Korrektur: Wir haben die Überschrift "Eltern verstehen das Kind als Besitz" aus redaktionellen Gründen in "Kein Richter kann der Situation gerecht werden" geändert.
"Kein Richter kann der Situation gerecht werden"
Trennung, Scheidung, Sorgerecht - und wo sollen die Kinder künftig wohnen? Am wichtigsten sei, dass das Kind sich geborgen fühlt - egal, in welcher Konstellation, sagt der Kinderarzt Remo Largo. Und: Eltern sollten professionelle Trennungsbegleitung in Anspruch nehmen.
Residenzmodell – Wechselmodell – Nestmodell? Wo und wie sollten Kinder nach der Scheidung der Eltern leben, vor allem aber: Was tut ihnen gut? Mit dieser Frage beschäftigt sich Remo Largo, Schweizer Kinderarzt und Autor von Erziehungsbüchern ("Kinderjahre", "Glückliche Scheidungskinder").
Er sagt: "Kinder leiden nicht unter der Scheidung ihrer Eltern, sondern unter schlechten Beziehungen." Das Wichtigste bei allen möglichen Modellen sei, dass das Kind sich geborgen fühle. Und die Eltern müssten sich zuallererst fragen, was sie oder auch weitere Drittpersonen dazu beitragen könnten.
Therapeutische Hilfe bei Trennungen
Largo plädiert für einen gesetzlichen Anspruch auf Trennungsbegleitung für Paare: Viele Scheidungen würden mit professioneller, therapeutischer Hilfe viel konfliktfreier verlaufen.
"Ich denke, dass alle Eltern ausnahmslos massiv unterschätzen, wie so ein Trennungs- und Scheidungsprozess verlaufen wird." Er selbst habe seinerzeit ebenfalls professionelle Hilfe in Anspruch genommen – man bekomme dadurch eine notwendige Distanz, zugleich bekomme man sein eigenes Verhalten gespiegelt.
Ständiges Pendeln ist gegen das Kindeswohl
"Die Eltern sollten immer davon ausgehen: Kein Richter kann der Situation gerecht werden, kann dem Kind gerecht werden. Das können sie nur selber. Und diese Verantwortung können sie nicht abgeben."
Mit der jüngsten Entscheidung des Bundesgerichtshofes, wonach es bei geteiltem Sorgerecht künftig möglich sei, auch gegen den Wunsch des Ex-Partners ein Modell mit wechselnden Aufenthaltsorten des Kindes durchzusetzen, sei er "gar nicht einverstanden", betonte Largo. Ein ständiges Pendeln zwischen den Orten sei "sehr oft nicht im Sinne des Kindeswohles".
Bei Scheidungen gehe es Paaren darum, den Besitz aufzuteilen. "Und jetzt verstehen sie das Kind auch als einen Besitz. Und dann, wenn es irgendwie nicht zu einer Einigung kommen kann zwischen den Eltern, dann teilen sie einfach hälftig auf. Das ist wirklich nicht im Sinne des Kindes gedacht."
Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Montagmorgen – vielleicht ist das ja bei manchen Familien der Wechseltag, bei getrennten Eltern, deren Kinder eine Woche beim Vater, die andere bei der Mutter wohnen. Ein Modell, das bisher nur im Konsens funktioniert hat, wenn beide Elternteile einverstanden waren. Ein Modell, das aber künftig auch gerichtlich angeordnet werden könnte. Ein entsprechendes Urteil hat der Bundesgerichtshof letzte Woche gefällt. Wenn es denn zum Wohle des Kindes ist, das ist der Kernsatz der Richter. Das Wohl des Kindes, und wo es wohnt, darüber lässt sich trefflich streiten. Bevor wir das tun mit Remo Largo, gibt uns Gudula Geuther den Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten, die existieren, wenn Mama und Papa kein Paar mehr sind.
((Einspielung))
Drei Modelle und die Frage, kann man sagen, was das Beste fürs Kind ist. Frage an den Mann, dessen Bücher bei vielen Familien im Schrank stehen dürften. "Babyjahre", "Kinderjahre" oder aber auch das Buch "Glückliche Scheidungskinder". Der frühere Kinderarzt und Autor Remo Largo – ich grüße Sie!
Remo Largo: Guten Tag!
Frenzel: Gibt es ein gutes, gibt es ein bestes Modell, das Eltern ansteuern sollten, wenn sie sich trennen, oder ist alles individuell von Fall zu Fall unterschiedlich?
Largo: Was wir ja oder alle Eltern anstreben möchten, ist, dass sich das Kind geborgen fühlt, immer, und dass es alle Möglichkeiten hat, sich normal zu entwickeln.
Frenzel: Und das sind die Zutaten, die dafür notwendig sind – ich glaube, diesen Satz würden erst mal alle unterschreiben, wenn sie ihn so von Ihnen ausgesprochen hören.
Largo: Also die Frage ist ja dann konkret für die Eltern, was kann jetzt die Mutter dazu leisten, dass sich das Kind geborgen fühlt, die notwendigen Entwicklungen machen kann, was der Vater, und wen braucht es sonst noch, damit das auf Dauer gewährleistet ist.
Frenzel: Das heißt, die Frage, wo die Kinder sind, in welchem Wechsel sie zwischen geschiedenen Eltern ihr Leben verbringen, ist gar nicht so entscheidend?
Entscheidend ist, dass das Kind sich geborgen fühlt
Largo: Das kommt eben auch auf die Kinder drauf an. Entscheidend für das Kind ist, dass es sich immer geborgen fühlt. Da können ja auch dritte Personen dazu beitragen. Aber was viele Kinder nicht gut vertragen, das sind die Wechsel. Also dass ihre Umgebung ständig wechselt. Das kennen wir ja selbst auch. Wir haben das auch nicht gern.
