unterscheiden, welche Theorien sind gut oder schlecht und auch, welche Mythen sind gut oder schlecht. Das macht einen riesigen Unterschied, ob ich an eine Welt glaube, in der es insgesamt mit rechten Dingen zugeht oder ob ich an eine Welt glaube, die von finsteren Verschwörern beherrscht wird.
Das ist das Gefährliche am Antisemitismus, dieser Hass, dieses Misstrauen, das hört niemals auf. Das beginnt bei Jüdinnen und Juden, greift dann über auf Ärzte, Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen, Politikerinnen. Das heißt, wenn man einmal in diesem Verschwörungsdenken drinnen ist, dann verallgemeinert sich das und wird wirklich zu einer Absage an andere Menschen und teilweise sogar zur Gewalt. Antisemiten behaupten immer, sie handeln aus Notwehr, sie würden sich doch nur verteidigen gegen die böse Verschwörung, zum Beispiel, dass Juden den Orient zerstören und Muslime nach Europa schleusen. Das ist gerade so ein ganz häufiges antisemitisches Motiv, die sogenannte Umvolkung – sehr gefährlich.
Auch die Jesiden sind Opfer des Antisemitismus
Weber: Sie haben jetzt schon eben von den Verschwörungsmythen gesprochen, die vom Antisemitismus ausgehen können. Er kann sich auch gegen andere Religionsgemeinschaften wenden. Ein Beispiel wären eben die Angriffe gegen die Jesiden durch die Terrororganisation Islamischer Staat. Die Jesiden haben nichts mit dem Judentum zu tun, trotzdem sehen Sie da auch eine Wurzel im Antisemitismus. Warum?
Blume: Ja, so richtig ist mir das selber im Irak bewusst geworden. Ich meine, im Irak gibt es gar kein jüdisches Leben mehr. Die 140.000 Jüdinnen und Juden wurden nach der Staatsgründung Israels vertrieben, die letzten noch unter Saddam Hussein. Als ich im Irak war, ich habe dort ein humanitäres Projekt geleitet, unter anderem haben wir die Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murat evakuieren können, die heute ja auch sehr aktiv ist und die auch Israel besucht hat.
Weber: Und die selbst Jesidin ist.
Blume: Dort ist mir dieser Hass begegnet, weil sich im Irak die Leute jetzt gegenseitig vorwerfen, Teil der jüdischen Weltverschwörung zu sein. Der Antisemitismus ist nicht verschwunden, sondern weiter eskaliert. Dann sagen Leute zum Beispiel, der Erdogan, das ist doch ein Jude, den haben die Juden eingesetzt, um die Türkei zu zerstören. Gruppen wie die Jesiden wurden beschuldigt, sie seien angeblich der Verschwörung des Teufels und der Juden, und damit wurde ihre Vernichtung gerechtfertigt.
Es geht um Freiheit und Menschenrechte für alle
Das heißt tatsächlich, der Antisemitismus, dieser wahnsinnige Glaube an die Weltherrschaft des Bösen, eskaliert sogar dann und gerade auch dann, wenn es überhaupt gar keine Jüdinnen und Juden mehr gibt, weil die Leute dann anfangen, anderen das zuzuschreiben. Das haben wir zum Teil in der Reichsbürgerszene in Deutschland auch, dass dann die Leute sagen, die Angela Merkel wäre ja eine heimliche Jüdin und sich quasi dann, wenn sie gar nicht mit Juden zu tun haben, sich Juden erfinden und da quasi dann auch noch den Hass drauf projizieren.
Deswegen sage ich ganz klar, bekämpfen wir den Antisemitismus nicht nur den jüdischen Gemeinden zuliebe – das natürlich auch –, sondern wir müssen den Antisemitismus bekämpfen für Freiheit und Menschenrechte insgesamt, für den Schutz der Minderheiten insgesamt. Wer das nicht versteht, dem empfehle ich, einmal zu schauen, was die Nazis mit den Sinti und Roma gemacht haben. Das waren überwiegend Christen, und die Nazis haben Menschen teilweise noch in der Wehrmachtsuniform in die Konzentrationslager geführt, nur aufgrund ihrer Herkunft. Also Antisemitismus und Rassismus in der Kombination ist das Gefährlichste, was wir auf der Welt haben.
