Wolfgang Kaschuba, geb. 1950 in Göppingen (Baden-Württemberg), war von 1992 bis 2015 Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für empirische Migrations- und Integrationsforschung der HU und Vorsitzender des Fachausschusses Kultur und des Beirates Vielfalt kultureller Ausdrucksformen der Deutschen UNESCO-Kommission. Zuletzt veröffentlichte er "Tempelhof. Das Feld. Die Stadt als Aktionsraum".
Die neuen Flaneure von heute
Die Idee des Lustwandelns war lange Zeit verloren: Der Weg zu Fuß hatte einem höheren Zweck zu dienen. Doch mit der neuen Urbankultur und dem Nachtleben erlebt die lustvolle Weise der flanierenden Aneignung des Raumes ein Comeback.
Lustwandeln: Das klingt nach Goethezeit, nach Kieswegen in schattigen Parks, nach Damen in blumigen Sommerkleidern, eingehängt bei stutzerhaft gekleideten Herren mit Strohhut.
Daran jedenfalls erinnern uns Bilder von Claude Monet aus dem Pariser Jardin du Luxembourg oder Szenen aus Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg. An die adeligen wie die bürgerlichen Pioniere des Spaziergangs also, die im 18. und 19. Jahrhundert noch Muße, Zeit und Geld genug hatten, um nachmittags durch reizvolle Parks zu promenieren oder abends durch urbane Räume zu flanieren. Während der große Rest der Menschheit noch arbeiten musste.
Die Lust weicht dem Zweck
Es ist dann die neue Bewegungsidee der Moderne, die versucht, aus diesem scheinbar nutzlosen Lustwandeln einen fast heroischen Akt zu machen. Man fördere die Gesundheit und übe zugleich den "aufrechten Gang", behaupten die bürgerlichen und proletarischen Wanderfreunde um 1900. Schließlich komme es darauf an, wer, wo und warum zu Fuß geht. Statt um Lust geht es nun um den Zweck: Die Ertüchtigung von Körper und Geist.
Und da damals noch vieles verboten war, fand auch manche Demonstration im Kaiserreich in der scheinbar harmlosen Form des Spaziergangs statt. Im guten Anzug und Kleid. Meistens drinnen in der Stadt. Manchmal aber auch, wenn die Polizeidichte dort zu hoch war, draußen in der Natur.
Heute haben wir das nicht mehr nötig – noch nicht? Vielmehr nähern wir uns wieder der alten Idee des Lustwandelns an. Jedoch keineswegs nur in nostalgischer Absicht, sondern in neuen, spätmodernen Varianten. Wandertouren mit Freunden in den Alpen, Trails durch die Rocky Mountains, Pilgern auf dem Jakobsweg oder Geschichtspfade wie der Berliner Mauerweg: Die Möglichkeiten wie die Motive des Wanderns sind vielfältig. Hauptsache, daraus ergibt sich ein höherer Sinn.
Denn den braucht es heute schon: ein moralisches Anliegen, einen gesundheitlichen Zweck oder einen historischen Anlass. Also etwas, das unsere Körperbewegung motiviert, leitet und damit "adelt". Durch das Gehen und das Laufen wollen wir zu uns selbst kommen: durch die Naturnähe des Wanderns, das Gesunde des Walkens, das Asketische des Stadtmarathons, das Spirituelle des Pilgerns.
Zu Fuß auf der Suche nach dem Ich
Das eigene Ich finden wir heute offenbar zunehmend wieder in unseren Körpern und seinen Übungen. Verbunden mit schönen Bildern und Landschaften und zugleich eingebunden in soziale Situationen und Gemeinschaften: Von der Strandbar zum veganen Imbiss und dann weiter in den Club. Urbanes Wandern quasi als Surfen durch die Stadtlandschaft, durch ihre kulturellen Orte und sozialen Szenen. Auf der Suche nach dem Besonderen, dem Lokalen, dem Authentischen.
Stets in der Hoffnung, dass dieses auf uns abfärbt, dass auch wir uns dadurch echter und authentischer fühlen. Dass also unser urbaner Lebensstil uns selbst urbane Authentizität und Identität verleiht.
Der Stadtraum als begehbare Landschaft
Es ist längst eine nächtliche Massenbewegung, die sich da von "Location" zu "Location" wälzt. Gelenkt durch die Apps und SMS der anderen Nachtschwärmer, die sich gleichsam "schwarmintelligent" über kurze Wege und angesagte Räume verständigen. Also eine Form urbanen "Wanderns", bei der auch das Unterwegs wichtig ist, nicht nur das Ziel.
Der Stadtraum als begehbare Landschaft und zugleich als Kontaktzone: Diese wieder entdeckte öffentliche Funktion macht das Flanieren heute neu erlebbar. Und sie macht geradezu süchtig: Eine neue Lust am Lustwandeln - und dabei eben auch: am Sich-Verwandeln. Denn im Unterschied zu den adeligen Flaneuren von einst suchen wir auf unseren Land - wie Stadtwanderungen heute Gesellschaft und Gemeinschaft: Wandern als Annäherung an uns selbst wie an andere!