Frenzel: Das heißt, das Urteil, das der Bundesgerichtshof letzte Woche gefällt hat, wo ja die Richter gesagt haben, auch, wenn sich Eltern nicht einig sind, kann ein Familiengericht anordnen, das sogenannte Wechselmodell einzuführen, also wo die Kinder zwischen den beiden Haushalten der getrennten Eltern hin und her wechseln, das ist gar nicht so ein guter Weg?
Largo: Das ist sehr oft nicht im Sinne des Kindeswohls, nein. Also ich bin mit dem gar nicht einverstanden.
Frenzel: Der Hintergrund dieser Entscheidung ist ja wohl, dass die Richter vermeiden wollen, dass wir, wie so häufig, ein klassisches Modell haben: Eltern trennen sich, die Kinder kommen tendenziell eher zur Mutter, und Väter haben häufig Schwierigkeiten, dann in dem Leben des Kindes eigentlich überhaupt noch einen Platz zu finden.
Largo: Genau.
Frenzel: Muss man daran nicht etwas tun? Ist das nicht ein richtiger Ansatz dann, zu sagen, wir versuchen, die Kinder –
Es geht um die Aufteilung von Besitz
Largo: Ja, aber die Richter, die denken immer noch, wie sie früher in Entscheidungen gedacht hat. Es geht ja darum, den Besitz aufzuteilen. Und jetzt verstehen sie das Kind auch als einen Besitz, und dann, wenn es irgendwie nicht zu einer Einigung kommen kann zwischen den Eltern, dann teilen sie einfach hälftig auf. Also das ist wirklich nicht im Sinne des Kindes gedacht. Mich stört das außerordentlich. Es ist immer noch dieser Eigentumsbegriff. Besitz ist im Grunde genommen in einer solchen Entscheidung ausgebend auschlaggebend.
Frenzel: Das Kindeswohl soll im Mittelpunkt stehen, sagen Sie, sagen übrigens auch die Richter, die diese Entscheidung getroffen haben. Kommen wir vielleicht noch mal zu diesem einen Modell, das wir auch gerade vorgestellt haben, das Nestmodell, also wo die Kinder dort bleiben oder vielmehr an einem festen Ort sind und die Eltern dazukommen und eben auch wieder abreisen. Das klingt natürlich wunderbar, aber das erfordert natürlich von Eltern auch eine ziemlich Aufgabe von ziemlich großen Teilen ihres eigene selbstständigen Lebens.
Largo: Ja, denken wir einmal an die Kinder. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich die Kinder, einmal erwachsen, beklagt haben, und zwar, weil ihnen eigentlich nie klar war, wer jetzt verantwortlich ist, wer für sie da ist. Der Zeitbegriff der Kinder ist ja sehr beschränkt, und das kann zu einer großen Verunsicherung führen, also dass die Kinder eigentlich – die fragen sich das vielleicht nicht rational, aber sie sind gefühlsmäßig verunsichert und fragen sich, wer ist jetzt eigentlich wirklich für mich da.
Frenzel: Herr Largo, eine Frage, die sich immer wieder stellt, auch mir immer wieder stellt, warum Eltern gerade, wenn ihre Kinder schon Teenager sind, also besonders durcheinandergewirbelt werden können durch eine Trennung, warum sie nicht einfach noch ein paar Jahre durchhalten, das Nest warmhalten, bis die Kinder raus sind und sich dann erst freundlich die Hand geben und sagen, das war's. Ist das nicht vielleicht der allererste Ansatz, den Eltern wagen sollten, bevor sie über die verschiedensten Modelle nachdenken?
Trennungen schmerzfreier gestalten
Largo: Ja, also in der Pubertät ist das natürlich sowieso eine besondere Situation, weil auf der einen Seite lösen sich ja die Jugendlichen ab von den Eltern. Und das ist wahrscheinlich für viele Eltern das Signal, jetzt brauchen sie uns nicht mehr, was überhaupt nicht der Fall ist. Und andererseits verändert sich damit auch die Paarbeziehung, und ich denke, diese beiden Faktoren führen dann dazu, dass es häufiger zu Scheidungen kommt.
Frenzel: Sie haben mal gesagt, wenn es therapeutische Hilfe gäbe, würden viele Trennungen viel schmerz- und konfliktfreier verlaufen. Müsste, wenn man diesen Gedanken weiterdenkt, müsste dann nicht konsequenterweise fast so was wie ein gesetzlicher Anspruch auf Trennungsbegleitung bestehen?
Largo: Ja. Das würde ich sehr unterstützen. Ich denke, dass alle Eltern ausnahmslos massiv unterschätzen, wie so ein Trennungs- und Scheidungsprozess verlaufen wird. Ich würde das außerordentlich befürworten. Ich habe das selbst auch gemacht, weil einerseits kriegt man damit eine gewisse Distanz, es wird einem auch ein Spiegel vorgehalten, was eigennütziges Verhalten zum Beispiel sein kann. Ja, ich würde das überaus befürworten. Die Eltern sollten eben immer davon ausgehen, kein Richter kann der Situation gerecht werden, dem Kind gerecht werden. Das können sie nur selbst. Also sie stehen in der Verantwortung, und diese Verantwortung können sie nicht abgeben.
Frenzel: Das sagt der Schweizer Kinderarzt und Buchautor Remo Largo. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Largo: Gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.