Remo Largo: "Zusammen leben. Das Fit-Prinzip für Gemeinschaft, Gesellschaft und Natur"
S. Fischer Verlag 2020
208 Seiten, 17 Euro
Gegen die Vereinzelung
07:20 Minuten
Bisher ist der Kinderarzt Remo Largo mit Büchern zum Thema Kinder bekannt geworden. Sein neues Buch handelt aber vor allen Dingen von Alten und deren Bedürfnissen. Um der Einsamkeit zu entkommen, empfiehlt Largo ihnen ein Leben in Gemeinschaften.
Stephan Karkowsky: Von Kinderarzt zum Bestsellerautor, das ist die Geschichte des Schweizers Remo Largo – der Arzt, dem die Schweizer vertrauen, weil er ihnen erklärt, wie ihre Kinder funktionieren, welche Bedürfnisse sie haben und vor allen Dingen, in welchen Phasen ihrer Kindheit sie welche Art von Zuwendung brauchen.
Sein neues Buch geht weit darüber hinaus. Es trägt den Titel "Zusammen leben. Das Fit-Prinzip für Gemeinschaft", und es konzentriert sich auf die Grundbedürfnisse aller Menschen, auch der Erwachsenen. Guten Morgen, Herr Largo!
Remo Largo: Guten Morgen!
Karkowsky: Herr Largo, was war Ihnen wichtig, welche Botschaft wollten Sie mit diesem Buch in die Welt senden?
Largo: Es ist ja so, dass wenn man mit Kindern und später auch mit Erwachsenen zu tun hat, dann sollte man ja eigentlich verstehen, einerseits was sie mitbringen an Bedürfnissen, Fähigkeiten und so weiter. Aber genauso wichtig ist natürlich auch die Umwelt, ob die Umwelt es überhaupt den Menschen ermöglicht, ihre Bedürfnisse zu befriedigen beziehungsweise ihre Fähigkeiten zu entwickeln und anzuwenden.
Geborgenheit, Anerkennung, Entfaltung
Karkowsky: Bei den Grundbedürfnissen, die ein wichtiger Teil Ihres Fit-Prinzips darstellen, welche sind es denn genau, die da die Basis bilden?
Largo: Ich hab das ursprünglich bei den Kindern gelernt, es sind sechs. Es gibt körperliche Bedürfnisse – Ernährung, Gesundheit –, und dann gibt es zwei ganz wichtige, nicht nur für die Kinder, das ist das Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und das Gefühl, sozial anerkannt zu werden.
Und dann haben wir auch ein Bedürfnis, unsere Fähigkeiten zu entfalten, also die Selbstentfaltung, und sie anzuwenden, diese Fähigkeiten und Fertigkeiten – das wäre dann die Leistung. Wir haben ein Bedürfnis, Leistung zu erbringen, nicht nur für den Lebensunterhalt, sondern als Befriedigung, dass man etwas zur Gemeinschaft beiträgt. Und schließlich noch die existenzielle Sicherheit.
Karkowsky: Warum nennen Sie das "Das Fit-Prinzip für Gemeinschaft"?
Largo: Diese sechs Grundbedürfnisse, die kann man eigentlich nur befriedigen, wenn man in einer Gemeinschaft lebt, das heißt mit vertrauten Menschen. Deshalb ist Gemeinschaft etwas so Wichtiges, und leider ist es in unserer Zeit weitgehend verloren gegangen. Wir leben in einer anonymen Massengesellschaft.
Alleine leben beeinträchtigt das Wohlbefinden
Karkowsky: Jeder zweite Berliner lebt in einem Singlehaushalt, zum Beispiel, das gilt für ganz viele Menschen in Deutschland, vermutlich auch in der Schweiz. Können diese Menschen dann dieses Gemeinschaftsgefühl niemals leben und Ihr Fit-Prinzip nicht ausprobieren?
