Reportage als Welterkenntnis
Dieser Prachtband ist eine verlegerische Leistung. Darin finden sich Reportagen aus 2500 Jahren von Herodot bis Hans Magnus Enzensberger, von Marco Polo bis Narvid Kermani, von Bartolomé de las Casas bis Hans Christoph Buch.
Kann man von einem literarischen Kleinod sprechen, wenn das Objekt des hymnischen Lobes ein paar Kilo wiegt und Foliantengröße besitzt? Doch wer weiß: Vielleicht wäre "Kleinod" ohnehin klischee-verdächtig, abgegriffen-routiniertes Vokabular jener "toten Sprache", von welcher der Schriftsteller Mario Vargas Llosa einmal sagte, sie finde sich notgedrungen selbst in den besten Romanen, quasi als Füllstoff zwischen den dramaturgischen und stilistischen Höhepunkten. Andererseits: Vorliegender Prachtband - "Nichts als die Welt. Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren"(sic!) – besteht ja nicht aus Belletristik. Besteht von Herodot bis Hans Magnus Enzensberger, von Marco Polo bis Narvid Kermani, von Bartolomé de las Casas über Ludwig Börne bis Hans Christoph Buch aus Texten eines Genres, die es in unseren Sprachbreiten sowieso schwer haben, da sie nach landläufiger Meinung eben "nur" Reportagen sind.
Lassen wir also das Glasperlenspiel mit dem vermeintlichen oder tatsächlichen Klein- bzw. Großod und fragen uns stattdessen, weshalb eine Literaturgattung, die im Englischen den stolzen Namen "non-fiction prose" trägt, bei uns so übel beleumdet ist. Könnte es vielleicht daran liegen, dass "bei uns" eben die meisten Schriftsteller nicht wirklich reisen, sondern eher als subventionierte Touristen von Goethe-Institut zu Goethe-Institut jetten und folglich vom blutigen Brei namens Weltgeschichte annehmen, er ließe sich bei etwas guten Willen schon zu Törtchen backen dank eines Zaubermittels namens "Dialog"? Oder liegt es daran, dass Deutschland seine Kolonien einfach zu früh verloren hatte und so lediglich kolonialen Dünkel wahrte, jedoch nichts mitbekam von jener unvoreingenommenen Ethnologen-Neugier, die Angelsachsen und Holländer so auszeichnet?
Nach dieser nötigen Vorrede – im Prachtband findet sie sich erweitert als 100-Seiten-Essay aus der Feder des Reporter-Schriftstellers und ehemaligen Chefredakteurs der Schweizer Kulturzeitschrift "DU"– nun aber hinein in die Welt, ins unrein-reine Leben, dessen widerspruchsvolle Partikel freilich ebenso klug komponiert sind wie in einem exzellenten Roman: Janet Flanner schreibt über Hitlers Stimmbänder (1938) und Fritzroy Maclean über die stalinistischen Schauprozesse 1938, Leo Africanus beschreibt die Wirtshäuser und Spitäler des Maghreb (anno 1510), anschließend machen wir einen Lektüre-Sprung mitten hinein in die Indochina-Kriege, wir lesen eine Spanien-Reportage von Wolfgang Koeppen, sehen den Mauerfall mit den Augen von Timothy Garton Ash und die Balkan-Kriege aus der Optik des Dänen Jan Stage, wir ... .
Aber nein, weder die stilistische noch die thematische Vielfalt dieser verlegerischen Großtat lässt sich hier an dieser Stelle adäquat würdigen. Vielleicht aber eines noch, da gute Reporter dann eben doch mehr skrupulöse Schriftsteller als huschige Nur-Journalisten sind: Das angesichts dieser Texte intellektuell, politisch und ästhetisch derart stimulierende "Wir lesen"-Gefühl hat nichts geheim mit stumpf-homogener Kollektiv-Gestimmtheit, wohl aber mit der Erfahrung, dass wir tatsächlich in one world leben, dass Gestern bereits Heute ist, Verantwortungsethik tiefer bohrt als Gesinnungsideologie, dass uns das Schicksal der sogenannten Anderen sehr wohl betrifft und nicht nur der Hindukusch näher ist als von vielen vermutet. Ein Buch in der besten Tradition der Aufklärung, ein Foliant wie ein Pfeil unerwarteter Erkenntnis.
