"Die Regierung holt die bösen Geister zurück"
Zu einem längerem Leben gehört auch längeres Arbeiten, meint der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages Martin Wansleben. Er fordert: Die Politik müsse aufhören, Arbeit mit Leid gleichzusetzen.
Julius Stucke: Über manche Themen, über diese Themen streitet Deutschland immer wieder gerne: Fußball, Fernsehen und Rente. Oder bei einem Dreiklang aus F-Wörtern zu bleiben, Frühverrentung. Und so war es nicht verwunderlich, dass sich viele Stimmen kritisch zu Wort meldeten, als die Arbeitsministerin der großen Koalition, Andrea Nahles, ihren Entwurf einer Rentenreform vorlegte. Stein des Anstoßes: Menschen, die 45 Jahre lang in die Kasse eingezahlt haben, sollen schon mit 63 in Rente gehen dürfen, ohne Abschläge. Ein Thema, viele Meinungen – über die Meinung der Arbeitgeberseite, der Wirtschaft, habe ich mit Martin Wansleben gesprochen, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, DIHK. Dieser kritisiert die Pläne. Die Frage an Martin Wansleben: Warum?
Martin Wansleben: Also, eigentlich haben wir ja gedacht, wir hätten das ganze Thema Frühverrentung spätestens mit den Riester-Reformen und dann mit Franz Münteferings Rente mit 67 endlich vorbei. Fast muss man ja sagen, wir sind hier im falschen Film. Deutschland hat heute schon die älteste Bevölkerung in Europa, wir wissen einfach, dass wir älter werden, wir wissen, dass die Fachkräfte knapp werden. Wir wissen, dass die Rentenversicherungssysteme, Klammer auf, genauso wie die anderen Sozialversicherungssysteme, Klammer zu, stark gefordert sind bezüglich der demografischen Entwicklung, und was macht hier die Regierung: tut so, als ob das alles nicht wäre und macht das Fass wieder auf. Fast muss man sagen, sie holt die bösen Geister wieder zurück. Und jetzt diskutieren wir über Frühverrentung – es passt einfach überhaupt nicht. Kostenmäßig nicht, von den Fachkräften her nicht, es ist einfach falsch.
Stucke: Sie sagen, Stichwort Fachkräfte, Sie brauchen diese Menschen, wir brauchen diese Menschen, die arbeiten. Aber nun ist es doch jetzt schon so, dass die meisten Menschen zwischen 63 und 64 in Rente gehen. Also wäre das doch eigentlich einfach nur die Realität.
Wansleben: Herr Stucke, das ist völlig richtig – man darf sicherlich bei der Diskussion auch nicht die Augen davor zumachen, dass es im Einzelfall auch Schwierigkeiten gibt, aber die Rente mit 67 war ja nie ein Knall-auf-Fall-Projekt, sondern war immer ein Entwicklungsprojekt. Sie ist ja auch nicht von heute auf morgen da, sondern man wächst hinein. Und was wir jetzt machen, ist, wir lassen im Prinzip die Luft raus aus dem Entwicklungsprozess. Wir müssen uns alle daran gewöhnen, die einen schmerzhaft, die anderen weniger schmerzhaft, dass wir einfach länger arbeiten. Aber länger arbeiten gehört zu einem längeren Leben, und ich glaube, wir machen auch einen fundamentalen Fehler, wenn wir von vornherein davon ausgehen, Arbeiten ist immer Leid, und das Glück beginnt mit der Rente. Statistiken zeigen ja das andere.
"Viele Unternehmen investieren schon ganz konkret"
Stucke: Wir müssen alle länger arbeiten. Lassen Sie uns mal konkret bei dem Punkt bleiben, bei der Arbeitsrealität, nicht bei der Finanzierbarkeit oder der Gerechtigkeit, über die ja auch gestritten wird. Unsere Betriebe, unsere Unternehmen brauchen ältere Arbeitnehmer, auch Arbeitnehmer jenseits der 63. Wie wäre es denn dann, wenn man diese an sich bindet mit guter Arbeit, mit guter Bezahlung, mit Modellen der Teilzeit in höheren Jahren, wenn man also den Menschen auch mehr Anreize schafft, freiwillig länger zu arbeiten. Denn 63 ist ja eine Option.