Auch James-Bond-Filme verwenden antisemitische Stereotype
Weber: Es wäre ja jetzt auch zu einfach, zu sagen: Na, das sind entweder die Nazis oder die durchgeknallten Terroristen, Islamisten, die so denken, sondern Antisemitismus zieht sich im Grunde auch durch unsere ganze Massenkultur. Sie finden da auch Elemente in James-Bond-Filmen oder bei "Star Wars". Das macht es ja aber umso schwieriger. Wir werden ja jetzt nicht alle anfangen, keinen James Bond mehr zu gucken. Wie kann man gegen Antisemitismus in unserer eigenen Massenkultur vorgehen?
Blume: James Bond ist natürlich ein schönes Beispiel. Es ist ja sozusagen eine Verschwörungserzählung, in der gewählte Politiker eigentlich gar nichts zu sagen haben, sondern das sind immer finstere Masterminds, gegen die dann James Bond mit der Lizenz zum Töten antritt. Ich liebe James Bond, aber ich muss auch sagen: Liebe Leute, passt auf, was mit uns auch passiert. Goldfinger, der beliebteste Oberschurke, ist tatsächlich nach einem jüdischen Architekten benannt worden und wird auch vorgestellt als ein Jude, der quasi geldgierig ist, der seine Ex-Geliebten mit Gold überzieht, weil er nicht lieben kann. Das sind ganz massive antisemitische Stereotype, die damals auch einfach bedient wurden. Elliot Carver zum Beispiel, der Medienmogul, der fast den Weltkrieg auslöst, das sind natürlich Verschwörungsmotive.
Mein Plädoyer ist: Niemand muss sich dem Reiz von Verschwörungsmythen verschließen, aber wir müssen verstehen, was ist Fiktion und was ist Realität und aufpassen, dass wir nicht bewusst oder unbewusst manipuliert werden. Rassistische und antisemitische Mythen und Stereotype haben wir alle aufgenommen, und die Frage ist einfach, wie gehen wir damit um. Überwinden wir das, können wir damit rational umgehen, oder brodelt das in uns, und wenn wir dann eine Lebenskrise haben, und wir suchen nach Schuldigen, kann man uns dann einreden, die waren es.
Antisemitismus steckt tief in der Populärkultur
Weber: Ganz kurz zum Schluss: Vor ziemlich genau einem Jahr am 12. April haben die Rapper Kollegah und Farid Bang den Echo-Preis für ein Album erhalten, in dem, na ja, vorsichtig gesagt, antisemitisch anmutende Liedzeilen drin waren. Es gab Riesenproteste, und schließlich wurde der ganze Preis abgeschafft. Da kann man doch eigentlich sagen: Ja, die Zivilgesellschaft wacht, also es werden wirklich Riegel vorgeschoben, oder?
Blume: Klares Jein. Ich habe in einem Seminar damals schon mit Religionswissenschaftlern den Song "Apokalypse" analysiert. 13 Minuten wurde dort gesungen über jüdisch-illuminatische Blutlinien, die angeblich seit den Zeiten Babylons die Welt beherrschen. Jetzt ist das Video runtergenommen. Das hatte zig Millionen Abrufe bis dahin und ist tief in die Jugendkultur eingedrungen. An jeder Schule, wo ich mit Schülerinnen und Schülern spreche, kennen die Kids Kollegah. Also, man ist dann aufgewacht durch die Echo-Preisverleihung, aber es war zu spät. Aus der Mitte der Gesellschaft heraus haben wir Antisemitismus wieder tief in der Populärkultur und in Songs und insbesondere auch auf YouTube.
Weber: Also es gilt, wachsam zu sein. Vielen Dank, Michael Blume, Religionswissenschaftler und Antisemitismusbeauftragter in Baden-Württemberg.
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