Largo: Es macht vielen Menschen Mühe, es ist nicht ohne Weiteres einsichtig, dass Alleineleben auf die Dauer das Wohlbefinden beeinträchtigt. Das betrifft alle Kinder, die Erwachsenen etwas weniger, und dann aber vor allem auch wieder die älteren Menschen.
Wir haben immer mehr ältere Menschen, die vereinsamen, die die Geborgenheit und die Zuwendung nicht erhalten, der sie eigentlich bedürften. Das erscheint mir ein ganz großes Problem zu sein in unserer Gesellschaft, weil wir natürlich 10, 20, 30 und allenfalls noch mehr Jahre in Ruhestand leben und dann eben sehr häufig die Gemeinschaft uns fehlt, um uns geborgen und sozial anerkannt zu fühlen.
Karkowsky: Das haben Sie auch dem "Spiegel" gesagt in einem Interview, nach der Rente, diese 20, 30 Jahre, dann kommt man ins Altersheim, und das mache für manche Ältere keinen Sinn mehr. Aber haben die Senioren denn die Wahl – die meisten doch wohl eher nicht, oder?
Largo: Nein, leider nicht. Die Gesellschaft bestimmt weitgehend, was mit ihnen geschieht. Aber was sie eigentlich möchten, das ist, in einer Gemeinschaft zu leben, wo sie anerkannt werden, wo sie Zeit gemeinsam verbringen und, soweit sie noch in der Lage sind, auch einen Beitrag leisten zur Gemeinschaft, zum Beispiel indem sie die Kinder beaufsichtigen, mit ihnen spielen oder mit ihnen in den Wald gehen und ihnen die Natur zeigen.
Leben in Lebensgemeinschaften
Karkowsky: Dann formuliert Ihr Buch sozusagen Ideale des Zusammenlebens, die viele von uns gar nicht erreichen können?
Largo: Ja, ich denke, das ist ein großer Missstand, und gerade bei den älteren Menschen ist das ja auch ein ungelöstes finanzielles Problem. Also so, wie wir jetzt mit den älteren Menschen umgehen, das wird nicht mehr bezahlbar sein, aus demografischen Gründen. Eine Form, wie man eben das Leben dieser Menschen sinnvoll gestalten kann und vor allem weit weniger kostspielig ist, das ist das Leben in Lebensgemeinschaften.
Karkowsky: Was wünschen Sie sich, wie die Menschen Ihr Buch lesen sollen: eher so als philosophisches Gesundheitsmanifest, als Trainingsanleitung für innere und äußere Achtsamkeit oder auch als Mahnung, das Leben ist kurz, Leute, macht was draus?
Largo: Einerseits geht es darum, dass wir uns bewusst werden, was wir für Bedürfnisse haben, aber auch, wie die Umwelt gestaltet sein muss, damit wir diese Bedürfnisse überhaupt befriedigen können. Andererseits bin ich überzeugt, dass wenn wir daraus dann nicht lernen, uns selber einzuschränken, dass wir ein ganz großes Problem bekommen, zum Beispiel eben mit der Betreuung alter Menschen und auch, wie wir mit der Klimakatastrophe umgehen.
Bedürfnisse werden materiell kompensiert
Karkowsky: Die Einschränkungen, der Verzicht, auch das ein großes Thema in Ihrem Buch. Damit wären wir schon fast bei asiatischen Lebensweisheiten, also Askese statt Konsum. Leben Sie denn so, sind Sie da Vorbild?
Largo: Das müsste man meine Familie fragen oder die Nachbarn. Ich möchte das so formulieren: Wenn wir nicht unsere Grundbedürfnisse befriedigen können, dann kompensieren wir das vor allem materiell. Wir treiben einen sehr großen materiellen Aufwand, um soziale Anerkennung zu bekommen, zum Beispiel ein großes Auto oder Schmuck oder ein großes Haus und so weiter. Wenn wir das einschränken wollen, dann muss es auch so sein, dass wir unsere Grundbedürfnisse befriedigen können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.