Reportageprojekt

Kalter europäischer Winter

Étienne Haug im Gespräch mit Britta Bürger |
Vor zwei Jahren reiste der Autor Étienne Haug mit Kamera und Mikrofon nach Griechenland, übernachtete per Couchsurfing und hörte seinen Gastgebern lange zu. Er habe selbst manchmal gezittert – so desolat sei die Lage der Menschen gewesen, sagt er. Seine Eindrücke sind unter dem Titel "Chronik eines europäischen Winters" im Internet zu sehen.
Britta Bürger: Wie hat die Schuldenkrise die Lebenswirklichkeit von Menschen in Griechenland verändert? Das wollte der Tontechniker und Autor Étienne Haug genau wissen. Er reiste Ende 2011 zum ersten Mal in seinem Leben nach Griechenland, lernte Menschen kennen, indem er per Couchsurfing nur bei Privatleuten übernachtete. Stundenlang hörte er ihnen bei eingeschaltetem Mikrofon zu, sehr viel genauer als Korrespondenten, die in begrenzten Medienformaten meist nur Beiträge mit Aktualitätsbezug unterbringen. Étienne Haug wollte wissen, was die Menschen wirklich bewegt.
Leere, Angst und Wut – das sind Gefühle, die dem in Berlin lebenden Franzosen Étienne Haug bei seinen Recherchen in der griechischen Realität immer wieder begegnet sind. Stundenlang hat er Menschen mit offenem Mikrofon zugehört und das Material jetzt im Internet veröffentlicht. Herr Haug, willkommen im "Radiofeuilleton"!
Étienne Haug: Hallo, danke!
Bürger: "Chroniken eines europäischen Winters" haben Sie das Projekt genannt. Aus welchem Impuls heraus haben Sie mit dieser intensiven Recherche im Alltag der Griechen begonnen?
Haug: Also das war genau vor zwei Jahren. Man hat sehr, sehr viel über Griechenland geredet, das war der Hochpunkt von den Krisenberichten. Ich hatte sehr viel Interesse daran, aber auch nach einiger Zeit habe ich gesehen, dass man kaum Berichte von Journalisten gehabt hat, die mehr als ein oder zwei Tage dort geblieben sind. Und dann dachte ich, da ist jetzt ein großer Mangel, und ich wollte dann selber auch mehr Zeit da verbringen, um über den Alltag zu berichten, zu wissen, was wirklich bei den Leuten passiert.
Bürger: Sie sind ohne große Recherche nach Griechenland gereist, mit offenen Augen, Ohren und offenem Mikrofon, Sie haben Menschen kennengelernt, bei denen Sie per Couchsurfing privat übernachtet haben. Wie haben Sie das geschafft, dass die meisten sehr schnell sehr persönlich vor dem Mikrofon über sich gesprochen haben? Es wirkt so, als hätten die meisten eigentlich nur darauf gewartet, dass sie endlich mal jemand fragt.
Haug: Ja, das hat sich wirklich so angefühlt, dass … Die Leute haben auch damals das Gefühl gehabt: Niemand hat wirklich gewusst, was die erlebt haben, besonders in Europa. Die haben die internationale Presse gelesen und gesehen, dass man gar nichts über die Wirklichkeit erzählt hat. Fast alle hatten wirklich eine Not, den Alltag zu erzählen und die Wirklichkeit, die Wahrheit weiterzuerzählen an andere Europäer.
Bürger: Was haben Sie erfahren?
"Es war ein richtiger Panik-Moment"
Haug: Die große Sache ist: Es war richtig der Panik-Moment, wo alle sich fragen, was jetzt mit dem eigenen Leben passiert, also man hatte oft wirklich weniger Geld zur Verfügung, so 30, 40 Prozent oder noch mehr. Manchmal ist man arbeitslos geworden und man musste das ganze Leben sich neu vorstellen, wie man das jetzt macht, um einfach zu leben, zu überleben. Man musste alles neu denken.
Bürger: Man könnte ja auch denken, es gebe viel Scham, darüber zu sprechen, dass man die Heizung nicht mehr bezahlen kann, dass man schwarzarbeiten muss, um nicht zu verhungern, dass man nicht weiß, wie man das Geld für die Geburt eines Kindes auftreiben soll. Geburtshilfe kostet in Griechenland um die 2000 Euro. Wie war das mit der Scham?
Haug: Also Scham habe ich nicht wirklich gefühlt, weil, ich glaube, es ist alles so schnell passiert dort, dass die Leute sich auch nicht selbst verantwortlich gefühlt haben, weil es ist so generell allen passiert in einem Moment, und es war mehr so Empörung als Scham. Daher haben die Leute gerne darüber geredet.
Bürger: Wolfgang Schäuble hat Anfang der Woche erneut betont, es gebe keine Ansteckungsgefahr mehr in Europa, die Regierungen seien auf dem richtigen Weg mit ihrer Politik der Stabilisierung der gemeinsamen Währung und die Griechen verdienten Respekt für ihre großen Anstrengungen. Wenn man sich jetzt hier doch Ihre Dokumentationen anhört, dann versteckt sich hinter der Fassade dieser Stabilisierungspolitik ein eigentlich vollständig kollabiertes Gesellschafts- und Sozialsystem. Die Menschen scheinen selbst doch kaum verarbeiten zu können, wie schnell sich ihr Leben verändert hat, oder?