Wansleben: Was Sie jetzt sagen, ist: Stell dir vor, wir haben eine Situation, wo die Politik was macht, und trotzdem schafft es die Wirklichkeit, in diesem Fall trotzdem schaffen es die Unternehmen, dafür zu sorgen, dass das Richtige geschieht. Also, da sehen Sie, wie wir da eigentlich drüber diskutieren. Also jetzt mal jeden Scherz beiseite. Für die Unternehmen ist es ein ganz ernstes Thema, für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer natürlich auch. Und dieser Entwicklungsprozess – wie integrieren oder wie halten wir auch ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – der ist doch schon längst im Alltag angekommen. Wir diskutieren doch heute völlig anders über Themen wie Weiterbildung auch für Leute, die 50, 55 und 60 sind. Haben doch eine ganz andere innere Einstellung inzwischen dazu gewonnen. Wir diskutieren über Fragen des betrieblichen Gesundheitsschutzes doch heute ganz anders. Viele Unternehmen investieren schon ganz konkret. Und letztendlich haben wir doch nicht nur vor dem Hintergrund Familie und Beruf, sondern auch ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine viel höhere Individualisierung der Arbeitszeit. Also, was hier geschieht von der Politik, negiert die Notwendigkeit und ist eigentlich auch ein Schlag ins Kontor für die Wirklichkeit. Wir können die Rente mit 63 und erst recht auch die Einladung zur Frühverrentung mit 61 – die passt nicht nur nicht ins Bild, wir können sie uns nicht leisten, und im Hinblick auf unsere Kinder sollten wir sie uns auch nicht leisten.
Stucke: Herr Wansleben, aber noch mal zur Frage des Anreizes für Arbeitnehmer. Wäre es, unabhängig davon, was die Politik jetzt plant, nicht möglich zu sagen, wir schaffen es, dass die Leute gerne länger arbeiten?
Wansleben: Herr Stucke, natürlich wird das die Wirtschaft versuchen, aber jetzt hängt man erst mal diesem Projekt einen Klotz ans Bein und sagt dann, dann streng dich halt mehr an, dann schaffst du dennoch die Zeit auf 100 Meter. Ich meine, man könnte sich doch auch mal eine Politik vorstellen, die eine positive Entwicklung unterstützt, und die nicht das Gegenteil von dem betreibt, notwendig ist. Sorry, wenn ich jetzt mal so darauf antworte –
Stucke: Nein, klar …
Rente mit 61 wäre Schuld der Politik
Wansleben: – aber Sie sprechen einen wichtigen Punkt an. Aber es hilft alles nichts – die Kosten werden höher, und meine Wahrnehmung, die zugegebenermaßen jetzt eingeschränkt und nicht repräsentativ ist: Ich hab noch keinen Älteren gesprochen, der sich wirklich so richtig hemmungslos freut auf das, was da geschieht. Und zwar keine Mutter mit Kindern, die geboren sind vor 1992 wie bei meiner Frau, oder auch Leute, die dann früher in Rente gehen können. Jeder von uns hat doch irgendwie ein schlechtes Gefühl dabei, weil wir wissen, wir tun das Gegenteil von dem, was wir tun müssen.
Stucke: Die Arbeitgeber sprechen sich auf relativ klarer, breiter Front gegen die Rente mit 63 aus, aber würde sich nicht vielleicht auch das eine oder andere Unternehmen sogar darüber freuen, auf diesem Wege mit Frühverrentung Jobs kostengünstiger abbauen zu können?
Wansleben: Da sprechen Sie eine ganz klare Wahrheit an. Jedes Unternehmen ist am Ende dazu verpflichtet, ohne gegen Gesetz zu verstoßen, den gegebenen Rahmen auszunutzen, um selbst, sagen wir mal, gut dazustehen. Und wenn jetzt die Einladung kommt, macht doch wieder Frühverrentung, mit 61 raus aus der Arbeit, gibt es eine schöne Abfindung, zwei Jahre Arbeitslosengeld und anschließend die abschlagsfreie Rente. Ich bin mir sicher, dass es aus Sicht einiger Unternehmen, ich hoffe, nicht vieler Unternehmen, erst recht, falls die Konjunktur mal schlechter wird, richtig rational wird, also auch vernünftig wird, das auszunutzen. Das ist nicht die Schuld der Unternehmen, das ist die Schuld, ganz klar, einer völlig falschen Politik.
Stucke: Stichwort Politik: Welche Rentenpolitik, welche Rentenreform, Herr Wansleben, wünschen Sie sich?
Wansleben: Ich wünsche mir, dass wir viel tatkräftiger und freudiger damit umgehen, dass wir länger leben, und dass zum Leben Arbeit gehört, und dass wir endlich mit dem Bild aufhören, dass Arbeit per se Leid ist und Nichtarbeiten per se Freude ist – es zeigen alle Statistiken, dass das nicht stimmt. Ich finde, wir sollten viel tatkräftiger an den Tag gehen. Meine Erwartungshaltung ist, die Bevölkerung sieht das mehrheitlich so, für sich empfindet sie das so, wie ich das sage, und die Politik, die dort getrieben wird, wird am Ende nicht wirklich unterstützt werden.
Stucke: Herr Wansleben, ich danke Ihnen fürs Gespräch!
Wansleben: Bitte sehr!
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