Reportagen aus dem bundesdeutschen Alltag
26 Frauen hat die Journalistin Gabriele Goettler für ihre Reportagen aufgesucht, die zwischen 2007 und 2009 in der Berliner Tageszeitung "taz" erschienen sind. Nun liegen diese Einblicke in die Alltags- und Lebensrealitäten der Frauen unterschiedlichster Professionen als Buch vor.
Fast ist es, als säße man mit in diesem Kiosk. 56 Jahre hat Ingrid Reinke hier verbracht. Gabriele Goettle bringt es lediglich auf wenige Stunden, und ihre Beobachtungen und die Lebens- und Arbeitsschilderungen Reinkes hält sie gar auf nur 14 Seiten fest. Dennoch hat man schnell das Gefühl, diesen "magischen Ort", wie Goettle den Kiosk nennt, zu kennen. Und schließlich – ein wenig – auch Ingrid Reinke, die dem Opa schon mit sechzehn Jahren beim Verkauf von Süß- und Tabakwaren zur Seite stand, die deutsche Zeitgeschichte in Schlagzeilen erlebte, Ahoi-Brause gehen und Center-Shock-Kaugummi kommen sah und die heute als Mitte Siebzigjährige sagt; "Ich hab’ vor, alles zu verkaufen." Und wenn das kranke Bein mitmacht, "dann gehe ich zur Musikschule und lerne noch singen. Ich möchte Oper singen."
Ingrid Reinke ist eine von insgesamt 26 Frauen, die die Journalistin Gabriele Goettle aufgesucht hat für ihre Reportagen, die zwischen 2007 und 2009 in der Berliner Tageszeitung "taz" erschienen sind und nun als Buch vorliegen. Gemeinsam mit ihrer Co-Interviewerin Elisabeth Kmölninger unternahm Goettle dazu "Reisen durch den unbekannten Alltag" beispielsweise einer Bäuerin, einer Altenpflegerin, einer Bestatterin, Sozialanwältin, Tätowiererin und einer Bodybuilderin.
Jeder Frau – die jüngste ist 1973 geboren, die älteste 1919 – ist ein Kapitel gewidmet, dessen Aufbau jeweils gleich ist. Einführenden biografischen Notizen folgen die Vorstellung des Berufsbildes und -umfeldes und schließlich die Erzählung der Interviewpartnerin. Goettle gibt nicht das Gespräch als solches wieder, sondern lässt die Frauen direkt und schnörkellos zu Wort kommen. Unterbrochen lediglich von kurzen, prägnanten Beobachtungen der Interviewerinnen.
So taucht der Leser ein in die unterschiedlichsten Professionen, hat Teil an immensen Wissens- und Erfahrungsschätzen und lernt quasi nebenbei viel über bundesdeutsche Alltags- und Lebensrealitäten.
Etwa wenn Claudia Marschner, Bestatterin, den "stillen Abtrag" beklagt, das immer häufiger vorkommende anonyme Urnenbegräbnis ohne Abschiedszeremonie. Oder wenn die Tätowiererin Berit Uhlhorn den modernen Körper als Konsumartikel beschreibt und Motiv-Moden wie Keltische Knoten und Delfine vorführt. Oder wenn Hildegard Eichhorn, Altenpflegerin und Mitbegründerin einer WG für Demenzkranke, beweist, dass Menschlichkeit und Pflege auch in Zeiten knapper Kassen kein Gegensatzpaar sein müssen.
So unterschiedlich die Berufe der Protagonistinnen auch sind und so variantenreich gesellschaftliche Realitäten von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis heute dadurch aufscheinen, so ähnlich sind sich die Frauen: sie alle beweisen eine beeindruckende Charakterstärke und sind mit großem Selbstverständnis und Beharrlichkeit ihren Weg gegangen. Was für ein Zeichen in Zeiten von Genderdebatten und Quotendiskussionen! Mehr noch: Ein wunderbares Buch – klug, empathisch, bereichernd und anrührend.
Besprochen von Eva Hepper
Gabriele Goettle: Der Augenblick. Reisen durch den unbekannten Alltag
Antje Kunstmann Verlag, 2012
400 Seiten, 22,95 Euro
Ingrid Reinke ist eine von insgesamt 26 Frauen, die die Journalistin Gabriele Goettle aufgesucht hat für ihre Reportagen, die zwischen 2007 und 2009 in der Berliner Tageszeitung "taz" erschienen sind und nun als Buch vorliegen. Gemeinsam mit ihrer Co-Interviewerin Elisabeth Kmölninger unternahm Goettle dazu "Reisen durch den unbekannten Alltag" beispielsweise einer Bäuerin, einer Altenpflegerin, einer Bestatterin, Sozialanwältin, Tätowiererin und einer Bodybuilderin.
Jeder Frau – die jüngste ist 1973 geboren, die älteste 1919 – ist ein Kapitel gewidmet, dessen Aufbau jeweils gleich ist. Einführenden biografischen Notizen folgen die Vorstellung des Berufsbildes und -umfeldes und schließlich die Erzählung der Interviewpartnerin. Goettle gibt nicht das Gespräch als solches wieder, sondern lässt die Frauen direkt und schnörkellos zu Wort kommen. Unterbrochen lediglich von kurzen, prägnanten Beobachtungen der Interviewerinnen.
So taucht der Leser ein in die unterschiedlichsten Professionen, hat Teil an immensen Wissens- und Erfahrungsschätzen und lernt quasi nebenbei viel über bundesdeutsche Alltags- und Lebensrealitäten.
Etwa wenn Claudia Marschner, Bestatterin, den "stillen Abtrag" beklagt, das immer häufiger vorkommende anonyme Urnenbegräbnis ohne Abschiedszeremonie. Oder wenn die Tätowiererin Berit Uhlhorn den modernen Körper als Konsumartikel beschreibt und Motiv-Moden wie Keltische Knoten und Delfine vorführt. Oder wenn Hildegard Eichhorn, Altenpflegerin und Mitbegründerin einer WG für Demenzkranke, beweist, dass Menschlichkeit und Pflege auch in Zeiten knapper Kassen kein Gegensatzpaar sein müssen.
So unterschiedlich die Berufe der Protagonistinnen auch sind und so variantenreich gesellschaftliche Realitäten von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis heute dadurch aufscheinen, so ähnlich sind sich die Frauen: sie alle beweisen eine beeindruckende Charakterstärke und sind mit großem Selbstverständnis und Beharrlichkeit ihren Weg gegangen. Was für ein Zeichen in Zeiten von Genderdebatten und Quotendiskussionen! Mehr noch: Ein wunderbares Buch – klug, empathisch, bereichernd und anrührend.
Besprochen von Eva Hepper
Gabriele Goettle: Der Augenblick. Reisen durch den unbekannten Alltag
Antje Kunstmann Verlag, 2012
400 Seiten, 22,95 Euro