Haug: Ja, also das war vor zwei Jahren genau der Moment, wo die Leute noch richtig in, also wie sagt man, in Panik waren und richtig nicht verstanden, was passiert ist. Aber jetzt, zwei Jahre später, also ich bin in Kontakt mit Leuten dort, und es klingt so, dass man sich erst mal gewöhnt hat, es ist jetzt die normale, neue Situation: Wir werden so leben. Und jetzt kommen doch alle Leute an ein Ende mit ihren Ersparnissen, und es wird doch richtig katastrophal für viele Haushalte. Es ist schon vier Jahre lang, dass das dauert. Die haben das jetzt wahrgenommen, aber das ist überhaupt nicht positiv. Die Arbeitslosigkeit ist von 17 auf 27 Prozent gestiegen in den zwei Jahren.
Bürger: Auf die Frage, wie sich sein Leben verändert hatte, sagt ein Mann, alle Gespräche mit Freunden und Bekannten würden einen negativen Dreh bekommen. Selbst wenn er erzählt, dass seine Frau und er jetzt ein Kind erwarten, dann würde sich niemand mehr freuen, alle würden sagen: Wie willst du das denn schaffen? Was machen die Menschen, um diese große gesamtgesellschaftliche Depression auszuhalten?
Die Ersparnisse sind aufgebraucht
Haug: Damals war das echt schwierig, auch für mich. Ich bin drei Wochen da geblieben und ich bin auch angesteckt worden von dieser Depression. Ich war auch am Ende manchmal am Zittern und konnte auch nicht mehr richtig denken, was ich fühle, was ich machen will mit dieser Situation, also zu berichten. In der Zeit habe ich gehört, dass die Leute langsam einen mehr philosophischen Blick darauf gehabt haben, also diese psychologischen Phasen entwickeln sich ständig. Ich glaube, das ist auch ein sehr langer Prozess. Man sollte wieder dorthin gehen, jetzt zu wissen, was jetzt los ist.
Bürger: „Chroniken eines Europäischen Winters“, wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Étienne Haug über seine Dokumentationen des Alltags inmitten der Krise, sie sind im Internet zu sehen und zu hören unter eurowinter.wordpress.com. Sie haben die Menschen ja nicht gefilmt, sondern nur die Gespräche aufgezeichnet, die dann aber nachträglich mit Bildern griechischer Fotografen kombiniert. Stefania Mizara und Achilleas Zavallis haben die Krise in Fotos dokumentiert. „Peoples of Europa, rise up!“ heisst diese Serie. Worin besteht die Kraft, die Wucht dieser Bilder?
Haug: Also ich habe diese Arbeit selber entdeckt, als sie schon fertig war, weil es ist creative commons, das heißt, die Leute haben das dann separat gemacht, und ich wusste das telefonisch, aber ich hatte den Arbeitsprozess nicht mitgemacht. Dann habe ich das Fertigprodukt zum ersten Mal mit der Cutterin gesehen, und ich war einfach von dem gesamten Stück total beeindruckt. Und ich bin selber als Zuschauer auch eingestiegen in diese Impressionen von der Krise. Diese Fotos sind sehr an den Menschen orientiert. Sie sind richtig ein Zeichen von dem, was die Leute dort sind und denken und fühlen. Man kann richtig so einen Eindruck haben von Alltagsmomenten in ganz verschiedenen Situationen. Und ich glaube, das ist die Stärke von dieser Bildmontage, die die Cutterin gemacht hat.
Bürger: Das Glück im Gesicht einer alten Frau, der man Medikamente schenkt zum Beispiel, die Müdigkeit und Erschöpfung von Menschen, die auf eine Essensausgabe oder auf Arbeitslosengeld oder eine kostenlose Behandlung warten, geschlossene Geschäfte, Plakate, die nach neuen Mietern rufen – Sie haben diese Fotos mit einer Videokamera sehr, sehr langsam regelrecht abgetastet, was den Effekt hat, dass wir die Haltung und den Gesichtsausdruck der Menschen, die da im Alltag fotografiert wurden, sehr intensiv studieren. Das hat eigentlich überhaupt nichts Flüchtiges mehr. Es sind Bilder, die wir eigentlich sonst, habe ich gedacht, aus Kriegszeiten kennen. Haben Sie die Aufnahmen auch an andere Zeiten erinnert?
Fotos der amerikanischen Depression vor Augen
Haug: Ich hatte eher gedacht an die Fotoarbeiten von der Großen Depression in den USA, von den Leuten im Alltag in diesen großen, harten Momenten, und da hat man auch dieses Gefühl, wie die Leute auch geredet haben, und wir haben auch dieses Thema manchmal erreicht – es hat so ein Gefühl, so wie alles zerbricht. Und das ist vielleicht ähnlich wie Kriegsmomente.
Bürger: Seit Kurzem stehen diese ersten drei Teile jeweils knapp einstündige Dokumentation auf Englisch im Internet, „Chronicals of a European Winter“, der erste Teil ist bereits in mehrere Sprachen, auch auf Deutsch, untertitelt, weitere Übersetzungen sind da auch noch geplant. Wie kann man Sie bei der Weiterentwicklung Ihres Projekts unterstützen?
Haug: Die zweite Episode ist auch ins Deutsche übersetzt, und die dritte wird in der kommenden Woche kommen. Was fehlt auf jeden Fall ist eine deutsche Version von der Webseite, da ist auf jeden Fall Hilfe sehr willkommen. Wir haben alle ohne Kosten gearbeitet, also alles freiwillig, aber, ich glaube, der größte Schritt jetzt wäre, Webseiten in die Sprachen, die wir noch nicht haben, das heißt, Deutsch und auch Spanisch wäre ganz wichtig und Portugiesisch, …
Bürger: „Chroniken eines Europäischen Winters“, die ersten drei Dokumentationen von Étienne Haug kann man im Internet hören und sehen unter eurowinter.wordpress.com, Herr Haug, herzlichen Dank fürs Gespräch!
Haug: Sehr vielen Dank für die Einladung!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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