Besprochen von Marko Martin
Nichts als die Welt. Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren.
Herausgegeben von Georg Brunold. Folioformat, geprägtes Lein, Büttenschlaufe, mit mehrseitigen Fotoreportagen und zwei Lesebändchen.
Galiani Verlag, Berlin 2009, 684 S., 85 Euro
Lassen wir also das Glasperlenspiel mit dem vermeintlichen oder tatsächlichen Klein- bzw. Großod und fragen uns stattdessen, weshalb eine Literaturgattung, die im Englischen den stolzen Namen "non-fiction prose" trägt, bei uns so übel beleumdet ist. Könnte es vielleicht daran liegen, dass "bei uns" eben die meisten Schriftsteller nicht wirklich reisen, sondern eher als subventionierte Touristen von Goethe-Institut zu Goethe-Institut jetten und folglich vom blutigen Brei namens Weltgeschichte annehmen, er ließe sich bei etwas guten Willen schon zu Törtchen backen dank eines Zaubermittels namens "Dialog"? Oder liegt es daran, dass Deutschland seine Kolonien einfach zu früh verloren hatte und so lediglich kolonialen Dünkel wahrte, jedoch nichts mitbekam von jener unvoreingenommenen Ethnologen-Neugier, die Angelsachsen und Holländer so auszeichnet?
Nach dieser nötigen Vorrede – im Prachtband findet sie sich erweitert als 100-Seiten-Essay aus der Feder des Reporter-Schriftstellers und ehemaligen Chefredakteurs der Schweizer Kulturzeitschrift "DU"– nun aber hinein in die Welt, ins unrein-reine Leben, dessen widerspruchsvolle Partikel freilich ebenso klug komponiert sind wie in einem exzellenten Roman: Janet Flanner schreibt über Hitlers Stimmbänder (1938) und Fritzroy Maclean über die stalinistischen Schauprozesse 1938, Leo Africanus beschreibt die Wirtshäuser und Spitäler des Maghreb (anno 1510), anschließend machen wir einen Lektüre-Sprung mitten hinein in die Indochina-Kriege, wir lesen eine Spanien-Reportage von Wolfgang Koeppen, sehen den Mauerfall mit den Augen von Timothy Garton Ash und die Balkan-Kriege aus der Optik des Dänen Jan Stage, wir ... .
Aber nein, weder die stilistische noch die thematische Vielfalt dieser verlegerischen Großtat lässt sich hier an dieser Stelle adäquat würdigen. Vielleicht aber eines noch, da gute Reporter dann eben doch mehr skrupulöse Schriftsteller als huschige Nur-Journalisten sind: Das angesichts dieser Texte intellektuell, politisch und ästhetisch derart stimulierende "Wir lesen"-Gefühl hat nichts geheim mit stumpf-homogener Kollektiv-Gestimmtheit, wohl aber mit der Erfahrung, dass wir tatsächlich in one world leben, dass Gestern bereits Heute ist, Verantwortungsethik tiefer bohrt als Gesinnungsideologie, dass uns das Schicksal der sogenannten Anderen sehr wohl betrifft und nicht nur der Hindukusch näher ist als von vielen vermutet. Ein Buch in der besten Tradition der Aufklärung, ein Foliant wie ein Pfeil unerwarteter Erkenntnis.
Besprochen von Marko Martin
Nichts als die Welt. Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren.
Herausgegeben von Georg Brunold. Folioformat, geprägtes Lein, Büttenschlaufe, mit mehrseitigen Fotoreportagen und zwei Lesebändchen.
Galiani Verlag, Berlin 2009, 684 S., 85 Euro