Renten für polnische Ghetto-Arbeiter

Späte Genugtuung

Bewacht von einem deutschen Soldaten stehen Bewohner des Warschauer Ghettos mit erhobenen Armen in einem Innenhof.
Bewacht von einem deutschen Soldaten stehen Bewohner des Warschauer Ghettos mit erhobenen Armen in einem Innenhof. © dpa
Von Martin Sander |
Viele Jahre lang hat sich Deutschland um die Zahlung von Renten für polnische Ghetto-Arbeiter gedrückt. Erst seit dem 1. Juni 2015 ist das nach einer Gesetzesänderung möglich. Martin Sander schildert Schicksale und die Fallstricke der deutschen Bürokratie.
Hilfesuchend, mit einer prall gefüllten Kladde, hat Frau Kacprzak vor Marian Kalwary Platz genommen. Jeder Ghettorentenfall ist kompliziert und anders gelagert als die anderen. Wenn Kalwary Sprechstunde hat, montags im Haus der Warschauer jüdischen Gemeinde, herrscht reger Verkehr. Kalwary, 85 Jahre, vom Verband jüdischer Glaubensgemeinden in Polen beauftragt für Fragen der Ghettorente, kennt sich nicht nur mit dem Computer samt Internet aus, sondern auch mit der deutschen Bürokratie. Deshalb kann er anderen helfen.
"Was die Arbeit deiner Mutter betrifft, da wären weitere Unterlagen gut. Oh, hier haben wir ja was. Das gebe ich zurück. Jeder muss eine Erklärung zur Staatsangehörigkeit vorlegen."
"Notariell beglaubigt?"
"Nicht unbedingt. Das kann auch das Jüdische Historische Institut, irgendeine Behörde machen. Dann geht es hier noch um die Überprüfung der Bankkonten."
Frau Kacprzak macht die Rentenansprüche ihrer Eltern geltend, die im Ghetto gearbeitet haben. Die Eltern sind vor etlichen Jahren verstorben. Sie haben vom deutschen Staat nie Geld bekommen, auch wenn man es nicht glauben mag: Der Bundestag hat zwar 2002 das sogenannte Ghettorentengesetz beschlossen und dabei auch rückwirkende Zahlungen vorgesehen. Aber Deutschland hat sich viele Jahre lang erfolgreich um Zahlungen gedrückt.
Gegenüber polnischen Bürgern berief man sich bei der pauschalen Ablehnung aller konkreten Ansprüche auf ein spezielles deutsch-polnisches Rentenabkommen aus den 70er Jahren. Danach sollte immer nur der Staat für die Rente aufkommen, in dem die Rentenempfänger leben. Nach vielen Protesten dürfen nun, seit 1. Juni dieses Jahres, auch polnische Staatsbürger eine Ghettorente beantragen.
"Ich wurde 1943 in Deutschland geboren, in Sachsen. Hier sehen Sie die deutsche Geburtsurkunde, auf die Stunde genau."
Jeder Ghettorentenfall ist vertrackt
Die Mutter von Frau Kacprzak flüchtete aus dem Warschauer Ghetto. Auf der sogenannten arischen Seite meldete sie sich freiwillig als polnische Zwangsarbeiterin, ließ sich falsche Papiere ausstellen und kam so nach Deutschland. Frau Kacprzak und ihre Geschwister wollen die Ghettorente ihrer Eltern beantragen und – diese Möglichkeit sieht das Gesetz vor - auf sich als Hinterbliebene übertragen. Jeder Ghettorentenfall ist so vertrackt, dass Marian Kalwary es aufgegeben hat, die Einträge wie vorgesehen in den Computer einzugeben. Er macht es lieber per Hand, dann passen mehr Erläuterungen in die leeren Felder.
"Die Menschen verlieren sich in dieser unglaublichen Bürokratie. Die Deutschen haben da eine bestimmte Ordnung in ihren Formularen. Aber für uns ist es unklar und unverständlich – bis hin zum Layout."
Zwar gibt sich die Bundesrepublik nach außen stets aufgeschlossen, wenn es um Vergangenheitsaufarbeitung geht. Auch das Ghettorentengesetz von 2002 sollte Deutschland international gut aussehen lassen. Zugleich versuchten Regierungen, Versicherungsträger und Gerichte alle Versprechungen des Gesetzes zu torpedieren. Berüchtigt ein Dienstvermerk des ehemaligen Bundesfinanzministers Peer Steinbrück, bei der Ghettorentengewährung möglichst restriktiv zu verfahren, mit anderen Worten, möglichst viele Anträge abzulehnen.
Erfolg mit bitterem Beigeschmack
Hätten nicht Anwälte, Bundestagsabgeordnete und Vertreter der Opfer des Naziregimes die Sache in die Hand genommen, würden polnische Juden immer noch von der Ghettorente ausgeschlossen sein. Seit 1. Juni wurden ein Dutzend Anträge bewilligt. Der Erfolg hat einen bitteren Beigeschmack: Soviel Demütigung durch den deutschen Staat könne nur verkraften, wer den Holocaust überlebt hat, sagt Tomasz Miedziński, Leiter des Verbands der jüdischen Kombattanten und Geschädigten des Zweiten Weltkriegs:
"Schade, dass das nicht zwölf oder dreizehn Jahre vorher gekommen ist. Dann wären es noch um 600 potenzielle Benifizienten gewesen. Jetzt haben wir nicht mehr als 200 Leute, und jede Hilfe, jede Leistung ist für die ein Goldgewinn."
Keine Wiedergutmachung, sondern eine reguläre Leistung
Vorausgesetzt: Deutschland zahlt rasch und entscheidet unbürokratisch. Eine Wiedergutmachung ist die Ghettorente übrigens nicht. Sie ist vielmehr eine reguläre, wenn auch bislang verweigerte Leistung. Denn für Ghetto-Arbeiter, auch wenn sie selbst nur einen Teller Suppe als Lohn erhielten, hat die Deutsche Rentenversicherung im Zweiten Weltkrieg tatsächlich Beiträge eingezogen. Angesichts der Halbherzigkeit, mit der Deutschland die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen entschädigt, kann sich Marian Kalwary eine historische Überlegung nicht verkneifen.
"Wäre es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zum Kalten Krieg gekommen, wären die Deutschen nicht zum Verbündeten der USA geworden, die Naziverbrecher unter ihren Schutz nahm, dann hätten sich die Juden meiner Meinung nach überhaupt nicht den Kopf über Israel zerbrechen müssen. Für unser Leiden hätten wir Bayern erhalten. Und in Bayern hätten wir unser Israel gründen sollen. Das wäre dann eine Entschädigung gewesen."
Doch es kam anders. Und so ringen ein paar Dutzend Menschen heute noch in Warschau um eine Rente, die ihnen eigentlich längst zusteht.
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