Wie wir uns im Leben nicht länger verkehrt fühlen
Hartnäckig unterstreicht der Schweizer Kinderarzt Remo Largo in seinem neuen Buch "Das passende Leben" die Individualität von Menschen – und warnt: Eine Gesellschaft, die auf Normierung drängt, produziert systematisch über- und unterforderte Individuen.
Anonyme Massengesellschaft – wohl kein Ausdruck fällt häufer in dem neuen Buch von Remo Largo "Das passende Leben". Aus gutem Grund: In der Realität der modernen Welt hat die Mehrzahl der Menschen große Mühe, sich mit eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten sicher und gut aufgehoben zu fühlen.
Solch ein "Misfit", wie Largo es nennt, solch eine Passungslücke zwischen Umwelt und Organismus kann nur in seelischem und körperlichem Leiden münden. Darum macht sich der Schweizer Kinderarzt nun auf den Weg, dem Menschen sich selbst zu erklären: Wer sind wir und was brauchen wir, um das passende Leben führen zu können?
Ausführlich steigt das Buch in die Evolution ein, beleuchtet das komplexe Zusammenspiel von Anlage und Umwelt, zeichnet die Entwicklung des einzelnen Menschen nach, von seiner Reifung in der Embryonalzeit bis zu den nachhaltigen Einflüssen durch Familie, Schule und Freundeskreis.
Mücke, Maus und Gänseblümchen
Nicht alles, was Largo berichtet, hat echten Neuigkeitswert, und Aha-Erlebnisse werden sich für gut informierte Leserinnen und Leser selten einstellen. Dennoch hinterlässt die Hartnäckigkeit, mit der Largo die Bedeutung der Individualität unterstreicht, mit jeder Seite mehr Eindruck.
Entwicklungsphasen, Grundbedürfnisse, Sehnsüchte und Fähigkeiten von Menschen lassen sich nicht über einen Leisten schlagen, zeigt der Autor anhand vieler wissenschaftlicher Studien und seiner therapeutischen Erfahrung. Eine Gesellschaft, die auf Normierung drängt – ob in der Schule, in der Werbung, in der Familie oder am Arbeitsplatz – produziert systematisch über- und unterforderte Individuen, die sich verkehrt fühlen müssen in ihrem Leben.
Dem setzt der Autor sein "Fit-Prinzip" entgegen – eine etwas unglückliche Wortwahl, denkt man dabei doch unwillkürlich an körperliche Ertüchtigung. Doch möchte Remo Largo an Charles Darwin und sein "survival of the fittest" anschließen, das mit dem "Überleben des Stärksten" ja lange fehlübersetzt wurde. Um die beste Anpassung eines Organismus an seine Umwelt ging es Darwin – und die kann auch einem kleinen schwachen Lebewesen bestens gelingen, wie Mücke, Maus und Gänseblümchen zeigen.
Was uns wirklich wichtig ist
Was bedeutet das "Fit-Prinzip" konkret und wie kann es im Alltag helfen? Im letzten Drittel präsentiert das Buch ausführliche Listen an Fragen, die helfen können, sich und Menschen, die einem nahestehen, zu ergründen, wenn es zu einem leidvollen "Misfit" im Leben gekommen ist.
Mit welchen Grundbedürfnissen haben uns Natur und Kindheit ausgestattet? Suchen wir eher Geborgenheit oder Unabhängigkeit? Welches Set an Kompetenzen und Fähigkeiten schlummert in uns? Welche Ideale, Ideen und Vorstellungen sind uns wichtig?
In diesen und vielen weiteren Dimensionen können sich Menschen erheblich unterscheiden und darauf gilt es einzugehen, schreibt Remo Largo seinen Leserinnen und Lesern, aber auch der Gesellschaft insgesamt ins Stammbuch. Denn, wie es am Ende dieses leidenschaftlich argumentierenden Buches heißt: "Ein passendes Leben zu führen, ist ein Menschenrecht."