Der Bilderwald des Aby Warburg
Der Kunsthistoriker Aby Warburg praktizierte zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine bis dahin beispiellose Renaissanceforschung. Seine These dabei: die Wiederkehr antiker Bildformeln. Das ZKM Karlsruhe hat seinen Bilderatlas nun nahezu vollständig rekonstruiert.
Die einen hielten ihn für ein Genie, die anderen für einen Spinner. Und kein Zweifel: Was man jetzt im ZKM Karlsruhe zu sehen bekommt, wirkt ziemlich abgedreht. 63 Tafeln, mit schwarzem Tuch bezogen, etwa 1,70 mal 1,40 Meter groß, darauf jeweils bis zu 100 schwarzweiße Abbildungen. Es geht um bestimmte Gesten, Gebärden, Posen, Szenarien und ihre Reise durch die Jahrhunderte und Jahrtausende.
Woher kommt die "Erregtheit" der Figuren von Botticelli, woher stammen die wehenden Tücher und Kleider in der "Geburt der Venus"? Der florentinische Renaissance-Maler, so zeigt die "Botticelli"-Bildtafel, hatte dazu die Bildfiguren antiker Sarkophage studiert. Die Rekonstruktion des Bilderatlas zeigt die hochkomplexe Bilderwelt, in der sich Aby Warburg bewegte. Eins ist sicher: Dieser Mann konnte "sehen". Eine Eigenschaft, die so manchem Kunsthistoriker abgeht.
Woher kommt die "Erregtheit" der Figuren von Botticelli, woher stammen die wehenden Tücher und Kleider in der "Geburt der Venus"? Der florentinische Renaissance-Maler, so zeigt die "Botticelli"-Bildtafel, hatte dazu die Bildfiguren antiker Sarkophage studiert. Die Rekonstruktion des Bilderatlas zeigt die hochkomplexe Bilderwelt, in der sich Aby Warburg bewegte. Eins ist sicher: Dieser Mann konnte "sehen". Eine Eigenschaft, die so manchem Kunsthistoriker abgeht.
Spuren lesen
"Jedes Moment der Erfahrung, die ein Mensch macht, hinterlässt eine Art Spur, und diese Spur ist immer wieder abrufbar, und so wird aus dieser Originalerfahrung eine Art Reproduktion, auf die der Mensch zurückgreift, und deswegen war für Aby Warburg auch die Reproduktion eines Kunstwerks, also das Foto von einem Bild, absolut tauglich, um seine These des Denkens in Bildern anschaulich zu machen".
Kurator Axel Heil, der zusammen mit Roberto Ohrt und anderen vier Jahre damit verbracht hat, jede einzelne Abbildung, jedes einzelne Foto dieser Bildtafeln zu entschlüsseln und zu kommentieren, beschreibt das jetzt entstandene Kabinett als "Denkraum". Ein Denkraum voller Strassen und Fahrzeuge...
"Für Aby Warburg ist jedes Bild ein Bilderfahrzeug. Es kann sich selbst bewegen und es wird bewegt. Insofern sehen Sie in dieser Ausstellung auch zwei Tapisserien aus dem frühen 17. Jahrhundert. Teppiche waren in der Renaissance die beweglichen Bilder, genau so wie Grafiken die kleinformatigen beweglichen Bilder waren."
Es geht um den Transfer von künstlerischen Vorstellungen und Bildformeln. Warum zum Beispiel die nackte Frau in Manets "Frühstück im Grünen" sich auf eine großartige Fülle von antiken Vorbildern bezieht. Trotzdem, kein Zweifel: Diese Ausstellung ist hochkomplex und ein Terrain für Spezialisten. Denn Kommentare zu den einzelnen Bildtafeln finden sich nur in ausgelegten Arbeitsheften. Kurator Roberto Ohrt versteht die Rekonstruktion des Warburgschen Bilderatlas als kunsthistorische Pioniertat:
"Also jetzt haben wir die Grundlage, dass wir es überhaupt mal sehen können. Die Texte von Warburg - lesen konnte man sie. Aber jetzt können wir den Atlas sehen. Und dann wird sich fragen, wie modern das ist. Also viele Wissenschaftler beschäftigen sich heute mit der Macht der Bilder. Mit der Frage, was denn das Bild jenseits vom Text ist. Das, was wir wollen, was unser Plan war mit dieser Ausstellung, ist, dass wir das erst einmal sichtbar machen. Dass wir hier ein riesiges Instrument haben, das erst mal nur aus Bildern besteht."
Aby Warburg war einer der ersten Kulturwissenschaftler: Er hat quer durch Jahrhunderte und quer durch verschiedene Kulturen nach dem Vergleichbaren gesucht, nach dem Schlüssel, der uns befähigt, in Bildern Gebärden, Gesten, Gefühle zu lesen. Gegen Ende seines Lebens beschäftigte sich Aby Warburg auch mit Abbildungen auf Briefmarken, mit Staatsemblemen, mit Werbebotschaften.
Wie wir die Herrschaft der Sieger loswerden
Nichts Menschliches war ihm fremd. Eine fliegende Frauenfigur, die zur Werbung für Toilettenpapier eingesetzt wurde, identifizierte er mit der Nike, der griechischen Siegesgöttin. Und auch zu den Pathos-Gesten unserer Zeit, wie sie zum Beispiel in "Game of Thrones" zelebriert werden, hätte er zweiffellos Aufschlussreiches zu sagen gehabt...
"Wie das römische imperiale Pathos in die Renaissance zurückkehrt, war ein zentrales Thema. Und diese Frage ist natürlich immer interessant, also: Was ist Siegerpathos und was ist die Position des Verlierers? Also er hat ja dann diesen Satz geprägt: Der körperlich Besiegte wird der Denksieger. Dieses Verhältnis von Sieger und Besiegtem oder die Frage, wie wir die Herrschaft, die Sieger loswerden - das hat Warburg interessiert und das ist immer noch aktuell."
Erstaunlich, dass diese durch und durch archivarische Ausstellung vom ZKM Karlsruhe gezeigt wird. Und dann auch wieder nicht: Denn die Suche nach dem Zukunftspotenzial des Vergangenen hat hier schon immer ihre Nische gefunden. Aby Warburgs Bilderatlas hatte bisher den Status einer Legende. Jetzt steht er sichtbar vor Augen. Für jeden, der sich seiner bedienen will.